Beim Parteitag der AfD trat die Spaltung der Partei offen zu Tage. Parteichef Jörg Meuthen hatte in einer Brandrede das Auftreten seiner eigenen Partei als "aggressiv, derb und enthemmt" bezeichnet. Meuthen kritisierte auch den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Alexander Gauland, der im Bundestag etwa von einer "Corona-Diktatur" gesprochen hatte.
Meuthens Attacke gegen die radikaleren Kräfte innerhalb der Partei, allen voran den vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuften früheren "Flügel" um Björn Höcke, sei auch Kalkül gewesen, sagte Wolfgang Schröder, Politikwissenschaftler von der Universität Kassel im Deutschlandfunk. Meuthen wolle die Strategie fortsetzen, die AfD perspektivisch als eine Partei rechts von der Union zu positionieren, die aber auch langfristig eine Rolle spielen soll. Dazu brauche es die Disziplinierung radikaler Kräfte, auch durch den Verfassungsschutz, und eine Abkehr von Tabubrüchen oder der Unterstützung von radikalen Gegnern der Corona-Maßnahmen.
Nach Ansicht von Schröder ein durchaus riskantes Manöver, denn die Kombination zwischen gemäßigten und radikalen Kräften habe in der vergangenen Jahren den Erfolg der AfD ausgemacht.
Ob die Strategiewende von Meuthen, der in der Vergangenheit auch extremere Positionen vertreten hatte, glaubhaft ist oder nur den sinkenden Unterstützungswerten für die AfD geschuldet, lasse sich nach Ansicht des Politologen nur schwer einschätzen. Doch das Tischtuch zwischen den handelnden Personen der verschiedenen Lager sei in jedem Fall zerschnitten, so Schröder. Es gebe keine wirkliche Verbindung, die über einige Formelkompromisse hinausreicht. Im Bundesvorstand gebe es schon jetzt eine Mehrheit für Meuthens Kurs. Bei einem möglichen Showdown, einer Kampfabstimmung zwischen den Parteiflügeln über die künftige Ausrichtung der Partei, könne Meuthen auch auf die Mehrheit der westdeutschen Landesverbände vertrauen.
Das Interview im Wortlaut:
Barenberg: Ein Parteichef wendet sich gegen Teile der eigenen Partei, unter anderem auch gegen den Ehrenvorsitzenden und den Fraktionschef im Bundestag. Wie kalkuliert war diese Brandrede von Jörg Meuthen, die wir erlebt haben?
Schröder: Ich glaube, die war ziemlich kalkuliert, weil Meuthen ja in seiner Ausrichtung, in seiner Strategie eine Wende genommen hat im letzten Jahr, als ihm dämmerte, dass er mit dem Verfassungsschutz einen Mitspieler hat, der eventuell dazu beitragen könnte, die eigene Klientel zu disziplinieren und aus der AfD eine perspektivisch rechts von der Union angesiedelte Partei zu machen, die auch langfristig im Parteiensystem eine Rolle spielen könnte. Also es ist kein situatives Ergebnis, sondern das war von langer Hand angelegt, und der Ausgangspunkt für ihn sind die Ereignisse im Bundestag, die zurückgehende Unterstützung bei den Umfragen und nicht zuletzt der starke Bezug der AfD auf die radikalen Teile der Corona-Bewegung.
Sinkende Unterstützung für AfD in der Corona-Krise
Barenberg: Wie riskant war dieses Manöver?
Schröder: Außerordentlich riskant, weil man muss sehen, dass der Erfolg der AfD in den zurückliegenden Jahren genau diese Kombination zwischen gemäßigten und radikalen Kräften ist. Die gemäßigten Kräfte sorgen dafür, dass es eine Orientierung innerhalb des parlamentarischen Reigens gibt, und die radikaleren Kräfte versuchen, durch Tabubrüche, durch Aufmerksamkeit und durch eine direkte Bezugnahme auf die Straße eine Dynamik und Mobilisierung hinzubekommen, die die gemäßigten nicht hinbekommen können. Zusammen können sie durchaus, wenn sie geschickt auftreten und wenn sie kluge Themen spielen, auf 15 Prozent kommen. Wenn sie alleine marschieren, wird der radikale Teil kaum über fünf Prozent kommen; der gemäßigte könnte knapp darüber kommen. Auf jeden Fall: die herausragenden Ergebnisse der Vergangenheit wären damit vorbei.
Barenberg: Aber mein Eindruck war zumindest, dass er dieses gemeinsame Handeln, jeder auf seinem Feld, in Frage stellt. Wie groß ist denn die Gefahr, dass der Radikalismus der Aktivisten, die wir zuletzt im Bundestag erlebt haben, und die Brücken, die da geschlagen werden an den rechten Rand, dass das tatsächlich immer mehr Wählerinnen und Wähler abschreckt?
