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Politologe Jun zum Bundestagswahlkampf
"Die großen Parteien verlieren immer mehr an Zuspruch"

In Deutschland gebe es eine starke Auflösung von Parteibindungen, eine immer geringere Parteienidentifikation und eine größere Angleichung der Parteienstärke, sagte Politikwissenschafter Uwe Jun von der Universität Trier im Dlf. TV-Formate wie das Triell hält er daher in Zukunft für wenig sinnvoll.

Uwe Jun im Gespräch mit Josephine Schulz |
Ellen Ehni (l-r), Moderatorin, Janine Wissler, Linke-Parteivorsitzende, Christian Lindner, FDP-Parteivorsitzender, Alexander Dobrindt, CSU-Landesgruppenchef, Alice Weidel, AfD-Fraktionsvorsitzende, und Christian Nitsche, Moderator, stehen kurz vor der Live-Sendung "Der Vierkampf nach dem TV-Triell" (ARD) in den Bolle Festsälen
TV-Formate wie "Der Vierkampf nach dem TV-Triell" bieten Wählenden die Möglichkeit, sich über Politiker und ihre Schwerpunktthemen ein besseres Bild zu machen (picture alliance/dpa | Annette Riedl)
Nach dem TV-Triell der Kanzlerkandidaten am 12.9. gab es einen Tag später auch einen Vierkampf der kleineren Parteien. Beide Formate hätten ihren Reiz gehabt, sagte Politikwissenschafter Uwe Jun von der Universität Trier im Dlf. Während es bei den Kanzlerkandidaten eher um ihre Kommunikationsstrategien gegangen sei, wären im Vierkampf unterschiedlichste Positionen aufeinandergeprallt, die den Wählenden sehr deutlich geworden seien.
"Auf jeden Fall sieht man, dass es nicht nur die Parteien der politischen Mitte gibt, die wir in den Triellen ja eher erleben, sondern dass wir auch Parteien haben, die andere Positionen als diese vertreten", sagte der Politologe. Bei den Wählenden sehe man eine große Volatilität und eine stärkere Auflösung von Parteibindungen. Manche machten ihre Wahlentscheidung von Personen abhängig, andere von bestimmten Themen.
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Das Interview im Wortlaut:

Josephine Schulz: Was hat Ihnen denn persönlich besser gefallen, das Triell der Kanzlerkandidaten oder dieser Vierkampf?
Uwe Jun: Beide hatten jeweils ihren Reiz, würde ich sagen. Beim Triell ging es um die Kommunikationsstrategien, wie versuchen die einzelnen Kandidaten oder die einzelne Kandidatin ihre Kommunikationsstrategie durchzubringen. Gestern ging es lebendiger zu, war ein bisschen unterhaltsamer.
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Schulz: Das Fazit vieler Beobachter war, dass dieser Vierkampf gestern wesentlich sachorientierter war, konzentrierter auf den inhaltlichen Streit um Themen war. Kann das dabei helfen, insgesamt im Wahlkampf die inhaltliche Auseinandersetzung noch mal zu schärfen?
Jun: Es hat dazu beigetragen. Wie erwartet kam es gestern zu einem Aufeinanderprallen sehr unterschiedlicher Positionen, weil wir hier drei Parteien im Parteienwettbewerb haben, die jeweils, man kann sagen, eine Polpartei im Wettbewerb sind – die FDP als diejenige, die stark marktwirtschaftliche Elemente bevorzugt, Die Linke, die stark den sozialen Ausgleich, soziale Umverteilungsmechanismen bevorzugt, und die AfD, die ja sehr stark autoritäre Werte in den Vordergrund gestellt hat. Dieser Aufeinanderprall wurde den Wählerinnen und Wählern noch mal sehr deutlich gestern Abend.

"Manchen machen ihre Wahlentscheidung von Personen abhängig"

Schulz: Sie haben auch das Gefühl, dass dieser Lagerwahlkampf, von dem gerade viel gesprochen wird, gestern in diesem Vierkampf noch mal gezeigt hat?
Jun: Ja, auf jeden Fall sieht man, dass es nicht nur die Parteien der politischen Mitte gibt, die wir in den Triellen ja eher erleben, sondern dass wir auch Parteien haben, die andere Positionen als diese vertreten und die, man kann sagen, zwar bestimmten Lagern zugerechnet werden können. Aber ich wäre da vorsichtig mit dem Lagerbegriff, weil am Ende es schwierig sein wird, Die Linke mit SPD und Grünen in einem Lager zu sehen, weil doch auch hier radikalere Positionen der Linken aufgetaucht sind – etwa das fehlende Bekenntnis zur NATO -, die einer solchen Lagerbildung eher entgegenstehen.
Schulz: Über die Frage von Koalitionen und dergleichen will ich gleich noch mal gerne mit Ihnen sprechen. Aber erst mal: Kann man sagen, dass diese "kleineren" Parteien stärker mit ihren Inhalten punkten müssen, während es bei den Parteien mit Kanzlerkandidaten mehr um die Performance geht?
Jun: Personalisierungsfragen standen jetzt bei den Parteien weniger im Vordergrund – am ehesten noch bei der FDP, aber da geht es tatsächlich darum, die Wählerinnen und die Wähler zu gewinnen mit ihren inhaltlichen, programmatischen Angeboten, und das deutlich werden zu lassen, wo man jeweils steht. Die Inszenierung gibt es allerdings auch bei den kleineren Parteien. Das darf man nicht unterschätzen. Aber sie spielt hier, eingebettet in die programmatische Diskussion, eine etwas geringere Rolle.

