Zwischen 1940 und 1945 hielt der exilierte Schrifsteller Thomas Mann auf Bitten der britischen BBC über 50 Radioansprachen unter dem Titel "Deutsche Hörer!". Aus einem Radiostudio in L.A. erreichte er so monatlich tausende Hörer in Deutschland und besetzten Gebieten mit seinem Appell zum Widerstand gegen das NS-Regime.
Mit der Reihe "55 Voices for Democracy" knüpfen das Thomas Mann House in Los Angeles, "Süddeutsche Zeitung, "Los Angeles Review of Books" und Deutschlandfunk nun an Manns Ansprachen an: 55 renommierte intellektuelle nehmen in monatlicher Folge an Thomas Manns einstigem Schreibtisch in Pacific Palisades, Kalifornien, Platz, um eine Rede über Demokratie zu halten.
Den Anfang machte Francis Fukuyama - seinen Vortag vom 22. Oktober 2019 finden Sie hier als Video und unten zum Nachlesen in deutscher und englischer Sprache.
Die deutsche Übersetzung von Fukuyamas Rede zum Nachlesen:
Ich freue mich sehr, dass ich gebeten wurde, an dieser 55-Voices-for-Democracy-Reihe zu Ehren von Thomas Mann teilzunehmen, und in seinem Haus in Pacific Palisades zu sein.
Ich meine, dass Thomas Mann in mehrfacher Hinsicht für die gegenwärtige Zeit äußerst relevant ist. Die Rolle, die er als Emigrant aus Nazideutschland spielte, und seine "Deutsche-Hörer!"-Ansprachen, die während des Krieges ins nationalsozialistische Deutschland gesendet wurden, lieferten einen wichtigen Präzedenzfall dafür, wie man sich gegen eine Tyrannei, gegen autoritäre Regime, zur Wehr setzen kann.
Für mich ist dies von besonderem Belang, weil ich Direktor des Center on Democracy Development and the Rule of Law (Zentrum für Demokratieentwicklung und Rechtsstaatlichkeit) an der Stanford University bin. Wir veranstalten eine Reihe von Programmen für Menschen, die die Demokratie überall auf der Welt fördern wollen. Die meisten von ihnen sind Aktivisten der Zivilgesellschaft, einige arbeiten als Journalisten, und manche gehören sogar Regierungen an, die nach Demokratie streben.
Autoritäre Regierungen
Ich glaube, dass wir heutzutage tragischerweise mit allerlei autoritären Regierungen derselben Art konfrontiert sind wie Thomas Mann zu seiner Zeit.
Etliche Personen, die unsere Programme in Stanford absolviert haben, sind wie Mann nur in der Lage, sich diesen Regimen von außen zu widersetzen, und müssen versuchen, aus der Distanz mit ihren Mitbürgern zu sprechen.
Ich möchte einige von ihnen beim Namen nennen, weil sie reale Menschen sind und ihr Ringen dem von Thomas Mann, wie ich finde, stark ähnelt. Nancy Okail hatte zur Zeit des Arabischen Frühlings für das National Democratic Institute in Ägypten gearbeitet. Sie wurde inhaftiert, schließlich freigelassen und ging nach Washington, um das Tahrir Institute for Middle East Policy (Tahrir-Institut für Nahostpolitik) zu gründen und um gegen die Diktatur von General as-Sisi Stellung zu beziehen.
Saeid Golkar musste aus seinem Heimatland Iran fliehen; er arbeitet seitdem als Hochschullehrer und schreibt über die Iranische Revolutionsgarde.
Shanna Nemzowa ist die Tochter von Boris Nemzow, einem berühmten russischen Oppositionspolitiker, der 2015 unweit des Kreml ermordet wurde. Sie kann nicht mehr in Russland leben und muss als Journalistin in Deutschland arbeiten.
Und schließlich Audrey Lee, ein chinesischer Journalist, der sich in seiner Heimat nicht mehr sicher fühlt.
Sie alle treten in Thomas Manns Fußstapfen.
Die Tatsache, dass diese Menschen sich nicht ungefährdet in ihren Geburtsländern bewegen können, weist auf die Verschiebungen in der globalen Politik hin, die sich unglücklicherweise in den letzten Jahren ereignet haben.
Konsolidierung autoritärer Regime
Die Konsolidierung autoritärer Regime wie der Chinas oder Russlands hat dazu geführt, dass sie selbstbewusst geworden sind und versuchen, ihren Einfluss nach außen zu projizieren.
Und wir erleben den Aufschwung des Populismus. So können wir den Durchbruch von Politikern in etablierten Demokratien beobachten - beginnend mit zwei der gefestigsten, den Vereinigten Staaten und Großbritannien -, die ihr Volksmandat nutzen, um die Normen einer echten liberalen Demokratie zu untergraben. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte und des Journalismus sind Säulen dessen, was eine wahrhaft demokratische Gesellschaft ausmacht.
