"Der rote Wunderschirm", so heißt ein sehr seltenes Buch von 1898, das dieser Anthologie ihren Namen gibt. Kinder, die lesen, scheint es zu suggerieren, die fliegen – wie bei Goethes Wilhelm Meister – auf den Flügeln der Einbildungskraft federleicht davon, um sich völlig ihrer Neugier und Fantasie hinzugeben.
Doch dass Literatur Kindern helfen sollte, sich fantasievoll eine zu Welt konstruieren, das ist Ende des 19. Jahrhunderts noch weniger Konsens als dieser Tage. Viele denken damals Kinderbücher als Mittel der Erziehung, oft auch der Disziplinierung, in jedem Falle aber der Anpassung – und in politisch heiklen Zeiten unterwarfen sich viele Kinderbuchautoren umstandslos der allgemeinen Parole, schon die Kleinsten zu indoktrinieren.
Insofern ist Kinderliteratur AUCH politische Literatur – und aus eben diesem Grund ist das vorliegende Buch eine echte Fundgrube für jeden, der sich vergegenwärtigen will, wie Kinderliteratur im 19. und 20. Jahrhundert den politischen Zeitgeist ein- und wieder ausgeatmet hat.
Die 44 Autorinnen und Autoren des großformatigen und reich illustrierten Sammelbandes sind in der Mehrzahl Literaturwissenschaftler mit ausgewiesener Spezialisierung auf Kinderliteratur; ihre Beiträge, die die ganze Palette der Kinderliteratur von Märchen über Kinderlyrik bis hin zu sozialistischer Kinder- und Jugendliteratur und "Literatur unterm Hakenkreuz" umfassen, sind vom Duktus her wenig akademisch und in der Mehrzahl erfreulich unterhaltsam angelegt.
Unterhaltsam kommen auf den ersten Blick auch viele der besprochenen Bücher selbst daher. Doch unter der narrativen Oberfläche lauert – schon seit der Aufklärung - die autoritäre Disziplinierung. Dazu waren Warn- und Strafgeschichten wie im Struwwelpeter, der erstmals 1845 erschien, ein probates Mittel.
Wolfgang Wangerin als Herausgeber lässt die Buchtitel nicht nur einfach abbilden und katalogisieren, sondern auch von seinem Autorenteam umfassend in den Zeitgeist einordnen. Wangerin selbst analysiert, wie das Kinderbuch zum Werkzeug der "schwarzen Pädagogik" wurde.
Da werden Kinder "verstümmelt, verunstaltet, (sie) verbrennen, siechen unter Schmerzen dahin und sterben. Der Struwwelpeter führt vor, dass Kinder verlacht, stigmatisiert und zum Außenseiter gemacht werden, wenn sie sich dem Ideal von Sauberkeit und Ordnung widersetzen. Der Struwwelpeter hat Schule gemacht.
Die Nachahmer erweiterten das Strafarsenal beträchtlich. Dabei strafen fast nie die Eltern, die Strafen fallen vom Himmel, und sie fallen heftig aus. Der Konrad nuckelt, ihm werden die Daumen abgeschnitten, das Blut tropft, und niemand tröstet ihn.
Die schwarze Pädagogik sendete ein klares Signal: Die Kinder sollten ihre kindlichen Bedürfnisse unterdrücken. Dass letztere nur in wenigen Phasen der Kinderbuchgeschichte vor der Mitte des 20. Jahrhunderts ernst genommen wurden, dazu liefert dieser Sammelband reiches Anschauungsmaterial.
Selbst Aufklärung und Romantik bilden da keine große Ausnahme – denn auch sie machten Kinder nur zur Projektionsfläche: Insbesondere die Romantiker wollten in ihnen nur noch fühlende, irrationale Wesen sehen, den "reinen" Gegenentwurf zur kalten Rationalität. Diese verklärende Sicht schlägt sich in den Kinderbüchern bis zu Mitte des 20. Jahrhunderts fast flächendeckend nieder. Eine Kinderliteratur mit antiautoritären Zügen hatte dagegen immer einen schweren Stand, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie im Kommentar zu "Emil und die Detektive" von 1929 zu lesen ist.
Erich Kästner schuf mit seinem Emil-Roman einen der erfolgreichsten Kinderromane der Weimarer Republik und zugleich eine neue literarische Kinderwelt, in der Erwachsene und Kinder einander gleichberechtigt begegnen.
Doch damit war es auch rasch wieder vorbei. Die Weltkriege und ihre Vorgeschichte bildeten die Steilvorlage für eine Politisierung des Kinderbuchs. Im Ersten Weltkrieg beispielsweise erschien "Hurra! Ein Kriegsbilderbuch", in dem die Soldaten allesamt von kleinen Kindern verkörpert werden – und die putzigen kleinen Kerlchen machen sich einen Spaß daraus, möglichst viele Russen, Franzosen, Türken zu erschießen:
Fest packt klein Willi das Gewehr:
Du brauner Affe komm nur her!
