Bislang gelte Merkel in ihrer Partei als unangefochten, sagte der Politologe, der CSU-Mitglied ist. Aber: Es gebe "niemanden, den die Öffentlichkeit als unangefochtenen Herausforderer oder Herausforderin sehen würde. Insofern ist sie abgesichert." Die historische Erfahrung lehre jedoch auch, dass es immer eine Alternative gebe, "auch wenn sie nicht überzeugend ist".
Ob sich Merkels Lage weiter zuspitze, sei von der Bewältigung der Flüchtlingskrise abhängig, sagte Oberreuter. "Wenn es nicht gelingt, diesen Zustrom so zu kanalisieren, dass er vor Ort auch bewältigbar ist, dann weiß ich nicht, ob die Dämmerung auch zum Sonnenuntergang führt."
Das Interview mit Heinrich Oberreuter in voller Länge:
Christiane Kaess: Nicht nur aus der bayerischen CSU, sondern auch aus der CDU weht Angela Merkel ein immer schärferer Wind entgegen, wegen ihrer Haltung in der Flüchtlingspolitik. Der Unmut äußert sich jetzt auch an der Basis immer stärker. Teilnehmer aus fünf CDU-Landesverbänden, die trafen sich gestern im sächsischen Schkeuditz und neben Plakaten mit der Aufschrift "Merkel entthronen" war dort unter anderem dieses zu hören:
O-Ton: "Ich habe den Eindruck, dass wir nicht so richtig wissen, was soll eigentlich Leitkultur sein. All das, Frau Bundeskanzler, muss ich Ihnen sagen, hier habe ich das Gefühl und hier haben auch die Mitglieder meines Ortsverbandes das Gefühl, dass die Partei von Ihnen und Herrn Tauber nicht mehr unsere CDU ist."
Kaess: Kritik von der Basis. - Und vor diesem Hintergrund hat die Bundeskanzlerin heute Vormittag ihre Regierungserklärung im Bundestag abgehalten, vor dem heute beginnenden EU-Gipfel in Brüssel, auf dem es auch in erster Linie um den Umgang mit Flüchtlingen gehen wird, und bevor die Abgeordneten im Bundestag das neue Asyl- und Flüchtlingspaket der Bundesregierung beraten.
Kurz nach Angela Merkel hat in München Horst Seehofer seine Regierungserklärung abgegeben.
Mitgehört am Telefon hat Heinrich Oberreuter. Er ist Politikwissenschaftler und er ist selbst langjähriges CSU-Mitglied. Guten Tag, Herr Oberreuter.
Heinrich Oberreuter: Ja, guten Tag!
"Bisher ist sie unangefochten"
Kaess: Herr Oberreuter, bei allem Widerstand gegen Angela Merkel, der ihr da im Moment entgegenschlägt, sehen Sie auch schon die Kanzlerinnendämmerung?
Oberreuter: Eine Stimmung wie die gegenwärtig, dass innerhalb der Fraktion mit Zwischenrufen und mit deutlicher Kritik und auch mit Gruppierungen, die Unterschriftenlisten sammeln pro und contra Merkel, mit so was hat man bisher nicht rechnen können. Und in gewisser Weise ist das auch für Angela Merkel eine neue Dimension, denn bisher ist sie unangefochten. Die Zustimmung zur CDU und auch zur CSU beruht nicht zuletzt auf ihrem Prestige. Aber diese Herausforderung ist in der Tat so, dass wir nicht nur von einer offenen Diskussion in der Fraktion reden müssen, sondern in der Tat von einer Diskussion, die die Kanzlerin herausfordert.
Kaess: Und wo wird das enden?
Oberreuter: Ich bin kein Prophet, aber man sieht ja doch relativ deutlich, dass Angela Merkel von ihrer ursprünglichen Haltung nicht gänzlich abgerückt ist, sie aber modifiziert. Sie appelliert an die Europäer, ihre Verantwortung mit wahrzunehmen. Wenn es nicht gelingt, diesen Zustrom so zu kanalisieren, dass er vor Ort auch bewältigbar ist, dann weiß ich nicht, ob die Dämmerung auch zum Sonnenuntergang führt. Aber ich glaube, die Spekulation käme viel zu früh.
