Benedikt Schulz: Vor fast genau zehn Jahren, da gab es in der Türkei eine Entscheidung des dortigen Verfassungsgerichtes, die kaum knapper hätte ausfallen können: Nur beinahe wäre die damalige wie heutige Regierungspartei AKP verboten worden, weil sie, so der Vorwurf, anti-laizistisch sei - oder mit anderen Worten: weil sie die Grundlagen der türkischen Republik untergrabe. Eine Richterstimme fehlte damals für ein Verbot. Heute, kurz vor den vorgezogenen Parlamentswahlen in gut einer Woche, steht die Partei möglicherweise im Zenit ihrer Macht. Ihre Politik unter Führer Recep Tayyip Erdogan hat die Gesellschaft stark verändert. Hat sie die Türkei tatsächlich islamischer gemacht? Und wie wirkt sich das aus auch auf die deutsche Gesellschaft, in der knapp drei Millionen Türkeistämmige leben und in der ein scheinbar zu inniges Verhältnis eines Fußballers zum türkischen Präsidenten schnell auch mal zum Politikum werden kann? Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigt sich heute eine Konferenz am Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam. Mit der Gründerin und Direktorin des Zentrums bin ich jetzt verbunden – herzlich willkommen, Susanne Schröter.
Susanne Schröter: Hallo.
Schulz: Im Zusammenhang mit der AKP spricht man meist vom sogenannten politischen Islam, eigentlich ein unscharfer Begriff, den manche synonym setzen mit dem Begriff Islamismus. Sortieren Sie uns mal diese Begriffe? Was ist das für ein Islamismus oder möglicherweise politischer Islam, der da von der türkischen Regierungspartei ausgeht?
Schröter: Ja, in der Tat sind diese beiden Begriffe gar nicht wirklich richtig zu trennen. Der Islamismus ist eigentlich ein älterer Begriff und ist abgelöst worden in der wissenschaftlichen und auch politischen Debatte, weil es so viele Einsprüche gab. Einsprüche deshalb, weil viele Muslime ihre Religion nicht schon terminologisch mit etwas Schlechtem in Verbindung gebracht haben wollen. Und dann hat man versucht, diesen Begriff zu präzisieren: was ist jetzt eigentlich damit gemeint? Heute, würde ich sagen, ist der Begriff des politischen Islam derjenige, der sich durchgesetzt hat. Und das mit einiger Berechtigung, weil dieser Islam ist eben eine Bewegung sozusagen, die auf die Übernahme des Politischen zielt. Das heißt nicht, dass immer damit als Endziel ein islamischer Staat gemeint ist, das kann aber durchaus sein. Aber dennoch bedeutet politischer Islam, die gesamte Gesellschaft Stück für Stück anhand von islamischen Normen zu verändern. Also islamische Normen anstelle anderer Normen, säkularer Normen, multikultureller Normen et cetera zu setzen.
Die Türkei ist tief gespalten
Und das ist das, was wir in der Türkei auch beobachten. Das ist das Projekt von Recep Tayyip Erdogan, das er ja schon relativ früh hatte. Da hat er dann zwischendurch mal wieder ein bisschen davon Abstand genommen, als auch die Verhandlungen mit der EU eigentlich recht fruchtbar waren und viele dachten: na ja, unter Erdogan geht es vielleicht tatsächlich, dass Demokratie und Islam sich gut verbinden.
Was er tatsächlich getan hat ist, damals zusammen mit seinem Partner Gülen, Schritt für Schritt die Gesellschaft zu unterwandern, Schritt für Schritt Machtpositionen auszubauen, das haben die beide Hand in Hand gemacht. Und das Ziel von beiden war, das Werk Atatürks quasi wieder umzudrehen. Was Erdogan tatsächlich geschafft hat ist, die Türkei ganz stark in eine islamistische Ecke hineinzutreiben.
Das machen natürlich nicht alle türkischen Bürgerinnen und Bürger mit – die Türkei ist tief gespalten. Viele wollen nach wie vor einen modernen Staat, einen demokratischen Staat, auch einen laizistischen Staat. Also diese fundamentalistische Religiosität, die Erdogan vertritt, also tatsächlich die Okkupation des Politischen durch die Religion, die ganz starke Vermischung von Nationalismus und Islamismus, das ist beileibe nicht das Ziel der meisten türkischen Bürger und Bürgerinnen. Selbst im nationalistischen Flügel gibt es da mittlerweile Widerstand, weil ihnen das mit der Religion jetzt doch langsam zu viel wird. Also es könnte jetzt bei der nächsten Wahl doch wieder vielleicht ein bisschen kritisch werden.
Aber grundsätzlich hat er es schon geschafft, die Religion ganz oben auf die politische Agenda zu setzen – mit allen Konsequenzen, die das hat. Also damit beispielsweise, dass im Schulunterricht jetzt mehr Religion gelehrt wird und weniger Evolutionstheorie – weil er ist ja auch anti-wissenschaftlich.
Erdogan präsentiert sich als Führer der islamischen Welt
Schulz: Geht es denn Erdogan wirklich um eine Islamisierung der Gesellschaft oder geht es, wie das hier in Europa, in der EU oft so beobachtet wird, eher um die autokratischen Ambitionen eines Einzelnen?
