Sandra Schulz: Die SPD werde, so hieß es wörtlich, konstruktiv an einem Ausweg aus dieser verfahrenen Situation mitarbeiten. Das war die Mitteilung der Parteispitze nach vielen, vielen Sitzungsstunden heute Nacht. Die relativiert die Festlegung der Sozialdemokraten vom Montag natürlich ganz deutlich, die SPD würde Neuwahlen nicht scheuen. Der Druck auf die Sozialdemokraten, der hatte ja deutlich zugenommen im Laufe dieser Woche, und die Kritik an ihrer kategorischen Ablehnung einer Neuauflage von Schwarz-Rot, die war auch gewachsen. Aber was die Sozialdemokraten jetzt wollen oder was sie sich vorstellen können, das bleibt nach wie vor unübersichtlich.
Wir wollen den nächsten Anlauf nehmen, diese komplizierte Situation in Berlin zu strukturieren oder es zumindest zu probieren. Dabei hilft uns jetzt der Politikwissenschaftler Martin Florack von der Universität Duisburg-Essen. Er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Tag!
Martin Florack: Hallo, Frau Schulz.
Schulz: Die SPD steht jetzt ja wieder im Fokus wie keine andere Partei, und das ist – wir haben es deutlich gehört – nicht im positiven Sinne gemeint. Wie haben die Sozialdemokraten das wieder geschafft?
Florack: Ja, da muss man sich tatsächlich verwundert ein bisschen die Augen reiben. Denn sie waren ja bisher nicht diejenigen, die diese Situation herbeigeführt haben. Das macht in gewisser Weise auch die strategische Leerstelle bei der SPD deutlich, dass ausgerechnet sie jetzt am Pranger steht, und auch der mediale Druck, der in den letzten Tagen aufgekommen ist, gar nicht kanalisiert werden konnte. Es ist der Partei an keiner Stelle gelungen, diesem medialen Druck etwas entgegenzusetzen, sich zu immunisieren seit Montag, und man hat fast das Gefühl, es wäre die SPD jetzt alleine für diese Situation verantwortlich in Berlin.
Der SPD fehle ein strategisches Zentrum
Schulz: Martin Schulz hat das gemacht, was von ihm ja schon häufig gefordert wurde. Er hat klare Kante gezeigt am Montag. Warum war das jetzt auch wieder falsch?
Florack: Ja, weil klare Kante nicht immer der richtige Weg ist, sondern in einer solchen Gemengelage hätte man zumindest einen Plan B entwickeln müssen oder zumindest in Szenarios denken müssen. Denn dass die Jamaika-Koalition jetzt die natürliche Koalition gewesen wäre, das war ja von vornherein nicht unbedingt zu erwarten, und dass das schwierige Gespräche würden, wo man sich auch auf ein Scheitern vorbereiten muss, das hätte die SPD auch vorher wissen können.
Das ist in gewisser Weise auch der Hinweis darauf, dass ein strategisches Zentrum bei der SPD fehlt, aber nicht erst seit Martin Schulz Parteivorsitzender ist, sondern schon vorher, und er in gewisser Weise jetzt dafür natürlich persönlich verantwortlich gemacht wird, aber er es auch ein bisschen ausbaden muss, es ihm auf der anderen Seite aber auch nicht gelungen ist, seit er Parteivorsitzender ist, daran etwas zu ändern und die Partei auch wieder strategiefähig zu machen.
Bislang kein einziger Satz, was die SPD erreichen will
Schulz: Das ist jetzt natürlich auch einer der Gründe, warum die SPD so stark im Fokus steht, dass die Einlassungen da jetzt so widersprüchlich sind, dass man nicht den Eindruck hat, ach so, das ist die Position. Sind Sie daraus denn bisher schon schlau geworden, was wollen die Sozialdemokraten jetzt?
Florack: Was extrem interessant ist, ist, dass über eine Sache, die ja für Koalitionsgespräche nicht ganz nebensächlich ist, noch gar nicht gesprochen worden ist, nämlich für welche Positionen die SPD eigentlich kämpfen würde und mit welcher Positionierung sie in die Gespräche jetzt eintritt. Es hätte ja auch die Möglichkeit bestanden, jetzt aus SPD-Sicht zu sagen, wir markieren drei, vier oder fünf zentrale Punkte und wir reden über Inhalte, und wer diese Inhalte bereit ist mitzutragen, der ist gerne eingeladen, auf uns zuzukommen. Das war ja auch die Haltung, die Martin Schulz vor der Bundestagswahl eingenommen hat.