Kaess: Sie sagen, sie rückt ab von ihrer vorherigen Position. Nach außen hin gibt sie sich aber relativ unbeeindruckt. Wie glaubhaft ist das für Sie?
Oberreuter: Das Problem in unserer emotionalisierten Diskussionslandschaft ist, dass man mit differenzierten Positionen ohnehin Schwierigkeiten hat, Gehör zu finden, und das, wenn man sich differenziert ausdrückt, gerne des Widerspruchs oder der Unklarheiten in der Linienführung geziehen wird. Aber die Idee, dass alle Europäer ihre Verantwortung mit wahrnehmen müssen, die finde ich nicht so fernliegend, und die Tatsache ist ja nun die, dass die deutsche Landesgrenze, speziell die bayerische, mittlerweile zur EU-Außengrenze geworden ist, weil alle anderen ihre europäischen vertraglichen Verpflichtungen nicht wahrnehmen. Angela Merkel wird in Europa gegenwärtig etwas härter in ihren Aussagen. In Deutschland bleibt sie bei der Linie, dass wir das unsere tun müssen, um den Fluchtbewegungen gerecht zu werden. Da ist sie aber wiederum von Seehofer auch gar nicht so weit entfernt, der nie das Asylrecht in Frage gestellt hat für die, die es zurecht beanspruchen.
"Merklich von der Mitte weg"
Kaess: Darauf können wir gleich noch ein bisschen näher eingehen. Schauen wir noch mal auf diesen Unmut in der Union. Wird der auch befördert von, ich nenne es jetzt mal in Anführungsstrichen, den "Frustrierten", die immer gegen den Modernisierungskurs in der Partei waren und die jetzt vielleicht ihre Chance wittern?
Oberreuter: Das ist überhaupt nicht auszuschließen. Ich meine, Angela Merkel hat in vielfältigen gesellschaftspolitischen Themenfeldern die Union, ich würde schon sagen, merklich von der Mitte weg oder wenigstens in die linke Mitte geschoben. Das hat man ihr alles nachgesehen, weil es an der Wählerfront nicht schädlich war, eigentlich eher nützlich. Da ist aber die Partei in ihren Kernbestandteilen durchaus nicht befriedigt worden durch solche Bewegungen und die Chance, dass jemand in diesem Fall, wo es Bundesgenossen gibt, die ähnlich denken und die natürlich auch durch die Flüchtlingsbewegung einen Kern der politisch-kulturellen Identität der Bundesrepublik beschädigt sehen, dass die das jetzt zum Anlass nehmen, ihren Unmut zuzuspitzen und Bundesgenossen zu suchen, die Gefahr ist überhaupt nicht zu leugnen.
Kaess: Aber bei aller Kritik an Angela Merkel, eine Alternative hat die Union nicht?
Oberreuter: Das ist ihre große Stärke. Es gibt im Augenblick niemanden, der als Herausforderer sich an die Front trauen würde. Es gibt auch niemanden, den die Öffentlichkeit als unangefochtenen Herausforderer oder Herausforderin sehen würde. Insofern ist sie abgesichert. Aber auf der anderen Seite lehrt natürlich die historische Erfahrung: Wenn man Alternativen braucht, gibt es immer eine, auch wenn sie nicht überzeugend ist.
Kaess: Dann schauen wir noch auf die CSU. Wie sehr schneidet sich die eigentlich ins eigene Fleisch, wenn sie mit ihren konstanten Querschüssen die Union insgesamt schwächt?
Oberreuter: Man kann das auch ganz umgekehrt sehen. Die CSU hat in dieser ganzen Flüchtlingsfrage von Beginn an Positionen bezogen, die eigentlich politisch nicht unvernünftig gewesen sind, und alles, was sie gefordert hat, ist ja mittlerweile Bestandteil der Gesetzgebung der Bundesregierung, zumindest zum großen Teil, um das alles nicht zu übertreiben.
