"Seit Herr Kollege Genscher im Sommer 1981 das Wort von der Wende geprägt und seitdem viele Male ausgesprochen hat, war zweifelhaft geworden, ob die FDP bis zum Ende der vierjährigen Wahlperiode festhalten will an der vom Wähler 1980 eindrucksvoll bekräftigten Regierungskoalition mit den Sozialdemokraten."
Mit der Rede des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt vor dem Bundestag am Freitag, dem 17. September 1982, hatte der Countdown begonnen - der Countdown, den der FDP-Vorsitzende Hans-Dietrich Genscher, seit 1974 Außenminister und Vizekanzler in der sozialliberalen Regierungsmannschaft, gerne noch aufgeschoben hätte. Denn in seiner Partei gab es viele, für die die sozialliberale Koalition ein erfolgreiches und unbedingt fortzusetzendes Projekt war.
"Aber nach den Ereignissen der letzten Tage musste ich das politische Vertrauen zu einigen Führungspersonen der FDP verlieren. Eine weitere Zusammenarbeit ist weder den sozialdemokratischen Bundesministern noch dem Bundeskanzler zuzumuten.
Die Herren Genscher und Mischnik kennen den Text der Erklärung, den ich Ihnen gegenwärtig unterbreite seit anderthalb Stunden. Herr Genscher teilt mir soeben daraufhin den Rücktritt der vier FDP-Minister mit. Ich habe die Absicht, bis zur Neuwahl des Bundestages das Auswärtige Amt selbst zu führen. Ich habe die Absicht ..."."
Genscher hätte durch Schüren des wirtschaftspolitischen Konflikts zwischen den Koalitionspartnern lieber erst noch breitere Unterstützung für sein Vorhaben erreicht, stattdessen nun der überstürzte Rücktritt der FDP-Minister angesichts der entschiedenen und wohlbegründeten Kündigung des Bündnisses seitens der SPD.
""Die Bürger, die Medien und die öffentliche Meinung insgesamt haben die von einem Bundesminister mir am 10. September abends vorgelegte Denkschrift nahezu übereinstimmend als Scheidungsbrief oder - ich zitiere - als 'Manifest der Sezession' verstanden, das heißt auf Deutsch: als Dokument der Trennung."
Der Bundesminister, den Helmut Schmidt nicht beim Namen nennen mochte, war Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, den Genscher zum Hauptdarsteller im Drehbuch für den Koalitionsbruch erkoren hatte. Dessen "Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" orientierte sich an typisch neoliberalen Leitlinien wie der Verbilligung des Faktors Arbeit und investitionsfördernden Steuerentlastungen und schloss:
"Diese Überlegungen gehen über den konventionellen Rahmen der bisher als durchsetzbar angesehenen Politik hinaus. Die politischen Schwierigkeiten ihrer Durchsetzung werden nicht übersehen. [...] Wer eine solche Politik als 'soziale Demontage' oder gar als 'unsozial' diffamiert, verkennt, dass sie in Wirklichkeit der Gesundung und Erneuerung des wirtschaftlichen Fundaments für unser Sozialsystem dient."
13 Jahre zuvor hatte mit dem Bündnis Brandt-Scheel ein sozialliberaler Aufbruch stattgefunden, der den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel der 60er Jahre politisch nachvollzog. Ost- und Deutschlandpolitik ergänzten die Westbindung und beendeten die außenpolitische Selbstblockade der Bundesrepublik. Der Ausbau des Sozialstaates sorgte Hand in Hand mit der liberalen Forderung nach Chancengleichheit für eine erweiterte Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand. Doch in Zeiten nachlassender Konjunktur und ökonomischer Krisen verschärften sich Verteilungskämpfe und die Kritik am Wohlfahrtsstaat. Der wirtschaftsliberale Flügel der FDP setzte sich gegenüber dem sozialliberalen immer mehr durch. Das Lambsdorff-Papier trieb diese Entwicklung auf die Spitze.
""Das ist kein Papier zur Anpassung an veränderte soziale Bedingungen, sondern Umverteilung von unten nach oben","
lautete beispielsweise der Kommentar von Ingrid Matthäus-Maier, damals Mitglied im Bundesvorstand der FDP und Vorsitzende des Finanzausschusses des Bundestags.
Eine bis dahin nicht dagewesene 13-jährige Regierungsperiode unter sozialdemokratischer Führung endete mit der Wende der FDP von der SPD zur CDU - einer Wende, bei der der Genscher-Partei ein Großteil ihres Nachwuchses verloren ging. Sozialdemokraten und Sozialliberalen war es nicht gelungen, den alten Rezepten einer marktradikalen Politik der Befreiung unternehmerischen Handelns von bürokratischen und sozialstaatlichen Fesseln eine überzeugende und produktive Antwort entgegenzusetzen.
