Peter Kapern: Heute Abend geht es los: mit einem Abendessen der 27 Staats- und Regierungschefs. Es könnte aber durchaus sein, dass im Verlauf der nächsten Tage die Spaltung der EU dokumentiert wird, und zwar dadurch, dass sich bei weiteren Essensterminen nicht mehr alle 27 treffen, sondern nur noch 17, oder 19, oder vielleicht auch 23, also die Vertreter der Euro-Staaten und der Länder, die bereit sind, die Stabilitätsregeln zu verschärfen.
Mitgehört hat Joachim Fritz-Vannahme, Europaexperte der Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag!
Joachim Fritz-Vannahme: Schönen guten Tag.
Kapern: In Berlin heißt es, einige Länder haben den Ernst der Lage noch nicht erkannt. Stimmt das?
Fritz-Vannahme: Nun, ich glaube, sie haben den Ernst der Lage schon erkannt, aber sie versuchen, mit dem Ernst der Lage auf unterschiedliche Weise fertig zu werden. Selbst David Cameron, der ja bei Volker Finthammer vollkommen richtig beschrieben worden ist, hat natürlich Interessen zu respektieren. Ich meine, die City von London ist ein ganz gewichtiger Wirtschaftsfaktor, darum geht es ihm, diese Rolle, diesen Wirtschaftsfaktor so gut, wie es geht, zu schützen. Er weist auch die anderen darauf hin, dass in einer 27er-Gemeinschaft auch die eigentlich ein Interesse daran haben, London nicht zu schwächen, sondern eher zu stärken. Also ich glaube, da ist viel Debatte über den richtigen Weg, allerdings auch – und das ist eben richtig geschildert worden – mittlerweile eine Debatte über das Ziel. Camerons Ziel ist ein relativ einfaches. Er sagt, ein Netzwerk eines "Clean Markers", das reicht mir völlig, während Angela Merkel und Nicolas Sarkozy in eine Fiskalunion, eine politische Union, in ein föderiertes Europa hinein wollen, und dafür braucht es tatsächlich mehr als die Änderung eines Protokolls.
Kapern: Heißt das, dass alle Probleme, mit denen wir derzeit zu kämpfen haben, ohne Großbritannien einfacher zu lösen wären?
Fritz-Vannahme: Vermutlich ja, aber nicht, ohne dass auch dafür ein Preis zu bezahlen wäre. Ich habe das ja eben kurz angedeutet. Ich will auch noch auf einen anderen Faktor hinweisen, der noch nicht vorkam. Wir haben ja nicht nur eine britische Frage im Raume stehen, wir haben ja auch eine polnische Frage im Raum stehen. Die Zusammenarbeit zwischen Merkel und Donald Tusk, dem polnischen Ministerpräsidenten, ist vorzüglich. Der polnische Außenminister hat hier in Berlin die Deutschen dazu angetrieben, mehr Verantwortung, mehr Macht zu übernehmen, und Polen ist nicht in der Euro-Zone. Also wie will man zu Siebzehnt in den nächsten Stunden eigentlich mit der Ratspräsidentschaft aus Warschau umgehen? Wie will man ganz konkret mit Donald Tusk am Tische umgehen? Sitzt er dabei, sitzt er nicht dabei? Wie verständigt man sich mit ihm in solchen Fragen, wo er doch eigenwillig ist und wo doch seine Regierung genau wie die beiden in Paris und in Berlin mehr Europa wollen, ein föderiertes Europa anstreben.
Kapern: Aber ist denn die Botschaft aus Berlin und Paris nicht klar, nämlich dass die 17er-Gruppe allen offenstehen soll, allen weiteren Nicht-Euro-Ländern offenstehen soll, die mitmachen wollen?
Fritz-Vannahme: Ja, aber das ist natürlich in der Konkretion dann hinterher doch etwas heikel. David Cameron und auch seine Vorgänger Blair und Brown haben natürlich oft geschäumt, wenn die Euro-Gruppe alleine zusammengesessen hat, ohne die Briten. Diesen Zustand haben wir im Augenblick auch. Es war Herr Sarkozy, der gesagt hat, er will keinen polnischen Vertreter der Ratspräsidentschaft bei den Beratungen der Euro-Gruppe dabei haben. Das ist eine Asymmetrie und wir haben es mit vielfachen Asymmetrien im Augenblick in der europäischen Szene zu tun, die unter Umständen für Deutschland sehr schmerzhaft sind. Die Polen können damit noch ganz gut für den Augenblick umgehen, aber Deutschland will ja die enge Partnerschaft und braucht die aus vielerlei historischen und politischen Gründen mit Polen. Aber es gibt im Augenblick, wenn man auf eine EU-17 zusteuert, einen Haufen von Schwierigkeiten, die noch kein Mensch wirklich benannt hat und auch noch nicht ausgeräumt hat.