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Schulz: Glauben Sie, diese programmatische Diskussion kann bei Menschen tatsächlich noch mal einen Ausschlag für ihre Wahlentscheidung geben, dass beispielsweise jemand denkt, das was Christian Lindner zur Rente gesagt hat, das war mir noch nicht bewusst, hat mich aber so sehr überzeugt, dass ich jetzt die FDP wähle?
Jun: In der Tat sagen Sie es so. Das ist durchaus möglich. Wir wissen, dass manche ihre Wahlentscheidung von Personen abhängig machen, machen aber auch von bestimmten Themen. Gerade die unentschiedenen Wähler, die lassen sich dann von einzelnen Themen leiten, und welches Thema das jeweils ist, das entscheidet jeder subjektiv für sich selbst, und so wie Sie es sagen kann es sein, dass man dann sagt, bei bestimmten Themen steht mir eine Partei näher und deswegen entscheide ich mich, nachdem ich jetzt noch etwas mehr Kenntnisse von diesen Positionen habe, für eben diese Partei.

"Man müsste TV-Formate stärker themenspezifisch anordnen"

Schulz: Die sogenannten "kleinen" Parteien hatten sich ja im Vorfeld beschwert über dieses Triell-Format, waren der Meinung, dass dadurch die Aufmerksamkeit ein bisschen ungerecht verteilt wird. Finden Sie, dass sich diese Unterteilung noch begründen lässt, wenn man in den Umfragen schaut, dass Grüne, FDP und AfD eigentlich gar nicht so wahnsinnig weit auseinanderliegen? Kann man da überhaupt noch diese Unterscheidung zwischen kleinen Parteien und angeblich großen Parteien treffen?
Jun: Was wir in der Tat sehen, ist eine starke Auflösung von Parteibindungen. Wir sehen eine große Volatilität. Die Wählerschaft reagiert sehr auf einzelne Situationen, auf einzelne Momente, und die großen Parteien verlieren immer mehr an Zuspruch. Von daher müsste man sich tatsächlich Gedanken machen, ob solche TV-Duelle oder Trielle – und das ist ja immerhin schon eine Erweiterung; das ist ja schon das erste Triell – in Zukunft überhaupt noch sinnvoll sind, weil wir doch eine größere Angleichung der Parteienstärke sehen, und eine immer geringere Parteibindung, eine immer geringere Parteiidentifikation. Es ist durchaus denkbar, dass eine solche Auflösung von Duellen oder Triellen uns in der Zukunft bevorsteht.
Schulz: Spräche das dann für ein Format einer Runde mit allen Spitzenkandidaten und Spitzenkandidatinnen?
Jun: In der Tat müsste man dann sehen, wie man auf diese Veränderung des Wettbewerbs reagiert, und man müsste das vielleicht stärker themenspezifisch anordnen. Man könnte sagen, man lädt sechs oder sieben Vertreter und Vertreterinnen ein und bespricht jeweils an einzelnen Abenden einzelne Themen. Das wäre durchaus eine denkbare Möglichkeit.

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Schulz: Dadurch, dass SPD und Grüne gestern Abend vor allem gefehlt haben, war das ein eher verzerrtes Bild der politischen Landschaft – drei Parteien rechts der Mitte und dazu Die Linke. Wie wirkt sich das auf die Wahrnehmung aus?
Jun: Es hat der Linken es gestern, Frau Wissler in Person, etwas leichter gemacht, weil sie sich stärker abgrenzen konnte. Es war für die anderen drei oder besonders für FDP und CSU etwas schwieriger, weil die beiden weniger programmatisch auseinanderlagen. Dadurch ist Frau Wissler sehr stark in Streitgespräche verwickelt gewesen. Sie konnte sich aber dadurch mit ihren inhaltlichen Positionen stärker profilieren bei den Wählerinnen und Wählern, die diese Positionen bevorzugen.
Schulz: Das wird dann auch goutiert, wenn sich die kleineren Parteien mit eher extremeren Positionen nach vorne wagen?
Jun: Das ist durchaus möglich, weil das bot Frau Wissler insbesondere (Frau Weidel sicherlich auch) die Möglichkeit, sich stärker in den Vordergrund zu stellen, weil sie sich deutlicher abgehoben haben und dann in einem solchen kontroversen Gespräch es einfacher hatten, ihre Positionen deutlich zu machen, als Christian Lindner und Alexander Dobrindt gestern, die es etwas schwieriger hatten, sich zumindest voneinander abzugrenzen.