"Bürger wollen nicht unter tyrannischen Regimen leben"
Wir erleiden eine Krise der globalen Demokratie, in der die Kräfte, die sich für eine offene und tolerante Gesellschaft einsetzen, in vielen Ländern unter enormem Druck stehen und sich im Rückzug befinden.
Meiner Meinung nach kann das Beispiel Thomas Manns all den Menschen als Inspiration dienen, die derzeit in ähnliche Kämpfe verwickelt sind wie er in den 1940er-Jahren.
Es ist wichtig zu erkennen, dass es am Ende dieses Prozesses Hoffnung gibt, dass die Bürger nicht unter tyrannischen Regimen leben wollen, sondern sich die Freiheit wünschen zu denken, zu schreiben und zu handeln.
Vorurteile gegen abweichende Meinungen
Ich meine, wir müssen zudem auf der Hut sein vor einem anderen Problem, unter dem Thomas Mann während seiner Laufbahn litt, nämlich Gremien wie dem Komitee für unamerikanische Umtriebe und den Vorurteilen gegen abweichende Meinungen, die selbst in der stabilsten Demokratie auftreten können. Und leider erscheinen einige dieser Trends heute erneut in den Vereinigten Staaten, in europäischen und anderen Ländern, die Bastionen der freien Gesellschaft sein sollten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich gratuliere dem Thomas Mann House zu dieser Veranstaltung und freue mich auf weitere derartige Diskussionen. Noch einmal besten Dank.
Der Originaltext von Fukuyamas Rede zum Nachlesen:
I am very delighted to be asked to participate in this "55 Voices" series in honor of Thomas Mann and to be in Thomas Mann's house in Pacific Palisades.
I think that Thomas Mann is particularly relevant to the present moment in a couple of respects: I think that the role that he played as an exile from Nazi Germany, his "Listen, Germany!" lectures that were delivered into Nazi Germany during the war, in a way set an important precedent for how you dissent against a tyranny, against authoritarian regimes.
To me it makes a particular difference because I am the director of something called the Center on Democracy Development and the Rule of Law at Stanford University. We run a number of programs for people who want to promote democracy around the world, most of them are civil society activists, some are journalists, some are actually in governments that are seeking to become democratic.
Struggles similar to Thomans Mann's
And I think, very tragically, in our period, we are facing some of the same kinds of authoritarian governments that Thomas Mann faced in his day.
And a number of the people that have gone through our programs have, like him, been able to resist those regimes only from the outside and to try to speak from the outside to their own fellow citizens.
I would actually like to just mention a few of them by name, because they are real people and their struggles, I think, are very similar to Thomas Mann's. Nancy Okail had worked for the National Democratic Institute in Egypt at the time of the Arab Spring. She was jailed, eventually freed, she went to Washington to form the Tahrir Institute of Middle East Policy and spoke out against the dictatorship of General Sisi.
Saeid Golkar had to flee his native Iran and since then has been working as an academic writing about the Iranian regime.
Shanna Nemtsova, who is the daughter of Boris Nemtsov, a famous Russian dissident politician. She can no longer live in Russia but has to work as a journalist from Germany.
David Smolinsky had been a mayor in an opposition party in Venezuela and now is in Washington.
And finally Audrey Lee, a Chinese journalist, I think no longer finds it safe to be back in China.
All of these people are following in Thomas Mann's tradition.
Consolidation of authoritarian regimes
I think the fact that these people cannot safely travel in their own countries, where they were born, is an indication of the shifts in global politics that have occurred in the last few years, unfortunately:
You have the consolidation of authoritarian regimes, like China or Russia, that are now self-confident and are trying to project their influence into the outside world.
And you also have the rise of populism. You have the rise of politicians in established democracies, beginning with two of the most well-established democracies, United States and Britain, who have used their popular mandate to undermine some of the democratic norms that exist in a real liberal democracy - the rule of law, the separation of powers, the independence of courts, and the importance of independent journalism are pillars of what it means to be in a real democratic society.
And unfortunately, in many countries, all of these institutions, withheld from outside powers like China and Russia, have been dealing a setback to global democracy.
"People do not want to live under tyrannical regimes"
I think we are in a crisis of global democracy, where the forces that support an open and tolerant society are under tremendous pressure and we've gone backwards in that struggle.
I think that the example of Thomas Mann should be an inspiration to all of those people currently struggling, as he struggled back in the 1940s.
I think that it is important to realize that there is hope at the end of this process, that people do not want to live under tyrannical regimes, they do want to have the freedom to think, and write, and act.
Prejudices against dissident opinions
And I think that we need to be on guard from another thing that Thomas Mann suffered from in his career, which was his dealings with the House Un-American Activities Committee and the kinds of prejudices against dissident opinions that can occur even in the most well-established democracy.
And unfortunately, we are seeing some of that trend reappear in the United States, in Europe and other countries that should be the bastions of free society.
So, thank you very much for your attention. I congratulate the Thomas Mann House for this event and I look forward to further discussions along these lines.
Thank you very much.