Kapern: Trägt die EU-17 den Spaltpilz in sich?
Fritz-Vannahme: Das Risiko ist sicherlich angelegt. Wenn man es so handhabt und anlegt, wie mit der Erfindung des Euro-plus-Paktes, der ja mehr Mitglieder als die 17 mittlerweile umfasst, dann haben wir eigentlich am Ende wieder die britische Frage, vielleicht auch eine irische Frage und eine schwedische Frage zu beantworten. Aber das sind Fragen, mit denen man wahrscheinlich umgehen könnte. Im Moment ist das große Risiko, dass in dem Augenblick, wo Merkel und Sarkozy sich mit EU-17 wirklich durchsetzen – und dafür brauchen sie ja noch 15 andere -, die Asymmetrien auf dem Tisch liegen, noch sichtbarer werden und die Diskussionen noch komplizierter werden in einem Augenblick, wo ja die Märkte eine höhere Effizienz, eine höhere Kohärenz, eine höhere Schlüssigkeit der europäischen Positionen erwarten und einfordern.
Kapern: Wie groß ist das Risiko, dass die Europäische Union in ihrer derzeitigen Form die Schuldenkrise nicht überlebt?
Fritz-Vannahme: Na ja, ich bin da mittlerweile bei der "Glas halb voll", "Glas halb leer" Philosophie angekommen.
Kapern: Heißt das fifty-fifty?
Fritz-Vannahme: Ja. Ich glaube, sie hat zu kämpfen, sie muss kämpfen, sie hat aber auch sehr wohl die Möglichkeiten. Man sollte sie nicht unterschätzen. Die Kompromisskultur, auch die Debattenkultur in der Europäischen Union ist so ausgereift, dass Lösungen auch unter solchem Stress gefunden werden können. Das hängt natürlich von der Psychologie, auch vom Kalkül der einzelnen Akteure und Hauptakteure ab, aber da warten wir mal den Verlauf des Gipfels ab. Ich glaube, da wird es noch einige Überraschungen geben, und meine Prognose ist, wir können am Samstag noch mal weiterreden, dann wird noch nicht ganz zu Ende entschieden worden sein.
Kapern: Vielleicht rufen wir dann wieder an. – Joachim Fritz-Vannahme war das, der Europaexperte der Bertelsmann-Stiftung. Danke und auf Wiederhören!
Fritz-Vannahme: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mitgehört hat Joachim Fritz-Vannahme, Europaexperte der Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag!
Joachim Fritz-Vannahme: Schönen guten Tag.
Kapern: In Berlin heißt es, einige Länder haben den Ernst der Lage noch nicht erkannt. Stimmt das?
Fritz-Vannahme: Nun, ich glaube, sie haben den Ernst der Lage schon erkannt, aber sie versuchen, mit dem Ernst der Lage auf unterschiedliche Weise fertig zu werden. Selbst David Cameron, der ja bei Volker Finthammer vollkommen richtig beschrieben worden ist, hat natürlich Interessen zu respektieren. Ich meine, die City von London ist ein ganz gewichtiger Wirtschaftsfaktor, darum geht es ihm, diese Rolle, diesen Wirtschaftsfaktor so gut, wie es geht, zu schützen. Er weist auch die anderen darauf hin, dass in einer 27er-Gemeinschaft auch die eigentlich ein Interesse daran haben, London nicht zu schwächen, sondern eher zu stärken. Also ich glaube, da ist viel Debatte über den richtigen Weg, allerdings auch – und das ist eben richtig geschildert worden – mittlerweile eine Debatte über das Ziel. Camerons Ziel ist ein relativ einfaches. Er sagt, ein Netzwerk eines "Clean Markers", das reicht mir völlig, während Angela Merkel und Nicolas Sarkozy in eine Fiskalunion, eine politische Union, in ein föderiertes Europa hinein wollen, und dafür braucht es tatsächlich mehr als die Änderung eines Protokolls.
Kapern: Heißt das, dass alle Probleme, mit denen wir derzeit zu kämpfen haben, ohne Großbritannien einfacher zu lösen wären?