Das hätte zwei Wege eröffnet. Es hätte einerseits ein Signal gesendet, um vielleicht am Ende doch in die Große Koalition eintreten zu können, weil man wichtige Punkte durchsetzt, oder aber es wäre das taktische Momentum gewesen, es der Union in die Schuhe zu schieben, dass diese Koalition nicht zustande kommt, weil die Union nicht bereit ist, so weit auf die SPD zuzukommen. Stattdessen haben wir keinen einzigen Satz dazu gehört, was eigentlich die SPD erreichen will bei diesen Gesprächen, und das muss sie einfach liefern, damit sie überhaupt politikfähig in diesen Gesprächen sein kann. So macht man es Angela Merkel extrem leicht, sich zurückzuziehen und im Schatten zu operieren und nicht in die Schusslinie zu geraten.
Minderheitsregierung hätte für SPD "nur Nachteile"
Schulz: Das heißt, dieses Szenario, das jetzt mehr und mehr diskutiert wird, einer möglichen Minderheitsregierung, das sehen Sie dann auch noch nicht mal als gesichtswahrende Möglichkeit oder Lösung für die Sozialdemokraten?
Florack: Es hätte in gewisser Weise nur Nachteile für die SPD. Denn man muss einerseits eine Linie abstimmen mit der Union über eine Tolerierung. Denn ein solches Bündnis, wenn es jetzt mehr sein soll als nur die Übergangsphase bis zur Vertrauensfrage der Kanzlerin, um dann Neuwahlen zu organisieren, müsste sich ja auch auf eine innerliche Programmatik oder zumindest auf eine Verständigung darauf stützen, was man denn in diesen Monaten oder Jahren erreichen möchte.
Man hat aber überhaupt keine Möglichkeit, dann mitzusteuern, außer im parlamentarischen Betrieb. Dass das jetzt der Ausweg sein sollte, das kann ich nicht erkennen. Die SPD gibt damit gewissermaßen Mitsprachemöglichkeiten und Zugriff ab, wird aber trotzdem in Mithaftung dafür genommen, dass Angela Merkels Kanzlerschaft fortgesetzt werden könnte.
Wie monolithisch die CDU stehe, bleibe abzuwarten
Schulz: Wenn wir den Blick jetzt zur CDU drehen, von der jetzt auch schon die Rede war. Wie ist es möglich, dass die Christdemokraten nach dieser Schlappe, die Angela Merkel, ihre Chefin da jetzt Ende der Woche eingefahren hat, diese gescheiterten Jamaika-Verhandlungen nach diesem wochenlangen Gezerre, wie kommt es, dass die CDU jetzt so monolithisch dasteht?
Florack: Das bleibt ja noch abzuwarten, wie monolithisch das ist, denn spätestens wenn tatsächlich Gespräche über eine mögliche Große Koalition aufgenommen werden, muss die Kanzlerin ja wieder Farbe bekennen und muss ja auch die Union deutlich machen, welche Positionen sie eigentlich hat. Sie hat bisher davon profitiert, dass die Konzentration auf den anderen Partnern lag und auch das Augenmerk sich nicht so sehr auf die CDU gerichtet hat.
Das lag aber nicht an der CDU, aus meiner Sicht, sondern eher an der Performance der anderen Parteien. Die CSU mit ihrem Schauspiel, was sie in München aufführt, macht ja jetzt auch Horst Seehofer nicht zu einem starken Verhandlungsakteur, und ansonsten hat sich das auf die Frage konzentriert, wie FDP und Grüne zueinander kommen. Aber es ist immer unklar geblieben, was eigentlich die CDU erreichen will, und dass die Kanzlerin möglicherweise doch ein bisschen geschwächt ist und es nicht so einfach haben wird, ihre Truppen zu sammeln, machen ja zum Teil auch kleinere Fragen deutlich.
Ich will nur mal an die Frage Vorsitz der Konrad-Adenauer-Stiftung erinnern, wo zumindest Annette Schavan, die erst die Wunschkandidatin der Kanzlerin war, nicht durchsetzbar war und jetzt Norbert Lammert der zweite Kandidat ist, der da möglicherweise benannt wird. Das macht schon deutlich, dass auch ein Machtverlust der Kanzlerin zu spüren ist.
