Nach dem Coronavirus-Ausbruch beim Fleischkonzern Tönnies in Rheda-Wiedenbrück hat die nordrhein-westfälische Landesregierung im gesamten Kreis Gütersloh wieder strenge Schutzmaßnahmen verhängt. 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen unter Quarantäne, Schulen und Kitas wurden geschlossen. Damit hatten die Behörden versucht, die weitere Ausbreitung des Infektionsherdes Fleischfabrik Tönnies einzudämmen.
Auch ein sogenannter Shutdown, eine erneute strikte Einschränkung des öffentlichen Lebens hatte NRW-Ministerpräsident Laschet am Wochenende nicht ausgeschlossen. Nachdem gestern weitere positive Tests bekannt wurden, hat die Landesregierung über Konsequenzen beraten.
Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen, macht beim zuständigen Regierungschef des bevölkerungsreichsten Bundesland eine "Krisenlotsenhaftigkeit" aus. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, der auch Bundesvorsitzender der CDU werden will, greife "mit der Kraft des Dezentralen" hier jetzt rigoros durch, sagte Korte im Dlf.
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: Die Aachener Zeitung titelt einen Artikel mit der Überschrift "Corona testet Laschet". Ist das eine Überschrift, mit der Sie was anfangen können?
Karl-Rudolf Korte: Es sieht so aus, aber es entspricht eigentlich bisher durchaus seiner Krisenlotsenhaftigkeit, mit Unsicherheit umzugehen als Prinzip des politischen Entscheidens, und da sind wir wieder ein Stück weiter. Ich sehe nicht, dass er seine Linie verlässt, tastend sich auch dem Virus zu nähern, und das Virus lässt sich weder erpressen, noch hat es eine eigene Agenda. Insofern sehe ich, dass er mit der Kraft des Dezentralen hier jetzt rigoros offenbar durchgreift zu alten Mustern, die am Anfang uns im März ja alle betrafen.
"Sehe hier keinen neuen veränderten Laschet"
Heckmann: Aber er war ja einer der ersten, der am lautesten auch dazu aufgerufen hat, die Beschränkungen aufzuheben, auch mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung. Das könnte ihm jetzt auf die Füße fallen.
Korte: Sehe ich nicht so, sondern es ist ja eher ein Krisenmoment, das er für sich nutzt, könnte man sagen, wie man Resilienz in dieser Krise aufbaut, in der Krise zu lernen. Wir wissen mehr, als es vor ein paar Wochen der Fall war. Es ist transparent, lokalisiert auf einen bestimmten Bereich. Es werden Lernmechanismen deutlich. Er erklärt, er begründet anders. Ich sehe jetzt nicht grundsätzlich hier einen Nachteil.
Wie er es macht ist eine Form von vielleicht Realitätsdemut eher, was ihn ein bisschen unterscheidet von seinem anderen Agieren vorher, aber vom Duktus her sehe ich hier keinen neuen veränderten Laschet. Und wir müssen uns immer, gerade im Vergleich zu Söder, klarmachen: Er regiert mit einer FDP zusammen, die von Anfang an als Koalitionspartner auch stärker freiheitsverliebt und öffnungsinteressiert war, als das bei Söder die Freien Wähler sind, mit denen er in der Koalition vereint ist.
"Krisenmoment von Laschet"
Heckmann: Das heißt, er steht an dem Punkt stärker unter Druck als Söder?
Korte: Ich habe den Eindruck, dass die Form des liberalen Auseinandersetzens mit Grundrechtseinschränkungen durchaus auch das Krisenmoment von Laschet prägt. Er hat ein besonderes Verhältnis zur Vorsicht. Das hat sich nicht verändert. Aber er ist auch ein bisschen ein Gefühlsmanager für mutige Aktionen und ich glaube, er hat einfach hier starke Unterstützung auch von Seiten der FDP.
Heckmann: Laschet ist ja bisher in den letzten Tagen davor zurückgescheut, einen kompletten Shutdown von Rheda-Wiedenbrück oder des Kreises anzuordnen, obwohl das viele gefordert hatten - wohl auch aus Sorge vor der Wut der ansässigen Bevölkerung. Jetzt tut er es doch. Denken Sie, dass sich das der Bevölkerung vermittelt?