Programmtipp: "Hintergrund", Deutschlandfunk, Montag, 17. September, 18.40 Uhr: Geschichte aktuell - Vor 25 Jahren: Das Ende der sozialliberalen Koalition in Bonn
Mit der Rede des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt vor dem Bundestag am Freitag, dem 17. September 1982, hatte der Countdown begonnen - der Countdown, den der FDP-Vorsitzende Hans-Dietrich Genscher, seit 1974 Außenminister und Vizekanzler in der sozialliberalen Regierungsmannschaft, gerne noch aufgeschoben hätte. Denn in seiner Partei gab es viele, für die die sozialliberale Koalition ein erfolgreiches und unbedingt fortzusetzendes Projekt war.
"Aber nach den Ereignissen der letzten Tage musste ich das politische Vertrauen zu einigen Führungspersonen der FDP verlieren. Eine weitere Zusammenarbeit ist weder den sozialdemokratischen Bundesministern noch dem Bundeskanzler zuzumuten.
Die Herren Genscher und Mischnik kennen den Text der Erklärung, den ich Ihnen gegenwärtig unterbreite seit anderthalb Stunden. Herr Genscher teilt mir soeben daraufhin den Rücktritt der vier FDP-Minister mit. Ich habe die Absicht, bis zur Neuwahl des Bundestages das Auswärtige Amt selbst zu führen. Ich habe die Absicht ..."."
Genscher hätte durch Schüren des wirtschaftspolitischen Konflikts zwischen den Koalitionspartnern lieber erst noch breitere Unterstützung für sein Vorhaben erreicht, stattdessen nun der überstürzte Rücktritt der FDP-Minister angesichts der entschiedenen und wohlbegründeten Kündigung des Bündnisses seitens der SPD.
""Die Bürger, die Medien und die öffentliche Meinung insgesamt haben die von einem Bundesminister mir am 10. September abends vorgelegte Denkschrift nahezu übereinstimmend als Scheidungsbrief oder - ich zitiere - als 'Manifest der Sezession' verstanden, das heißt auf Deutsch: als Dokument der Trennung."
Der Bundesminister, den Helmut Schmidt nicht beim Namen nennen mochte, war Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, den Genscher zum Hauptdarsteller im Drehbuch für den Koalitionsbruch erkoren hatte. Dessen "Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" orientierte sich an typisch neoliberalen Leitlinien wie der Verbilligung des Faktors Arbeit und investitionsfördernden Steuerentlastungen und schloss:
"Diese Überlegungen gehen über den konventionellen Rahmen der bisher als durchsetzbar angesehenen Politik hinaus. Die politischen Schwierigkeiten ihrer Durchsetzung werden nicht übersehen. [...] Wer eine solche Politik als 'soziale Demontage' oder gar als 'unsozial' diffamiert, verkennt, dass sie in Wirklichkeit der Gesundung und Erneuerung des wirtschaftlichen Fundaments für unser Sozialsystem dient."
13 Jahre zuvor hatte mit dem Bündnis Brandt-Scheel ein sozialliberaler Aufbruch stattgefunden, der den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel der 60er Jahre politisch nachvollzog. Ost- und Deutschlandpolitik ergänzten die Westbindung und beendeten die außenpolitische Selbstblockade der Bundesrepublik. Der Ausbau des Sozialstaates sorgte Hand in Hand mit der liberalen Forderung nach Chancengleichheit für eine erweiterte Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand. Doch in Zeiten nachlassender Konjunktur und ökonomischer Krisen verschärften sich Verteilungskämpfe und die Kritik am Wohlfahrtsstaat. Der wirtschaftsliberale Flügel der FDP setzte sich gegenüber dem sozialliberalen immer mehr durch. Das Lambsdorff-Papier trieb diese Entwicklung auf die Spitze.
""Das ist kein Papier zur Anpassung an veränderte soziale Bedingungen, sondern Umverteilung von unten nach oben","
lautete beispielsweise der Kommentar von Ingrid Matthäus-Maier, damals Mitglied im Bundesvorstand der FDP und Vorsitzende des Finanzausschusses des Bundestags.
Eine bis dahin nicht dagewesene 13-jährige Regierungsperiode unter sozialdemokratischer Führung endete mit der Wende der FDP von der SPD zur CDU - einer Wende, bei der der Genscher-Partei ein Großteil ihres Nachwuchses verloren ging. Sozialdemokraten und Sozialliberalen war es nicht gelungen, den alten Rezepten einer marktradikalen Politik der Befreiung unternehmerischen Handelns von bürokratischen und sozialstaatlichen Fesseln eine überzeugende und produktive Antwort entgegenzusetzen.
Programmtipp: "Hintergrund", Deutschlandfunk, Montag, 17. September, 18.40 Uhr: Geschichte aktuell - Vor 25 Jahren: Das Ende der sozialliberalen Koalition in Bonn