1906, zehn Jahre nach den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit, finden in Athen Jubiläumsspiele statt. Zu jener Zeit ist Großbritannien die führende Kolonialmacht. Auch Athleten aus Irland müssen unter dem "Union Jack" antreten. Einer von ihnen, Peter O’Connor, gewinnt in Athen im Dreisprung. Bei der Medaillenzeremonie eines irischen Kollegen klettert er den Fahnenmast hoch und schwenkt die irische Flagge. Ordner ziehen ihn herunter, doch für die irische Unabhängigkeitsbewegung ist O’Connor noch Jahrzehnte später: ein Held.
1912, bei den Spielen von Stockholm, ist die Olympische Bewegung noch immer ein Projekt europäischer Eliten. Frauen, Arbeiter oder schwarze Menschen spielen kaum eine Rolle. Bemerkenswert sind die Goldmedaillen von Jim Thorpe im Fünfkampf und Zehnkampf. Der indigene US-Amerikaner hat häufig Rassismus erlebt, nun feiern ihn Medien als "erfolgreiche Rothaut". Doch Jim Thorpe werden die Medaillen aberkannt. Er hatte semiprofessionell Baseball gespielt. Für das IOC: ein Verstoß gegen den Amateurparagraphen. Für viele Ureinwohner: eine weitere Ausgrenzung.
Bühne des Faschismus
1920, bei den Spielen in Antwerpen, gewinnt der französische Läufer Joseph Guillemot Gold über 5.000 Meter. Anschließend unterhält er sich mit dem belgischen König über die Rolle des Sports nach großen Krisen. Wie viele andere Athleten hat auch Guillemot im Ersten Weltkrieg als Soldat sein Leben riskiert. Bei einem Senfgas-Angriff erleidet er eine schwere Verletzung. Immer wieder schmerzt seine Lunge. Und trotzdem gewinnt Guillemot Gold.
1936 sind die Spiele von Berlin eine Bühne des Faschismus. Korea ist eine besetzte Provinz Japans. Der koreanische Läufer Sohn Kee-chung will ein Zeichen setzen. In Berlin verweigert er Unterschriften in der japanischen Schreibweise. Nach seinem Sieg im Marathon wendet er bei der Medaillenzeremonie den Blick von der japanischen Flagge ab. Sohn Kee-chung steht fortan unter Kontrolle. Während der japanischen Herrschaft darf er seinen Sport nicht mehr betreiben.
1952, beim olympischen Fußballturnier in Helsinki, treffen die Mannschaften aus Jugoslawien und der Sowjetunion aufeinander. Es ist ein symbolisches Ringen innerhalb des Kommunismus: Der jugoslawische Diktator Tito hatte wenige Jahre zuvor mit Stalin gebrochen. Die UdSSR verliert bei Olympia und scheidet aus. Der Moskauer Armeeklub ZSKA, der das Gerüst des sowjetischen Olympiateams stellt, wird aufgelöst und erst nach Stalins Tod wiederbelebt.
Zeichen der Selbstbehauptung
1956 ist Melbourne als olympischer Gastgeber an der Reihe. Im selben Jahr entfaltet sich in Ungarn der "Volksaufstand" gegen die sowjetische Besatzung. Auf der gemeinsamen Schiffsanreise gehen Sportler aus Ungarn und der UdSSR aufeinander los. Später spielen ihre Mannschaften im Wasserball gegeneinander. Hunderte australische Zuschauer mit ungarischen Wurzeln begrüßen die ungarischen Spieler mit Plakaten, ihre Botschaft: "Bleibt in Australien!"
1960 finden die Olympischen Spiele von Rom in einer Zeit statt, in der immer mehr Länder in Afrika ihre Unabhängigkeit erkämpfen. Auch der Gastgeber Italien hatte unter Mussolini einst über Kolonien geherrscht, in Eritrea, Libyen oder in Äthiopien. Vor diesem Hintergrund gewinnt der äthiopische Läufer Abebe Bikila in Rom den Marathon – und zwar barfuß. Für viele Afrikaner: ein Zeichen der Selbstbehauptung.
1968 wollen Kommunisten in der Tschechoslowakei Reformen anstoßen. Auch die Turnerin Věra Čáslavská unterstützt diesen "Prager Frühling". Nach dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes taucht sie unter und trainiert vorübergehend in einem Wald. Trotzdem soll Čáslavská bei den Olympischen Spielen in Mexiko City Gold für den Ostblock gewinnen. Ihre sechs Medaillen widmet sie prägenden Figuren des Prager Frühling. Nach ihrer Rückkehr wird Věra Čáslavská geächtet und erst 1989 wieder rehabilitiert.
Gold für Frauenrechte
Über Jahrzehnte werden Frauen bei Olympia ausgegrenzt. Die Leichtathletik steht ihnen erst seit den Spielen 1928 in Amsterdam offen. Innerhalb des IOC treffen vor allem ältere Herren aus Europa und Nordamerika die wichtigsten Entscheidungen. Doch dieses System wird bei den Spielen 1984 herausgefordert. Die Marokkanerin Nawal El Moutawakel gewinnt in Los Angeles den Hürdenlauf über 400 Meter. Es ist das erste Gold für eine muslimische Frau aus Afrika. Später macht sich Nawal El Moutawakel als Politikerin für Frauenrechte stark.
Die Olympische Charta untersagt politische und religiöse Botschaften bei Wettkämpfen. Darüber dürfte sich auch der australische Boxer Damien Hooper im Klaren sein, als er 2012 bei den Spielen von London in den Ring steigt. Hooper hat indigene Vorfahren und trägt auf seinem T-Shirt die Flagge der Aborigines. Das Australische Olympische Komitee verlangt von Hooper eine öffentliche Entschuldigung. Doch der lehnt ab und sagt: "Ich repräsentiere meine Kultur, nicht nur mein Land."
Fast alle olympischen Gastgeber der jüngeren Vergangenheit stehen in der Kritik. Auch die Winterspiele in Sotschi 2014. In Westeuropa wird vor allem über Menschenrechtsverletzungen in Russland diskutiert, zum Beispiel über ein Gesetz, das zur Ausgrenzung von Homosexuellen beiträgt. Dagegen positionieren sich Sportlerinnen, zum Beispiel die offen lesbische Snowboarderin Cheryl Maas. Die Niederländerin zeigt demonstrativ Handschuhe mit Regenbogenfarben in die Kamera. Eines von vielen Beispielen für Protest bei Olympia. Es ist davon auszugehen, dass diese Tradition in Tokio ihre Fortsetzung findet.