Patsch! Deutsche Hiebe sitzen gut. –
Der Turkha brüllt vor Schmerz und Wut.
Kinderbücher machten selbstredend auch mobil für den Zweiten Weltkrieg. Literarisch waren diese Propaganda-Bücher oft flach, so einfältig sogar, dass sie selbst der nationalsozialistischen Zensur zu plump daherkamen.
Über die Autoren ist wenig bekannt, da auch die Nationalsozialisten diese "Konjunkturliteratur" und ihre Schriftsteller wenig förderten. Doch schon die Titel sprechen für sich.
"Kinder, was wisst Ihr vom Führer?" (1933)
"Dora im Arbeitsdienst" (1934)
"SA-Mann Schott" (1933)
"Durch Front und Feuer. Kriegsschicksale eines deutschen Jungen" (1934)
"Ingeborg. Ein deutsches Mädchen im großen Kriege." (ca. 1943)
Politisch aufgeladen war aber auch die linke Kinderliteratur – denn auch die Proletarierbewegung brachte seit 1900 die ersten Bände hervor, die sich an Arbeiterkinder richteten. Später beschrieben diese Titel zunehmen schonungsloser das Kinderelend und die Armut in der Weimarer Republik, und teilweise wurden sie sogar von Künstlern wie George Grosz illustriert.
Allerdings haben nur wenige dieser Bücher die Verbrennungen der Nationalsozialisten überstanden. Besonders eindrücklich lässt sich an der Sammlung Seifert aber ablesen, wie selbst Abenteuer- und Märchenbücher sich stets in den Dienst der politischen Sache gestellt haben; die Psyche von Kindern ist eben formbar.
Abseits aller klugen Erläuterungen ist dieser Band auch ein Augenschmaus. Er enthält prächtige Nachdrucke der Titelseiten und beeindruckender Einzelillustrationen. Die ganze Bandbreite der grafischen Künste und Moden wird hier ausgebreitet, von romantischen Tuschezeichnungen über harte Scherenschnitte bis hin zu prachtvollen Pop-Up-Kinderbüchern, die hier zumindest eindimensional zugänglich sind. Wer sich dafür interessiert, wie schon Kinderseelen politisch geformt werden, darf an diesem Sammelband nicht vorbeigehen.
Wolfgang Wangerin: Der rote Wunderschirm. Kinderbücher von der Frühaufklärung bis zum Nationalsozialismus
Wallstein Verlag
439 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-835-30970-8
Doch dass Literatur Kindern helfen sollte, sich fantasievoll eine zu Welt konstruieren, das ist Ende des 19. Jahrhunderts noch weniger Konsens als dieser Tage. Viele denken damals Kinderbücher als Mittel der Erziehung, oft auch der Disziplinierung, in jedem Falle aber der Anpassung – und in politisch heiklen Zeiten unterwarfen sich viele Kinderbuchautoren umstandslos der allgemeinen Parole, schon die Kleinsten zu indoktrinieren.
Insofern ist Kinderliteratur AUCH politische Literatur – und aus eben diesem Grund ist das vorliegende Buch eine echte Fundgrube für jeden, der sich vergegenwärtigen will, wie Kinderliteratur im 19. und 20. Jahrhundert den politischen Zeitgeist ein- und wieder ausgeatmet hat.
Die 44 Autorinnen und Autoren des großformatigen und reich illustrierten Sammelbandes sind in der Mehrzahl Literaturwissenschaftler mit ausgewiesener Spezialisierung auf Kinderliteratur; ihre Beiträge, die die ganze Palette der Kinderliteratur von Märchen über Kinderlyrik bis hin zu sozialistischer Kinder- und Jugendliteratur und "Literatur unterm Hakenkreuz" umfassen, sind vom Duktus her wenig akademisch und in der Mehrzahl erfreulich unterhaltsam angelegt.
Unterhaltsam kommen auf den ersten Blick auch viele der besprochenen Bücher selbst daher. Doch unter der narrativen Oberfläche lauert – schon seit der Aufklärung - die autoritäre Disziplinierung. Dazu waren Warn- und Strafgeschichten wie im Struwwelpeter, der erstmals 1845 erschien, ein probates Mittel.
Wolfgang Wangerin als Herausgeber lässt die Buchtitel nicht nur einfach abbilden und katalogisieren, sondern auch von seinem Autorenteam umfassend in den Zeitgeist einordnen. Wangerin selbst analysiert, wie das Kinderbuch zum Werkzeug der "schwarzen Pädagogik" wurde.
