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Politologe Patzelt zum Asylkompromiss
"Jetzt ist dieses Denkverbot nicht mehr da"

Die CSU habe mit dem Asylkompromiss einen neuen Akzent in der Migrationspolitik setzen können, sagte der Politologe Werner Patzelt im Dlf. Bislang habe es ein "Denkverbot" bei der Zurückweisung von Flüchtlingen gegeben. Die CSU habe im Koalitionsstreit die Position der Bevölkerungsmehrheit vertreten.

Werner Patzelt im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Der Politologe Werner Patzelt auf der Leipziger Buchmesse 2018
    Ein nennenswerter Teil der Bevölkerung habe sich von den etablierten Parteien entfremdet, so der Politologe Werner Patzelt. Grund dafür ist seiner Ansicht nach die Migrationspolitik. (imago)
    Martin Zagatta: War dieses Asylpaket den so heftig ausgetragenen Krach zwischen CSU und CDU überhaupt wert? - Werner Patzelt ist Politikwissenschaftler an der TU in Dresden und kann uns das einschätzen. Guten Tag, Herr Patzelt!
    Werner Patzelt: Guten Tag.
    "Außengrenzen dichtmachen"
    Zagatta: Herr Patzelt, in Österreich ist Horst Seehofer gestern abgeblitzt. Es wird keine Zurückweisungen an der Grenze geben, keine Transitzentren, stattdessen Regelungen nicht für ganz Deutschland, sondern nur für Bayern, verkürzte Verfahren, die höchstens fünf Menschen am Tag betreffen sollen. Ist die CSU grandios gescheitert?
    Patzelt: Das mögen manche so sehen und so darstellen, um durch die entsprechende Definition der erreichten Situation eine Art Sieg für sich selbst zuzuschreiben. In der Praxis scheint es mir aber so zu sein, dass auf eine mühsame Weise ein erster Schritt in ein bislang verriegeltes Gelände gelungen ist.
    Schauen Sie, die Vorstellung, dass Europa tatsächlich offen ist für alle, denen es auf der Welt schlechtgeht, die wird jetzt auch kaum mehr vertreten. Bislang war es ein Denkverbot, dass Deutschland jemanden überhaupt zurückweisen könnte. Jetzt ist dieses Denkverbot nicht mehr da und es fangen an die Schritte dorthin, wo man bestimmt in ein, zwei Jahren sein wird, nämlich Außengrenzen dichtmachen und so viele Schengen-Kontrollen oder Kontrollen im Schengen-Raum wieder einzuführen, bis die jeweils sich wandelnden Migrationswege nach Europa verstellt sind.
    Der berühmte Domino-Effekt ist ja genau das, was der strategische Zweck dieser Politik ist: Kontrolliert Deutschland, wird Österreich stärker an der slowenischen und der italienischen Grenze kontrollieren, Italien hat schon erklärt, dass es keine Bootsflüchtlinge mehr aufnehmen will, so dass sich irgendwann das Problem auf handhabbare Dimensionen reduziert. Nur kann man das programmatisch so schlecht sagen, wenn man die offenherzige Migrationspolitik vertreten hat, wie es der größte Teil der Union und ohnehin der SPD und Grünen und der deutschen Öffentlichkeit getan hat. - Das ist der Kontext, in dem nun diese Regierungskrise der letzten Tage öffentlich erörtert wird.
    CSU kann in Bayern mit dem Ergebnis punkten
    Zagatta: In diesem Kontext zielt meine Frage auf die Sicht der CSU ab. Horst Seehofer war ja höchst unzufrieden mit dem, was auf dem EU-Gipfel beschlossen wurde, was Sie uns jetzt auch so noch mal gesagt haben, dass es darauf hinausläuft, die Außengrenzen der EU dichtzumachen. Jetzt ist aber das, was er gefordert hat, es gibt keine Zurückweisungen an der Grenze mit Österreich, es gibt keine Transitzentren, es soll allenfalls um fünf Migranten am Tag gehen, jetzt zielt die CSU ja auf Stammtische. Aber wie viele Maß Bier muss man getrunken haben, um das gut zu finden?
    Patzelt: Schauen Sie, das Wesentliche ist nicht das quantitative Problem. Denn wenn es darum gegangen wäre, dann hätte auch die CDU sich diesen Streit sparen können. Denn bloß wenn fünf oder sechs Leute am Tag nach Österreich zurückgeschickt werden, stürzt das weder Österreich in eine innenpolitische Krise, noch schafft das diplomatische Verwicklungen.
    Das Wesentliche war an dieser Stelle der Symbolstreit: Schafft es die CSU, einen neuen Akzent in der Migrationspolitik zu setzen? Und auch das wäre noch schadlos gewesen, hätte nicht die Kanzlerin die Richtlinienkompetenz ins Spiel gebracht und das nicht gegenüber einem hilflosen Norbert Röttgen, wie vor langer Zeit, den sie dann feuern konnte, weil er nicht mehr als Landesvorsitzender war, sondern gegenüber dem Chef einer selbständigen Partei, die obendrein im Oktober um ihr bundespolitisches Überleben kämpft. Das hat die Sache explodieren lassen. Der Anlass ist wie so häufig ein sehr geringfügiger, ein quantitativ geringfügiger gewesen.
    Zagatta: Wie sehen Sie jetzt die Auswirkungen, beispielsweise auf die Landtagswahl in Bayern? Die Gegner der CSU oder von Horst Seehofer, die werden jetzt sagen, er hat wieder seinem Spitznamen Horst Drehhofer alle Ehre gemacht.