Schröder: Na ja. Das ist ja schon passiert. Man muss ja sehen: Durch die Orientierung der AfD in der Corona-Krise ist die Unterstützung um fast 40 Prozent zurückgegangen. Die Mehrheit selbst der AfD-Wähler ist der Auffassung, dass der Kurs der Regierung in der Corona-Bekämpfung im Großen und Ganzen zutreffend ist. Wenn man da zu sehr in die verschwörungstheoretischen Kreise hineinrührt, dann ist die Gefahr, dass man potenzielle Unterstützung vergrätzt, und das ist hier passiert, weil die Sehnsucht der AfD ist natürlich, dass sie ein fliegendes Thema bekommen wie seinerzeit in der Flüchtlingskrise, und die Corona-Krise ist anders beschaffen und die lässt sich nicht so einfach im Sinne einer umfassenden Mobilisierung instrumentalisieren.
"Tischtuch zerschnitten" zwischen AfD-Spitzen
Barenberg: Nun hat Jörg Meuthen viele Jahre lang selber radikale Positionen und auch Provokationen unterstützt. Er hat den Flügel seinerzeit unterstützt. Ist das jetzt die Einsicht, dass er das jetzt anders sieht, oder ist das nur eine Taktik?
Schröder: Das kann ich schlecht einschätzen. Was man aber festmachen kann ist, dass seit letztem Jahr bei ihm eine andere Aufstellung existiert. Zweitens ist das Tischtuch zwischen den handelnden Personen einfach zerschnitten: zwischen Meuthen und Höcke, zwischen Meuthen und Gauland gibt es keine wirkliche Verbindung, die über einige Formelkompromisse hinausreicht. Insofern muss er natürlich schon mittelfristig schauen, wo er bleibt, und die Aufstellung gestern ist ja so gewesen, dass die ostdeutschen Landesverbände ausdrücklich gegen Meuthen aufbegehrt haben, während die Spitzen der westdeutschen Landesverbände allesamt auf der Seite von Meuthen sind. Insofern war für mich auch überraschend gewesen, wie gut organisiert die Unterstützer von Meuthen gestern aufgetreten sind. Entgegen der von Ihnen anmoderierten Zusammenfassung des Parteitages war die Mehrheit der Stimmen, die sich gestern geäußert haben, pro Meuthen, und es waren auch die einflussreichen Leute. Weil man muss sehen: Die ostdeutschen Landesverbände bringen nicht mehr wie 15 Prozent der Mitglieder innerhalb der AfD zum Schwingen. Gleichzeitig haben sie natürlich eine große Aufmerksamkeit durch Tabubrüche und ihre Wahlergebnisse. Aber wenn es zum Schwur kommt, haben sie im Hinblick auf die Richtungsorientierung der AfD keine Chance. Das zeigt sich auch bei den Personalwahlen, die durchgeführt worden sind, die ein deutlicher Sieg für Meuthen gewesen sind. Das heißt, im Bundesvorstand gibt es eine übergroße Mehrheit für den Meuthen-Kurs.
Schröder: "Zwei Parteien in einer"
Barenberg: Bei Bernd Lucke und Frauke Petry war es ja damals in vergleichbarer Situation so. Da haben sich auch beide irgendwann gegen allzu viel Radikalität am rechten Rand gewandt und fanden sich dann alleine wieder bei Parteitagen, wurden abgewählt, mussten die Partei verlassen. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Jörg Meuthen da sehr viel erfolgreicher und chancenreicher unterwegs?
Schröder: Ausdrücklich, weil er hat auf seiner Seite die großen Landesverbände im Westen, er hat auf seiner Seite die Mehrheit der Medien, er hat auf seiner Seite den Verfassungsschutz und er hat auf seiner Seite die Trostlosigkeit und Orientierungslosigkeit der rechten Truppen, die kein übergreifendes Bündnis mehr hinbekommen würden, wenn sie sich von Meuthen beziehungsweise von diesem gemäßigten Kurs ganz dispensieren würden.
Barenberg: Jetzt haben Sie gesagt, das funktioniert ganz gut, und Jörg Meuthen ist das Risiko eingegangen und hat quasi gewonnen. Muss es am Ende aber doch irgendwann diesen Showdown geben, der gestern ja vertagt worden ist, diesen Showdown zwischen den beiden Lagern? Ist der irgendwann unvermeidbar?
Schröder: Ja, würde man eigentlich sagen. Es sind zwei Parteien in einer. Ob es diesen Showdown geben muss, bin ich offen, bin ich kritisch, weil bisher gab es ihn nicht, obwohl diese Situation immer da war, und wenn es ihn dann gegeben hat, wie 2015 in Essen und nach der Verabschiedung von Frauke Petry, dann gab es andere Truppen, die stark, einflussreich und integrationsfähig gewesen sind. Aber wir sehen auf der anderen Seite des gemäßigten Lagers augenblicklich keine Truppen, die die Integrationsfähigkeit aufbauen könnten, um in diesen gemäßigteren Teil mit einer Führungsrolle hineingehen zu können.
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