Staatspräsident Erdogan rezitiert perfekt aus dem Koran. Das kommt an bei der religiös konservativen Mehrheit der türkischen Bevölkerung. Denn dass ein hochrangiger Politiker öffentlich als gläubiger Muslim auftritt, war lange Zeit in der Türkei ein Tabu.
Als Mustafa Kemal Atatürk 1923 die Republik ausruft und vor fast hundert Jahren die moderne Türkei gründet, lautet sein Credo: Weg vom religiös ausgerichteten Sultanat hin zum westlich orientierten Laizismus. Bereits fünf Jahre zuvor notiert Atatürk in seinem Tagebuch:
"Sollte ich eines Tages den Einfluss und die Macht haben, werde ich die Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit verändern. Denn im Gegensatz zu denen, die meinen, wir könnten die Ungebildeten in diesem Land schrittweise zu einem höheren Bildungsstand führen, bin ich davon nicht überzeugt."
Atatürks Laizismus
Atatürk misstraut dem Einfluss, den die religiösen Führer im Land vor allem auf die Landbevölkerung haben. Und er weiß, dass die einflussreichsten Vertreter des Islams eine moderne demokratische Gesellschaft in der Türkei ablehnen. Deshalb schafft er vollendete Tatsachen. Er gibt dem Land eine Verfassung nach westlichem Vorbild. Er drängt den Einfluss der Religion auf die Politik zurück. Zu seinem laizistischen Programm gehört es, muslimische Kleidung abzuschaffen. Etwa den Fez als Kopfbedeckung für Männer. Stattdessen wird gesetzlich angeordnet, westliche Hüte zu tragen. Außerdem dürfen Frauen in der Öffentlichkeit keine Schleier oder Kopftücher mehr tragen. All dies vor 100 Jahren. Atatürk schafft auch die arabischen Schriftzeichen ab und führte das lateinische Alphabet für die türkische Sprache ein. Auch in der Zeit nach Atatürk sorgen laizistische Kemalisten dafür, dass die Religion aus dem öffentlichen Leben gedrängt wird. Man verbannt den Religionsunterricht aus den Schulen, fortan darf der Muezzin den islamischen Gebetsruf nicht mehr in arabischer Sprache vortragen. Die Muezzins mussten nun die türkische Sprache verwenden.
"Entweder Laizist oder Muslim"
Bis heute setzen deswegen viele Türken den Laizismus gleich mit Unglauben. Diese Stimmung in der religiös konservativen Mehrheitsgesellschaft hat Erdogan sich schon als junger Politiker zunutze gemacht. Bereits in seinen frühen Wahlkämpfen hat er sich gegen den Laizismus ausgesprochen:
"Man kann nicht zugleich laizistisch und muslimisch sein. Entweder bist du ein Laizist, oder du bist ein Muslim."
Wegen solcher Aussagen wurde Erdogan von Kemalisten oft kritisiert. Und so blieb er vorsichtig - zumindest in den ersten Jahren seiner Amtszeit als türkischer Ministerpräsident. Er wollte sich nicht angreifbar machen und bekannte sich damals bei einem Auftritt im Fernsehen durchaus zum Erbe Atatürks:
"Als wir mit der Arbeit in unserer AK-Partei begannen, haben wir gesagt, dass die AKP keine religiöse Partei ist. Wohlwissend, dass in unserem Land viele gegen den Laizismus sind, betone ich noch einmal klipp und klar: Der Laizismus sichert uns auch die Glaubensfreiheit."
Später hat Erdogan kontinuierlich dazu beigetragen, den Islam wieder stärker ins öffentliche Leben und damit auch in die Politik zurückzuholen. Vor der Amtszeit Erdogans gab es in der Türkei kaum mehr als 400 Koranschulen. Heute sind es dreimal so viel.
"Die Koranschulen werden für unser Land und unser Volk besonders wertvoll sein", sagt Erdogan.