Alternativen zu Merkel gäben sich nicht zu erkennen
Schulz: Das sind sicherlich Punkte, an denen ein Machtkampf zu erkennen ist. Aber wie kommen Sie darauf, dass die Kanzlerin jetzt inhaltlich eine Linie finden muss oder inhaltlich Farbe bekennen muss? Wir haben doch die Situation, dass die Kanzlerin eigentlich einmal mehr nur sagen musste, ich stehe als Kanzlerkandidatin im Falle von Neuwahlen wieder zur Verfügung, und schon verfällt ihre Partei in eine, ich weiß jetzt nicht, ob man es Schockstarre nennen kann, aber jedenfalls in eine Starre.
Florack: Das liegt aber vermutlich eher daran, dass es einfach keine Alternative im Moment zu ihr gibt, oder diejenigen, die sich für Alternativen halten, das nicht zu erkennen geben. Die CSU hat sich ja auch nur hinter Angela Merkel geschart, weil das auch für Horst Seehofer im Moment die Lebensversicherung ist, möglicherweise ein oder zwei Ämter weiterhin zu bekleiden. Es ist eher die Position der Schwäche und nicht so sehr der Stärke.
Und Frau Merkel hat ja auch im Vorgang zu dieser Bundestagswahl eigentlich die Auseinandersetzung über innenpolitische Fragen nicht verweigert, aber sie hat sie nicht gesucht und hat stattdessen die internationale Karte gespielt und sich als europäische weltfrauliche Politikerin da präsentiert. Auch das wird ja in den kommenden Wochen ins Rutschen geraten, denn spätestens wenn beispielsweise Mitte Dezember der Europäische Rat zur Eurofrage tagt und Deutschland keine Position da vertreten kann, weil Frau Merkel keine Regierung hat, wird auch dieses Image bröckeln und wird Angela Merkels Nimbus der starken, durchsetzungsfähigen Politikerin auch leiden.
Bundespräsident wird hier zum Chefsondierer gemacht
Schulz: Wir sind jetzt ja schon beim großen Bild. Wenn wir jetzt versuchen, nach dieser Woche mal einen Strich darunter zu machen: Wir haben eine Situation, die nennen die einen Chaos, andere sprechen von einer Krise, andere auch wieder nur von einer Herausforderung. Jedenfalls kennen wir diese Situation, so wie sie jetzt da ist, in der Bundesregierung, in der Bundesrepublik noch nicht. Ist das jetzt eigentlich gut oder schlecht?
Florack: In jedem Falle interessant und es bringt Akteure auf die Agenda, die wir bisher noch nie hatten. Das bringt ja jetzt vor allen Dingen den Bundespräsidenten in eine sehr interessante Rolle, weil er ja jetzt eigentlich zum Chefsondierer wird. Die Niederlande müssen jemanden als Formateur bestellen, weil der niederländische König nicht in die Politik eingreifen darf. Wir haben so einen Formateur, nämlich den Bundespräsidenten, und das ist insofern interessant, weil es tatsächlich erstmalig der Fall ist, auf der anderen Seite aber auch ein Nachweis dessen, dass wir natürlich nicht von Staatskrise oder Ähnlichem sprechen können und sollten, weil der Bundespräsident für diese Rolle ja gewappnet ist und mit Frank-Walter Steinmeier auch ein Profi am Werk ist, der das Handwerk versteht.
Insofern gibt es jetzt auch Verfahren, auf die man zurückgreifen kann, auch wenn es kein ausgearbeitetes Drehbuch gibt, auf das man sich jetzt stützen könnte.
Steinmeier werde die Rolle des ehrlichen Maklers spielen
Schulz: Und einen Frank-Walter Steinmeier mit Fragezeichen, der jetzt auch diese Rolle als wirklich neutraler Mittler überzeugend spielt, obwohl er ja jahrzehntelang als SPD-Parteipolitiker sich profiliert hat?
Florack: Nicht nur spielt, sondern er muss sie ja einnehmen, um als ehrlicher Makler wahrgenommen zu werden. Insofern ist das auch die Autorität des Amtes, die er da einbringt. Das wird ja auch räumlich deutlich gemacht. Er hält jetzt quasi Hof in Bellevue, er behandelt da auch alle gleich, er empfängt die auch nicht an der Tür, sondern da gibt es jetzt keine besonderen Vorrechte, die man genießt, wenn man als SPD-Vorsitzender kommt. Da wird jeder gleich behandelt und Frank-Walter Steinmeier wird peinlich darum bemüht sein, genau diese Rolle des ehrlichen Maklers zu spielen, weil ja auch klar für ihn ist, dass er jetzt im Augenblick in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit voll gefragt ist, um Lösungsmöglichkeiten zu sondieren.
Schulz: Der Politikwissenschaftler Martin Florack heute Mittag hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank für Ihre Einordnungen.
Florack: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.