"Nähe zwischen FDP und Union gegeben"

Schulz: Haben Sie das Gefühl, die AfD profitiert in gleicher Weise wie Die Linke von so einem Format, oder ist es bei der AfD eher so, dass sie vielleicht in Schwierigkeiten kommt, wenn sie sich konkret zu Sachthemen äußern muss?
Jun: Bei der AfD sehen wir, dass Themen jetzt außerhalb von Migration und Zuwanderung ohnehin bei ihrer Wählerschaft keine zentrale Rolle spielen. Die meisten wählen die AfD aus anderen Erwägungen als inhaltlichen – von der Zuwanderung, Asyl und Migration mal abgesehen.
Schulz: Die Koalition – Sie haben das schon ein bisschen angesprochen beim Thema Lagerwahlkampf. Es wird zurzeit viel über mögliche Varianten gesprochen. Hat das gestern für Sie noch mal einen Aufschluss gegeben über wahrscheinlichere oder unwahrscheinlichere Varianten?
Jun: Wir haben gestern gesehen, dass die Nähe zwischen FDP und Union auf jeden Fall gegeben ist, und es wurde deutlich, dass es rational ist, erst mal für die FDP eine Präferenz zu Gunsten der Union zu äußern, denn das war klar: die Differenzen zwischen FDP und der Unions-Seite sind nicht allzu stark ausgeprägt.
Wir haben auf der anderen Seite aber auch gesehen, dass die Linken sich in manchen Positionen doch deutlich von dem, was wir von Olaf Scholz und Annalena Baerbock vorher im Triell gehört haben, unterscheiden, und dass dann Koalitionsbildungen zwischen diesen drei Parteien schwierig sind. Aber wir haben auch gesehen, dass die Gespräche zwischen SPD, Grünen und FDP nicht einfach werden. Auch da wurden die Differenzen noch mal, wenn man das Triell und den Vierkampf gestern sich anguckt, mehr als deutlich.

Koalitionen: "Wir sehen diesmal wenig Festlegungen"

Schulz: Die Linke bietet sich eigentlich recht offensiv für Rot-Grün-Rot an. Gestern war das Ihrer Ansicht nach aber wieder ein gegenteiliges Signal?
Jun: Man konnte gestern deutliche Differenzen spüren. Frau Wissler hat ja beispielsweise bei der Frage der NATO sich eindeutig wiederum als Gegnerin dieses Militärbündnisses bezeichnet und hat deutlichgemacht, dass zumindest der Teil, dem sie in der Partei nahesteht, einer solchen Auflösung durchaus das Wort redet und das auch möglichst schnell sehen möchte – unter Einschluss mit einer neuen Sicherheitsallianz mit Einschluss Chinas und Russlands, und das dürfte bei Grünen und SPD doch auf größtes Unverständnis stoßen.
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Schulz: Was glauben Sie, wie wichtig sind für Menschen, für Wähler solche Koalitionsaussagen oder auch Festlegungen schon im Vorhinein bei der Wahlentscheidung?
Jun: Wir sehen diesmal wenig Festlegungen. Die Parteien geben sich in der Regel bedeckt, weil sie nicht das, was man Ausschließeritis benennen möchte, nach außen kehren. Allerdings spielt die Koalitionsfrage durchaus eine wichtige Rolle. Viele Menschen haben bestimmte Präferenzen und wenn diese Präferenzen dann nicht eintreten, oder sie haben Ängste vor anderen Koalitionen, die ihnen nicht so behagen, das weckt dann durchaus die Möglichkeit, Taktisches zu wählen, und das erkennt man jetzt auch ein wenig, dass taktisches Wählen bei dem einen oder anderen eine Rolle spielt, zu Gunsten oder Ungunsten von einzelnen Parteien.
Schulz: Können von taktischem Wählen gerade die kleinen Parteien profitieren, wenn man sagt, ich möchte jetzt gerne Rot-Grün-Rot, dann wähle ich lieber die Linkspartei?
Jun: Das wäre ein Zeichen dafür, weil man ja bei SPD und Grünen... Bei den Grünen ist ja durchaus auch Jamaika drin. Das könnte so sein, dass Wechselwähler im Bereich zwischen Grünen und Linken damit deutlichmachen wollen, oder auch zwischen SPD und Linken, dass nur diese Koalition für sie in Frage kommt. Auf der anderen Seite sehen wir derzeit einen großen Zulauf zur FDP, der unter anderem auch damit erklärt werden kann, dass die FDP möglicherweise bei einer starken FDP einer Linkskoalition entgegensteht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.