Allah, Mohammed, Erdogan
Viele religiös konservative Türken sehen heute in Erdogan eine religiöse Retter-Figur. Sie haben die Kemalisten mit ihrer laizistischen Politik als repressiv empfunden. Sie sagen: Erdogan befreit die Religion aus ihrer Unterdrückung. Dass Erdogan von vielen fast schon mit dem Prophet gleichgesetzt wird, belegt auch ein Fernsehinterview der ARD: Eine Erdogan-Anhängerin bekennt bei einer Veranstaltung mit dem türkischen Ministerpräsidenten in Oberhausen:
"Wir haben Allah, wir haben unseren Propheten Hz. Muhammed Mustafa und jetzt Recep Tayyip Erdogan!"
Die religiöse Rolle, die Erdogan hier zugesprochen wird, wird von ihm selbst verstärkt, indem er regelmäßig ein religiöses Gedicht vorträgt, das inzwischen zu seinem wichtigsten Slogan geworden ist:
"Sag bloß nicht Schicksal, es gibt ein Schicksal über dem Schicksal. Was auch immer geschieht, die Entscheidung steigt vom Himmel herab."
Neue Türkei - von Gott gewollt?
Mit diesen Versen rührt Erdogan unzählige seiner Anhänger immer wieder zu Tränen. Denn sie assoziieren mit diesen Worten eine von Gott gewollte neue Türkei mit Recep Tayyip Erdogan an der Spitze. In diesen Zusammenhang stellen viele seiner Befürworter auch das geplante Präsidialsystem. Auch der Leiter der islamischen Universität in Rotterdam, Professor Ahmet Akgündüz, spricht sich für dieses Präsidialsystem aus, weil es besonders gut zu einem islamischen Land passe:
"Wer nach wie vor das Präsidialsystem mit Despotismus und dergleichen schlecht redet, sollte sich dessen bewusst sein, dass er damit unsere Geschichte und auch die Tatsachen unseres Glaubens verleugnet."
Akgündüz gesteht Erdogan sogar eine besondere Führungsrolle in der gesamten islamischen Welt zu. Eine Position, der viele Muslime folgen. Besonders in Syrien, Palästina und in islamischen Regionen in Afrika wird Erdogan bereits als neuer Anführer der islamischen Weltgemeinschaft gefeiert, wie in einem Bittgebet für Erdogan aus Afrika.
Opposition: Religion und Politik trennen
Wie Erdogan international als jemand verehrt wird, bei dem Politik und Religion zusammengehören, stößt in der Türkei aber auch auf Kritik. Vor allem bei Vertretern der kemalistischen Oppositionspartei CHP. So kritisiert Muharrem İnce, Abgeordneter in der Nationalversammlung, die religiösen Slogans Erdogans und die Reaktionen der AKP-Anhänger:
"Die sind doch völlig verrückt geworden. (Applaus) So eine Religion gibt es doch gar nicht. Sagt das ruhig! Habt keine Angst davor! Gott sei Dank sind wir alle Muslime. Wieso reden die aber von einer Entscheidung, die Gott getroffen hat. Zeigt mir doch mal diese Entscheidung. Hört euch nur diese Lüge an. Wie kann es so etwas geben? Macht etwa Gott Politik - oder was? Gott ist doch unser aller Gott. Wir sind seine Geschöpfe. Wir sind doch schließlich alle Muslime! ... Die haben sie doch nicht mehr alle!"
Levent Gültekin gehört heute zu den wenigen regierungskritischen Journalisten in der Türkei. In einem Interview im türkischen Fernsehen sagte der einstige Erdogan-Unterstützer Gültekin:
"Heute muss ich einräumen: Atatürk hatte wohl recht mit seinem Bestreben, Religion und Politik voneinander zu trennen. Das wird mir besonders bewusst, wenn ich jetzt beobachten muss, was die AKP mit dem politischen Islam bewirkt."
Bei der Debatte über Erdogan und sein geplantes Präsidialsystem in der Türkei geht es also auch darum, welche Rolle die Religion in der Politik einnehmen soll. Während viele Oppositionelle auf der Trennung von Religion und Politik bestehen, sprechen sich die Anhänger Erdogans für ein Zusammenspiel von Religion und Politik aus.