Fritz-Vannahme: Vermutlich ja, aber nicht, ohne dass auch dafür ein Preis zu bezahlen wäre. Ich habe das ja eben kurz angedeutet. Ich will auch noch auf einen anderen Faktor hinweisen, der noch nicht vorkam. Wir haben ja nicht nur eine britische Frage im Raume stehen, wir haben ja auch eine polnische Frage im Raum stehen. Die Zusammenarbeit zwischen Merkel und Donald Tusk, dem polnischen Ministerpräsidenten, ist vorzüglich. Der polnische Außenminister hat hier in Berlin die Deutschen dazu angetrieben, mehr Verantwortung, mehr Macht zu übernehmen, und Polen ist nicht in der Euro-Zone. Also wie will man zu Siebzehnt in den nächsten Stunden eigentlich mit der Ratspräsidentschaft aus Warschau umgehen? Wie will man ganz konkret mit Donald Tusk am Tische umgehen? Sitzt er dabei, sitzt er nicht dabei? Wie verständigt man sich mit ihm in solchen Fragen, wo er doch eigenwillig ist und wo doch seine Regierung genau wie die beiden in Paris und in Berlin mehr Europa wollen, ein föderiertes Europa anstreben.
Kapern: Aber ist denn die Botschaft aus Berlin und Paris nicht klar, nämlich dass die 17er-Gruppe allen offenstehen soll, allen weiteren Nicht-Euro-Ländern offenstehen soll, die mitmachen wollen?
Fritz-Vannahme: Ja, aber das ist natürlich in der Konkretion dann hinterher doch etwas heikel. David Cameron und auch seine Vorgänger Blair und Brown haben natürlich oft geschäumt, wenn die Euro-Gruppe alleine zusammengesessen hat, ohne die Briten. Diesen Zustand haben wir im Augenblick auch. Es war Herr Sarkozy, der gesagt hat, er will keinen polnischen Vertreter der Ratspräsidentschaft bei den Beratungen der Euro-Gruppe dabei haben. Das ist eine Asymmetrie und wir haben es mit vielfachen Asymmetrien im Augenblick in der europäischen Szene zu tun, die unter Umständen für Deutschland sehr schmerzhaft sind. Die Polen können damit noch ganz gut für den Augenblick umgehen, aber Deutschland will ja die enge Partnerschaft und braucht die aus vielerlei historischen und politischen Gründen mit Polen. Aber es gibt im Augenblick, wenn man auf eine EU-17 zusteuert, einen Haufen von Schwierigkeiten, die noch kein Mensch wirklich benannt hat und auch noch nicht ausgeräumt hat.
Kapern: Trägt die EU-17 den Spaltpilz in sich?
Fritz-Vannahme: Das Risiko ist sicherlich angelegt. Wenn man es so handhabt und anlegt, wie mit der Erfindung des Euro-plus-Paktes, der ja mehr Mitglieder als die 17 mittlerweile umfasst, dann haben wir eigentlich am Ende wieder die britische Frage, vielleicht auch eine irische Frage und eine schwedische Frage zu beantworten. Aber das sind Fragen, mit denen man wahrscheinlich umgehen könnte. Im Moment ist das große Risiko, dass in dem Augenblick, wo Merkel und Sarkozy sich mit EU-17 wirklich durchsetzen – und dafür brauchen sie ja noch 15 andere -, die Asymmetrien auf dem Tisch liegen, noch sichtbarer werden und die Diskussionen noch komplizierter werden in einem Augenblick, wo ja die Märkte eine höhere Effizienz, eine höhere Kohärenz, eine höhere Schlüssigkeit der europäischen Positionen erwarten und einfordern.
Kapern: Wie groß ist das Risiko, dass die Europäische Union in ihrer derzeitigen Form die Schuldenkrise nicht überlebt?
Fritz-Vannahme: Na ja, ich bin da mittlerweile bei der "Glas halb voll", "Glas halb leer" Philosophie angekommen.
Kapern: Heißt das fifty-fifty?
Fritz-Vannahme: Ja. Ich glaube, sie hat zu kämpfen, sie muss kämpfen, sie hat aber auch sehr wohl die Möglichkeiten. Man sollte sie nicht unterschätzen. Die Kompromisskultur, auch die Debattenkultur in der Europäischen Union ist so ausgereift, dass Lösungen auch unter solchem Stress gefunden werden können. Das hängt natürlich von der Psychologie, auch vom Kalkül der einzelnen Akteure und Hauptakteure ab, aber da warten wir mal den Verlauf des Gipfels ab. Ich glaube, da wird es noch einige Überraschungen geben, und meine Prognose ist, wir können am Samstag noch mal weiterreden, dann wird noch nicht ganz zu Ende entschieden worden sein.
Kapern: Vielleicht rufen wir dann wieder an. – Joachim Fritz-Vannahme war das, der Europaexperte der Bertelsmann-Stiftung. Danke und auf Wiederhören!
Fritz-Vannahme: Auf Wiederhören!
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