Korte: Das ist vielleicht die größte Herausforderung, Hermeneut der neuen Wut zu werden. Wie kann man mit den Wutvorräten, die sich ansammeln, umgehen? Politik und gerade Demokratie als offene Gesellschaft muss sich hier viel mehr begründen, erklären und auch die Befristung erläutern, als das bislang der Fall ist. Sonst schwappen diese Wutvorräte über, zumal es ja hier nicht irgendwie eine diffuse Angst vor etwas gibt, sondern etwas sehr Konkretes. Hier ist Tönnies mit einer Firma und die Fleischindustrie als solches zu lokalisieren als Schuldige. Insofern steht der Schuldige fest.
Dass die anderen jetzt darunter leiden, das ist das Höchstmaß der Politik, die gefordert ist, das jetzt zu erklären, weil das ganze Konzept der Pandemie-Bekämpfung funktioniert nicht durch Anordnung, Verordnung, sondern nur, dass Tausende mitmachen und sich praktisch aufklärerisch diesem Duktus unterwerfen, und das hat uns ja bisher von anderen Ländern auch positiv unterschieden, dass wir ja nicht nur obrigkeitsstaatlich gefolgt sind, sondern dass wir auch eingesehen haben, dass bestimmte Mechanismen, die jeder heute herunterbeten kann, offenbar funktionieren.
Laschet "vielleicht nicht so gelassen"
Heckmann: Da gibt es eine Menge Erklärungsbedarf von Seiten der handelnden Politiker, nämlich gerade - Sie haben es angesprochen - was den Punkt der Werkverträge in der Fleischindustrie angeht. Die Bevölkerung, viele zumindest dürften der Meinung sein, es hat sich nichts geändert.
Korte: Ja. Das Virus hat unglaublich aufklärerische Wirkung. Das Virus zeigt die Reparaturbedürftigkeit unserer Gesellschaft. Deswegen wird das Postpandemische nie mehr wie das Präpandemische. Wir werden uns verändern, auch durch das was wir jetzt viel klarer an Ungleichheiten, an Ungerechtigkeiten, an Fehlverhalten erkennen. Insofern ist die Kraft im Moment, was der Virus auslöst, auch, was am Ende positiv gesehen werden kann, dass man jetzt endlich diese Missstände aufgreift und verändert. Die Bundespolitik ist ja genau auf dem Weg.
Heckmann: Herr Korte, Sie haben dem Ministerpräsidenten Laschet ein recht positives Zwischenzeugnis zumindest ausgestellt, was seine Krisenpolitik angeht. Aber das schützt ihn offenbar nicht davor, das eine oder andere Mal möglicherweise doch daneben zu liegen. Am Wochenende hatte er ja gesagt, das Virus hätten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei ihrer Rückkehr aus Rumänien und Bulgarien nach Nordrhein-Westfalen mitgebracht, hat dafür aber keine Belege geliefert. Er hat es auch nicht zurückgenommen. Aber er hat den Vorwurf zurückgewiesen, es gehe ihm um Schuldzuweisungen gegenüber hier arbeitenden Menschen aus dem Ausland. Was sagt das aber über seine Krisenfestigkeit aus?
Korte: Das sagt aus, dass er am Wochenende vielleicht nicht so gelassen war, wie er sonst sein sollte, und ein Krisenlotse muss ja besonnen und entschlossen agieren und muss auch Gelassenheit ausstrahlen, dass er die Sache im Griff hat. Das hat er mit diesen Sätzen nicht dokumentiert, die er dann beim Rausgehen herausgerufen hat, und heute hat er das ja noch mal relativiert in der Pressekonferenz, weil er sagt, es fehlt ja dazu auch Wissen, wie es praktisch zu dieser sprunghaften Verbreitung bei Tönnies gekommen ist, die ja über ein paar Wochen sich offenbar aufgebaut hat, denn es wurde ja nach dem ersten Fleischindustrie-Vorfall in Niedersachsen auch bei Tönnies getestet und da war ja nichts. Insofern hat er hier Gelassenheit vermissen lassen.
Heckmann: Aber kann sich, Herr Korte, ein potenzieller Kanzlerkandidat, ein potenzieller CDU-Vorsitzender so eine Falschinformation leisten?
Korte: Wir sind ja hier mit Menschen konfrontiert, die sich entwickeln, die sich verändern, die in der Krise auch lernen. Ich fände es eher unmenschlich, wie ein Sprachautomat zu wirken, und dass da nie etwas verunglückt, halte ich jetzt für unmenschlich geradezu.
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