    Patzelt: Ja. Das ist jetzt genau der mediale Kampf, der ausgetragen wird: Wer definiert die Situation wie? Sollte es die CSU schaffen, die Situation zumindest in Bayern so zu definieren, dass sie gegen den ausdrücklichen Widerstand der Kanzlerin eine grundsätzliche Neuakzentuierung der Migrationspolitik durchgesetzt hätte, dann kann ihr das gut bekommen. Schafft sie das nicht, dann wird ihr das schlecht bekommen. Und ob das gelingt oder nicht gelingt, das scheint mir derzeit noch eine offene Frage. Wir werden in den Medien über das Thema berichten müssen und die demoskopischen Ergebnisse aus Bayern.
    Migrationspolitik als "Kern der Unzufriedenheit"
    Zagatta: Da gibt es erste Umfragen, die jetzt sagen, 78 Prozent sind unzufrieden mit dieser Regierung. Eine deutliche Mehrheit der Deutschen findet, dass die Bundesregierung ihren Job nicht ordentlich macht. Das meldet der ARD-Deutschlandtrend. Ist das das große Ergebnis dieser Regierungskrise, dieses so ungemein heftig ausgetragenen Streits, jetzt eine ungemein große Politikverdrossenheit?
    Patzelt: Na ja, ohne eine große Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien wäre das letzte Bundestagswahlergebnis genauso wenig zu erklären wie die Ergebnisse der Protestwahlen in den Landtagen, in denen die AfD zweistellig eingerückt ist. Das heißt, es gibt ohnehin schon eine große Unzufriedenheit, und der Kern der Unzufriedenheit scheint mir tatsächlich die Migrationspolitik zu sein, denn hier vertritt eine Mehrheit der Deutschen genau jene Positionen, welche die CSU in dieser Koalitionskrise auch vertreten hat, während der größte Teil der deutschen politischen Klasse, CDU, SPD, Grüne, plus der größte Teil der medialen Öffentlichkeit genau den von der Bevölkerungsmehrheit gewünschten Kurs für falsch erklärt. Das ist die Hintergrundspannung, die sich ganz viel an Einzelkriegsschauplätzen entlädt.
    Zagatta: Wenn das jetzt so läuft, die Politik, so verstehe ich Sie, jetzt realistischer wird, kommt das der Union beziehungsweise der CSU zugute, oder wird der ganz große Gewinner der AfD sein? Darauf deuten ja Umfragen auch hin.
    Patzelt: Es ist so, dass manchmal auch die richtigen Entscheidungen zu spät kommen. Der Alkoholkranke, der zu spät vom Trinken ablässt, wird seine Leber nicht mehr sanieren. Und nachdem die politischen Parteien, die das Land jahrzehntelang erfolgreich gestaltet haben, auf dem wichtigen Feld der Migrations- und Integrationspolitik lange Zeit einfach nicht erkennen wollten, dass das zu einem innenpolitischen Zentralthema wird, wo ein nennenswerter Teil der Bevölkerung sich der politischen Klasse entfremdet.
    Weil das so ist, wird man wahrscheinlich nach den kommenden Landtagswahlen einzusehen haben, dass gegen die AfD im Grunde kein Kraut mehr gewachsen ist, und man sich wohl darauf hoffend verlassen muss, dass die AfD sich selbst durch einen rechtsdemagogischen Kurs in den Augen vieler Leute unglaubwürdig macht. Aber die Zeit, wo man ihr durch das Wegnehmen von Themen die politische Existenz hätte verkleinern können, die, fürchte ich, ist inzwischen vorbeigegangen.
    Merkel könnte bald Schengen-Kontrollen befürworten
    Zagatta: Ist die Regierung noch in der Lage, glaubhafte Politik zu betreiben? Wenn Horst Seehofer - er hat sich ja deutlich geäußert - gesagt haben soll, mit dieser Frau, mit Frau Merkel kann ich nicht mehr arbeiten, dann Äußerungen in der Süddeutschen Zeitung, wonach er sich von so einer Bundeskanzlerin, die er ins Amt gebracht hat, nicht entlassen lässt, wie soll das noch weitergehen? Wie lang kann die Regierung noch halten?
    Patzelt: Das ist eine offene Frage. Die Asyl- und Migrationsthematik, die birgt ein Feuer nach dem anderen, das jederzeit zum Flächenbrand werden kann. Auch die SPD muss irgendwann hier den Konflikt suchen, weil sie sonst nämlich in der öffentlichen Wahrnehmung auf diesem zentralen Politikfeld untergeht.
    Persönlich zerrüttete Beziehungen freilich müssen das Regieren noch nicht unmöglich machen, denn meistens geht das Interesse daran, erreichte Machtpositionen zu sichern, so weit, dass man persönliche Zwiste hintan stellt, und falls die Kanzlerin irgendwie auch bemerken sollte, dass ihre immer restriktiver werdende Migrationspolitik tatsächlich die richtige Richtung ist, die sie eingeschlagen hat, und dass sie keine Scheu haben muss, das dann bis zum Ende auch durchzuziehen - sollte die Kanzlerin bemerken, dass sie auf europäischer Ebene die Schließung der Außengrenze der Europäischen Union, die Befürwortung von Schengen-Kontrollen, um die Binnenmigration, die Sekundärmigration zu stoppen, dass sie hier politisch punkten könnte, dann halte ich es nicht einmal für ausgeschlossen, dass Angela Merkel nach so vielen Haarnadelkurven auch noch diese nimmt.
    Zagatta: Werner Patzelt, Politikwissenschaftler an der TU Dresden. Danke für das Gespräch.
    Patzelt: Gern geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.