Die lebende Regielegende Jean-Luc Godard absolvierte einen gut gelaunten Auftritt auf dem Filmfestival in Cannes.
Der 87-jährige Mitbegründer der "Nouvelle Vague" war nicht selbst anwesend, sondern per Smartphone von seinem Wohnort am Genfer See zugeschaltet.
Das war eine eindrucksvolle Audienz, die auch erfahrene Filmjournalisten gerührt hat. Und man könnte vielleicht sagen: Godard hat über Gott und die Welt und das Kino gesprochen, erklärte Dlf-Korrespondentin Maja Ellenmreich.
Nach der Zukunft der großen Kinoleinwand gefragt – ein Thema, das ja im Netflix-freien und unter Selfie-Verbot stehenden Cannes immer wieder diskutiert wird, habe Godard mal rasch die aktuelle Politik mit ins Boot geholt, die ihn ja auch in seinem neuen Film umtreibt.
"Je pense que le cinema est une petite Catalonie qui a du mal a exister. Voila!"
Godard verglich also das klassische Kino mit Katalonien – beide hätten es nicht leicht zu bestehen, zu existieren. Voila!
Persönliche Filmzukunft
Durchaus lakonisch also, aber doch auch sehr zugewandt. Godard war und ist immer noch ein einflussreicher Filmtheoretiker und Kommentator der Mediengeschichte. Vor 50 Jahren hat er seinen Teil dazu beigetragen, dass die 68er Festspiele in Cannes abgebrochen wurden. Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, hat er kein Problem damit, auch mal schlicht mit "Je ne sais pas."/"Weiß ich nicht." zu antworten. Aber auf die Frage, wie es mit seiner persönlichen Filmzukunft aussieht, da hat er geantwortet, dass diese nicht wirklich von ihm abhänge, sagte Godard, sondern vielmehr von seinen Beinen, noch mehr von seinen Händen und ein bisschen von seinen Augen.
Man spürt, dass da - trotz leicht brüchiger Stimme - noch viel Energie vorhanden ist und so manch eine Filmidee.
Godards jüngster Film "Le livre d'image" - zu deutsch "Das Bilderbuch", sei innovativ und rasant, so Ellmenreich.
Querschnitt der Filmgenres
Godard blättere vor den Zuschauern ein "Buch der Bewegtbilder" auf. Und so abrupt, wie beim schnellen Blättern in einem Buch oder einer Zeitung Bilder und Inhalte wechseln, so zappt Godard durch verschiedene Bild- und Tonkanäle. Es wechseln Ausschnitte aus historischen Hollywoodstreifen, Hinrichtungs-Videos des sogenannten "Islamischen Staates", alte Fernseh-Dokumentationen, farblich verfremdete Bilder – und das gleiche passiert auch auf der Tonspur.
Es geht kreuz und quer: durch Filmgenres, durch Sprachen.
Godard konfrontiert die Zuschauer mit den Schrecken unserer Welt: mit Gräueltaten jedweder Art, mit Gewaltbildern, mit Kriegsszenen. Und das begleitet er durch Gedanken zu unserer Wahrnehmung: Was ist uns wichtiger? Das Bild oder der Text? Wie nah kommen wir – in unseren bequemen Kinosesseln – dem, was da auf der Leinwand an Leid gezeigt wird? Was für einen Blick werfen wir Europäer auf die arabische Welt? Wie funktioniert unsere Wahrnehmung?
Neben Godards neuem Film wurde auch der Film des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov vorgestellt. Er durfte aus politischen, aus juristischen Gründen nicht nach Cannes kommen, um seinen neuen Film "Leto" im Wettbewerb zu präsentieren.
"Leto" sei allerdings nicht in erster Linie politisch, sondern musikalisch aufgeladen, so Maja Ellmenreich.
Kommentar zur Lage in Russland
Die Geschichte vom jungen Victor Tsoi, der sich in seiner kurzen Karriere zu einem Rock- bzw. Punk-Superstar in der Sowjetunion entwickelt hat, die spielt in den 80ern in Leningrad. Die Jugend giert förmlich nach der Musik aus dem Westen – David Bowie, Iggy Pop, The Sex Pistols sind die großen Idole. Und der charismatische Tsoi ist einer von denen, die diese Musik auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs holen. Mit eigenen Texten, mit eigenen Melodien – aber natürlich immer nur in dem Masse, die der sowjetische Staat erlaubt. So müssen etwa die Texte vorher die Zensur passieren; und im Leningrader "Rock Club" darf allerhöchstens zur Musik mit dem Fuß gewippt werden. Ansonsten sitzen alle brav auf ihren Zuschauerplätzen und müssen ihre Ekstase für sich behalten. Diese politischen Einschränkungen sind so etwas wie der Unterstrom des Filmes, der ansonsten von dieser kreativen Kraft der jungen Musiker erzählt, von ihrem Veränderungswillen und von einer Dreiecksbeziehung.
Serebrenniokov wurde noch während der Dreharbeiten festgenommen, hat den Schnitt allein unter Hausarrest vorgenommen, darf nur über seinen Anwalt nach draußen kommunizieren – der liest natürlich einen Kommentar daraus auf die gegenwärtige Lage in Russland: auf die Einschränkungen der künstlerischen Freiheit, die Repressionen. Serebrennikov ist aber klug genug, den russischen Behörden kein konkretes Futter zu liefern.
Vielschichtger Musikfilm
Deshalb wird der Film in wenigen Wochen in Russland anlaufen, wird dort schon sehnlichst erwartet, denn Tsoi und seine Band "Kino" wird bis heute verehrt.
Ein sehr guter, vielschichtiger Musikfilm, der uns zwar aus der Geschichte berichtet, aber doch auch was von heute erzählt, so DlF- Korrespondentin Maja Ellemenreich.
Eine Parallele zwischen Serebrennikovs Rock-Punk-Film und dem neuen Pawlikowski, der – wie Serebrennikov – in schwarz-weiß gedreht hat. Aber in "Cold War" dreht sich zu Beginn alles um die polnische Volksmusik und ihre Instrumentalisierung innerhalb des Kalten Krieges. Das Liebespaar, deren wechselvolle On-and-Off-Beziehung diesen Film durchzieht, das lernt sich in einem staatlichen Volksmusikensemble kennen: er ist Pianist und Dirigent, sie Sängerin und Tänzerin. Diese Gruppe tourt durch's Land, auch ins befreundete Ausland, um die nationale Identität Polens mit Hilfe der Musik zu propagieren.
Film im Quadratformat
Und dieser erste Teil des Filmes, in dem zuerst die alten Lieder gesammelt werden, die Musikerinnen und Musiker gecastet werden, dann geprobt wird – dieses Zusammenspiel aus eindrücklichen Gesichtern, intensiver Musik, bis ins Detail komponierten Bildern – dieser Teil hat mich wirklich umgehauen. Jedes Bild – der Film ist übrigens im Quadratformat – jede Einstellung wäre es wert, in einem Bildband über die polnische Nachkriegs-Volksmusik abgebildet zu werden.
Doch leider lässt der Film – trotz seiner nicht minder eindringlich spielendenden Schauspieler – nach. Dieses Die politischen Umstände – der Film heißt ja nun mal "Cold War" – die sind es letztendlich dann doch nicht. Und so irrt der Film in seiner zweiten Hälfte dann hin und her.
Bislang, so Ellmenreich gebe es noch keinen "Goldene-Palme" Favoriten, aber der Godard-Film steche heraus, weil er keine Geschichte im klassischen Sinne erzähle und weil er eine starke sinnliche Wirkung auf den Zuschauer habe – fast schon synästhetisch.