Obergrenze in der "Kategorie des Populismus"
Kaess: Herr Oberreuter, das stimmt nicht ganz. Entschuldigung, wenn ich da unterbreche. Aber es geht ja - Sie haben es gerade selber vorhin angesprochen - auch ganz viel um dieses, ich nenne es mal, Herumreiten auf der Obergrenze, und die kann es nicht geben. Dann müsste das Asylrecht außer Kraft gesetzt werden. Da sagt jeder Staatsrechtler, ist sich dort mit Merkel eins, das ist nicht möglich. Warum lässt Seehofer eigentlich davon nicht ab?
Oberreuter: Über die Obergrenze kann man aus mehreren Gesichtspunkten streiten. Der nicht ganz unbekannte Verfassungsrechtler Rupert Scholz, Mitherausgeber eines berühmten Grundgesetzkommentars, hat gestern dazu einen Kommentar in der "FAZ" geschrieben, in dem man Ansatzpunkte sehen kann, wie man das Asylrecht handhabbar macht. Aber grundsätzlich stimme ich Ihnen zu: Es ist ein individuelles Grundrecht. Es muss aber von dem Individuum her immer begründet in Anspruch genommen und ihm zugewiesen werden. Insofern kommt man mit einer mechanischen Obergrenze in der Tat nicht weiter. Die Forderung, die kann man vielleicht unter die Kategorie des Populismus ablegen.
Kaess: Also Stimmungsmache?
Oberreuter: Ja und nein. Ich wehre mich nur ein bisschen gegen den Begriff der Stimmungsmache, weil auf der anderen Seite die Bayern ja große Integrationsprogramme verkündet haben: viel Geld in die Hand nehmen, um die zu pflegen, die hier bleiben dürfen. Es ist zwiespältig und wahrscheinlich so zwiespältig, wie die Situation ist, auf die es keine klaren Antworten gibt, die auch die Kanzlerin nicht hat.
"CSU betreibt das, was sie immer betrieben hat"
Kaess: Sie nennen es Populismus, Herr Oberreuter. Was hat die CSU wiederum davon? Im Moment sehen wir, sie treibt damit der AfD die Wähler zu.
Oberreuter: Da bin ich ein bisschen anderer Meinung. Ich glaube, wenn die CSU die Positionen nicht bezogen hätte, die sie bezieht, und sie nicht auch zum Teil durchgedrückt hätte, wäre die AfD-geneigte Stimmung in der Öffentlichkeit noch sehr viel stärker. Das was die CSU betreibt ist das, was sie eigentlich immer betrieben hat, nach weiter rechts von ihr gewisse Brandmauern hochzuziehen, und ich glaube, dass sie damit relativ erfolgreich ist, aber das erklärt auch manche undifferenzierte Position.
Kaess: Sie haben gerade selber gesagt, Bayern tut eigentlich viel für die Integration von Flüchtlingen. Es ist ja auch so gewesen, dass lange die Union und die Haltung von Merkel eine große Unterstützung in der Bevölkerung erfahren hat. War es ein Fehler der Union insgesamt, die Vorteile des Zuzugs von Migranten nicht offensiver zu verkaufen, denn wir haben ja auf der anderen Seite auch die Wirtschaft zum Beispiel, die sich freut über neue Arbeitskräfte, und es gibt ein Zitat von Daimler-Chef Dieter Zetsche, der gesagt hat, im besten Fall könnten die Flüchtlinge sogar die Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden? Warum verkauft man das nicht offensiver?
Oberreuter: Die Frage kann man sich zurecht vorlegen. Die Gegenfrage wäre natürlich, ist das ökonomische Argument das allein ausschlaggebende, oder gibt es nicht auch Argumente kultureller Natur, politisch-kultureller Natur, die Frage der Akzeptanz der Grundwerte des Grundgesetzes. Das spielt die CSU mehr in den Vordergrund. Aber übersehen darf man nicht, dass, wenn in der Tat hier Ausbildungspotenziale und Arbeitsmarktpotenziale zu uns kommen, das in der Tat auch für den Sozialstaat eine zukunftssichernde Basis werden könnte.
Kaess: ... sagt der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter. Er ist selbst langjähriges CSU-Mitglied. Danke schön, Herr Oberreuter, für dieses Gespräch heute Mittag.
Oberreuter: Bitte schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.