Schröter: Na ja, das lässt sich jetzt nicht wirklich trennen. Also, natürlich geht es ihm um seine eigene Macht, und es geht ihm auch darum, dass er als großer muslimischer Führer in die Geschichte eingeht. Er träumt davon, dass er ein neues Osmanisches Reich wiedererstehen lässt, also eine neue osmanische Geschichte zu schreiben, in der der Islam in Verbindung mit dem Türkentum irgendwie zu ganz neuer Bedeutung aufsteigt. Und sich dann gleichzeitig als Führer in der islamischen Welt, als ultimativer Führer aufzuschwingen. In der Tat gelingt es ihm zum Teil. Also, ich weiß von Kollegen und Kolleginnen bis nach Südostasien hinein, wo er sich überall als starker Mann für die islamische Weltgemeinschaft präsentiert, dass er da durchaus Eindruck macht. Also er gilt als jemand, der den Islam gegen Westen wieder aufbaut.
Schulz: Aber kann er denn wirklich einen solchen Einfluss in der islamischen Welt gewinnen, wie es das saudi-Arabische Königshaus mit deren ideologischem Unterbau in der islamischen Welt ja definitiv hat? Da kann Erdogan und der Islam in der Türkei doch gar nicht gegen an, auch intellektuell schon gar nicht.
Schröter: Nein, natürlich nicht, er wird das selbstverständlich nicht schaffen. Aber er kriegt es hin, gerade bei marginaleren Bewegungen, mit hoch symbolträchtigen Aktivitäten. Also beispielsweise, dass seine Frau nach Myanmar geflogen ist und sich da mit den Rohingya gezeigt hat. So was kommt gut an. Da zeigt er sich als Patron all der unterdrückten Muslime. Natürlich kommt er gegen die etablierten muslimischen Strukturen nicht an – die würden ihn auch gar nicht reinlassen, weil sie ja selber Ansprüche haben.
Schulz: Wenn wir mal den Blick wieder von der Türkei in Richtung Deutschland lenken, inwieweit hat das Einfluss auf die deutsche Gesellschaft? Also Einfluss über den Weg dieser türkischen Religionsbehörde Diyanet und über deren – ich nenne es jetzt mal quasi Auslandsvertretung in Deutschland, die Ditib?
Schröter: Also, Erdogan nutzt alle türkischen und türkeistämmigen Organisationen, die in Deutschland existieren – und das sind ja einige. Er versucht da, alle türkeistämmigen Organisationen irgendwie zu vereinigen und für seine Ziele zu nutzen, nämlich um Einfluss zu nehmen auf die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland. Das ist ja eine relativ große Bevölkerung und die ist auch für Wahlen nicht ganz uninteressant. Auch über diese Wahlen hinaus ist sein Interesse schon, auch in Deutschland mitzuregieren über die türkeistämmige Bevölkerung. Und da spielt Ditib natürlich eine große Rolle. Also ohne die Zustimmung Ankaras geschieht nichts in der Ditib, die Imame werden alle von Ankara ausgebildet, das sind türkische Beamte. Also diese Ditib kann nicht unabhängig agieren.
Ohne die Zustimmung Ankaras geschieht nichts in der Ditib
Das konnte sie auch vorher nicht, also vor Erdogan nicht. Das war niemals so geplant, sondern die türkische Religionsbehörde ist von Anfang an ein Instrument gewesen des türkischen Staats, um den Islam in eine bestimmte Richtung zu lenken, um ihn zu kontrollieren. Das war ursprünglich mal eine laizistische Richtung – später, unter Erdogan, dann eine andere. Und die Ditib soll dieses Programm fortsetzen in Deutschland. Da hatte auch früher niemand etwas dagegen, weil dieser türkische Staatsislam als moderater Islam galt – und er war auch vergleichsweise mit anderen Formen des Islam, die wir hier im organisierten Bereich haben, war er wirklich der moderateste Islam. Das waren Leute, mit denen konnte man vernünftig reden, gut zusammenarbeiten.
Aber das hat sich jetzt unter Erdogan geändert. Da sind auch viele kluge Köpfe ausgetauscht worden und durch Erdogan-treue Leute ersetzt worden. Ich selber habe mit solchen Leuten gesprochen, die abgesetzt worden sind, und weiß, durch wen sie jetzt ersetzt worden sind. Also da hat man auch von oben reinregiert. Und immer dann, wenn in irgendeiner Gemeinde, oder wenn irgendein Segment dieser Ditib nicht spurt, sagen wir mal so, dann gibt es einen Eingriff von oben. Und was bedeutet das jetzt?
Das bedeutet eben, dass Erdogan seine Politik über die Ditib hier in Deutschland weiterführt, das bedeutet, dass in Predigten Themen aufgegriffen werden, die Erdogan besonders wichtig sind – das kann sein, dass man gegen Gülen-Leute hetzt, das kann sein, dass man gegen die Integration in Deutschland ist, da gibt es mehrere Predigten, das kann sein, dass man, wie das jetzt in diesem Jahr geschehen ist, auch Unterstützung für kriegerische Unternehmungen einfordert: also die Kriegspropaganda, die in Ditib-Moscheen Anfang dieses Jahres gelaufen ist. Oder die Aufführungen einer historischen Schlacht, bei der man Kinder in Uniformen gesteckt hat und mit Spielzeugwaffen durch die Moscheen hat marschieren lassen. Also solche Dinge zeigen einfach, in welcher Weise diese Ditib hier gebraucht wird.
Schulz: Sagt Susanne Schröter, Gründerin und Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam. Frau Schröter, danke schön.
Schröter: Bitte schön!