Da werden Kinder "verstümmelt, verunstaltet, (sie) verbrennen, siechen unter Schmerzen dahin und sterben. Der Struwwelpeter führt vor, dass Kinder verlacht, stigmatisiert und zum Außenseiter gemacht werden, wenn sie sich dem Ideal von Sauberkeit und Ordnung widersetzen. Der Struwwelpeter hat Schule gemacht.
Die Nachahmer erweiterten das Strafarsenal beträchtlich. Dabei strafen fast nie die Eltern, die Strafen fallen vom Himmel, und sie fallen heftig aus. Der Konrad nuckelt, ihm werden die Daumen abgeschnitten, das Blut tropft, und niemand tröstet ihn.
Die schwarze Pädagogik sendete ein klares Signal: Die Kinder sollten ihre kindlichen Bedürfnisse unterdrücken. Dass letztere nur in wenigen Phasen der Kinderbuchgeschichte vor der Mitte des 20. Jahrhunderts ernst genommen wurden, dazu liefert dieser Sammelband reiches Anschauungsmaterial.
Selbst Aufklärung und Romantik bilden da keine große Ausnahme – denn auch sie machten Kinder nur zur Projektionsfläche: Insbesondere die Romantiker wollten in ihnen nur noch fühlende, irrationale Wesen sehen, den "reinen" Gegenentwurf zur kalten Rationalität. Diese verklärende Sicht schlägt sich in den Kinderbüchern bis zu Mitte des 20. Jahrhunderts fast flächendeckend nieder. Eine Kinderliteratur mit antiautoritären Zügen hatte dagegen immer einen schweren Stand, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie im Kommentar zu "Emil und die Detektive" von 1929 zu lesen ist.
Erich Kästner schuf mit seinem Emil-Roman einen der erfolgreichsten Kinderromane der Weimarer Republik und zugleich eine neue literarische Kinderwelt, in der Erwachsene und Kinder einander gleichberechtigt begegnen.
Doch damit war es auch rasch wieder vorbei. Die Weltkriege und ihre Vorgeschichte bildeten die Steilvorlage für eine Politisierung des Kinderbuchs. Im Ersten Weltkrieg beispielsweise erschien "Hurra! Ein Kriegsbilderbuch", in dem die Soldaten allesamt von kleinen Kindern verkörpert werden – und die putzigen kleinen Kerlchen machen sich einen Spaß daraus, möglichst viele Russen, Franzosen, Türken zu erschießen:
Fest packt klein Willi das Gewehr:
Du brauner Affe komm nur her!
Patsch! Deutsche Hiebe sitzen gut. –
Der Turkha brüllt vor Schmerz und Wut.
Kinderbücher machten selbstredend auch mobil für den Zweiten Weltkrieg. Literarisch waren diese Propaganda-Bücher oft flach, so einfältig sogar, dass sie selbst der nationalsozialistischen Zensur zu plump daherkamen.
Über die Autoren ist wenig bekannt, da auch die Nationalsozialisten diese "Konjunkturliteratur" und ihre Schriftsteller wenig förderten. Doch schon die Titel sprechen für sich.
"Kinder, was wisst Ihr vom Führer?" (1933)
"Dora im Arbeitsdienst" (1934)
"SA-Mann Schott" (1933)
"Durch Front und Feuer. Kriegsschicksale eines deutschen Jungen" (1934)
"Ingeborg. Ein deutsches Mädchen im großen Kriege." (ca. 1943)
Politisch aufgeladen war aber auch die linke Kinderliteratur – denn auch die Proletarierbewegung brachte seit 1900 die ersten Bände hervor, die sich an Arbeiterkinder richteten. Später beschrieben diese Titel zunehmen schonungsloser das Kinderelend und die Armut in der Weimarer Republik, und teilweise wurden sie sogar von Künstlern wie George Grosz illustriert.
Allerdings haben nur wenige dieser Bücher die Verbrennungen der Nationalsozialisten überstanden. Besonders eindrücklich lässt sich an der Sammlung Seifert aber ablesen, wie selbst Abenteuer- und Märchenbücher sich stets in den Dienst der politischen Sache gestellt haben; die Psyche von Kindern ist eben formbar.
Abseits aller klugen Erläuterungen ist dieser Band auch ein Augenschmaus. Er enthält prächtige Nachdrucke der Titelseiten und beeindruckender Einzelillustrationen. Die ganze Bandbreite der grafischen Künste und Moden wird hier ausgebreitet, von romantischen Tuschezeichnungen über harte Scherenschnitte bis hin zu prachtvollen Pop-Up-Kinderbüchern, die hier zumindest eindimensional zugänglich sind. Wer sich dafür interessiert, wie schon Kinderseelen politisch geformt werden, darf an diesem Sammelband nicht vorbeigehen.
Wolfgang Wangerin: Der rote Wunderschirm. Kinderbücher von der Frühaufklärung bis zum Nationalsozialismus
Wallstein Verlag
439 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-3-835-30970-8