Kathrin Hondl: "Erinnern und Vergessen", das ist der Titel unserer Sommer-Gesprächsreihe hier in Kultur heute. Und gerade Frankreich scheint da ja eine gewisse Expertise haben, was das Vergessen angeht. Kollektives Vergessen. Ein Beispiel: 50 Jahre dauerte es, ein halbes Jahrhundert also, bis ein französischer Staatspräsident – Jacques Chirac 1995 – öffentlich und offiziell daran erinnerte, dass das Städtchen Vichy in Frankreich lag und liegt, sprich: dass auch Frankreich eine Mitschuld an der Deportation der französischen Juden trägt. Der Politikwissenschaftler Stefan Seidendorf ist stellvertretener Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg. Ihn habe ich gefragt: Wie, Herr Seidendorf, ist dieses hartnäckige und lange Leugnen der französischen Kollaboration mit den Nazis zu erklären?
Stefan Seidendorf: Ja, Frankreich ist tatsächlich das Land, in dem diese Gedächtnisprozesse, das kollektive Erinnern und das kollektive Vergessen eine besondere Bedeutung haben für das Selbstverständnis, für die Identität. Es war auch ein Franzose, Maurice Halbwachs, der das erste Buch über das kollektive Gedächtnis geschrieben hat – 1939 – der schon den Begriff geprägt hat. Und ein weiterer Historiker, Henry Rousso, hat 1987 das große Werk geschrieben "Le Syndrome de Vichy" – "Das Vichy-Syndrom".
In dieser Zeit – zwischen der Mitte der 80er- Jahre und der Mitte der 90er Jahre - hat sich tatsächlich etwas Bahn gebrochen, was vorher verschwiegen wurde, nämlich die offizielle Anerkennung durch die Republik Frankreich, dass Frankreich selbst, dass Franzosen auch an der Deportation, an der Verschleppung von Juden beteiligt waren, und zwar teilweise ohne dass direkt Druck ausgeübt worden wäre. Dieser Befund, der hat tatsächlich sehr lange benötigt, um offiziell in der Republik seinen Platz zu finden: dass die Republik eine Mitverantwortung zugesteht. Man hatte natürlich vorher schon gesagt: Vichy war verantwortlich dafür, Vichy hat das gemacht. Aber Vichy war eben nicht Frankreich.
Narrativ, um Frankreich nach 1945 zu einen
Hondl: Genau. Das war eigentlich fast schon ein strategischer Coup von de Gaulle am Ende des Zweiten Weltkriegs. Er hat sozusagen alle Franzosen irgendwie zu Widerstandskämpfern erklärt. Warum war das denn so wichtig am Ende des Zweiten Weltkriegs?
Seidendorf: Es war ein strategischer Coup von de Gaulle, der nur in Frankreich so funktionieren konnte - in Frankreich, in dem die Nation, die Republik und der Staat als eines gedacht wird. Es gibt da keine Unterschiede, sondern all das ist eines und hat bestimmte Vorstellungen von Werten und einem Selbstverständnis. De Gaulle war ja zunächst sehr alleine in London. Er war durch Vichy zum Tode verurteilt worden als Vaterlandsverräter, Hochverräter. Er war recht alleine und hat aber von Anfang an gesagt: "Ich bin Frankreich". "Ich bin Frankreich" in dem Sinne, dass nur er und seine Getreuen das wirkliche, das echte Frankreich, das republikanische Frankreich repräsentieren. Nur in Frankreich konnte diese Behauptung eben funktionieren.
Nach dem Krieg war das natürlich einerseits sehr strategisch, weil es ihm ermöglicht hat, diesen innerfranzösischen Konflikt, den es ja gab, zu überdecken. Wenn alle Franzosen auf einmal auf Seiten der Résistance waren, na gut, dann waren sie entweder Kommunisten oder Gaullisten, aber es waren auf jeden Fall keine, die irgendwie an der Kollaboration sich beteiligt hatten. Und es gab eine Möglichkeit, den Konflikt zwischen Kommunisten und Gaullisten zu überbrücken. Die Kommunistische Partei Frankreichs war ja die größte Partei lange Jahre in der Nachkriegszeit. Und es war nötig, da ein gemeinsames Narrativ zu entwickeln, hinter dem sich die große Mehrheit der Franzosen zumindest wiederfinden konnten.
Gemeinsame Erinnerung ist konstituierend
Hondl: Nun, Herr Seidendorf, erinnert sich ja wahrscheinlich jeder lieber an Positives, als an die Leichen im Keller. Aber Sie haben es ja auch schon angedeutet: Kann es sein, dass es in Frankreich da eine ganz besondere Tradition gibt, was so eine – ja – selektive, beschönigende Erinnerung der Geschichte angeht? Dient die Nationalgeschichte in Frankreich mehr als anderswo als Identitätsstifterin?
Seidendorf: Ja, Frankreich hat ja sehr früh schon ein demokratisches und republikanisches Nationenverständnis entwickelt – wenn Sie an den bekanntesten der Theoretiker zurückdenken, an Ernest Renan, der 1887 in Reaktion auf den Krieg mit Deutschland gesagt hat in der großen Vorlesung in der Sorbonne: "Was macht eine Nation aus?" – da hat er gesagt "Es ist nicht Blut, es ist nicht Abstammung, sondern man muss sich dazu bekennen, man muss Franzose sein wollen." Dazu hat er gesagt: "Es ist die gemeinsame Geschichte und vor allem die gemeinsame Erinnerung an diese Geschichte." Eben diese emotionale Erinnerung an die Dinge, die man gemeinsam durchlebt und durchlitten hat. Das ist konstituierend für eine Nation, das macht eine Nation aus. Und auf jeden Fall im französischen Fall gilt genau dies, und zwar bis heute. Deshalb sind diese Geschichtsfragen und Erinnerungsfragen in Frankreich auch so politisch aufgeladen.
Die späte Aufarbeitung des Algerienthemas
Hondl: Ja, das zeigte sich ja vergangenes Jahr im Präsidentschaftswahlkampf: Macron, damals noch Kandidat, der hat bei einem Besuch in Algerien, anderes großes Tabuthema der französischen Geschichte, da hat er die französische Kolonialherrschaft dort als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Und, na ja, die Folge war: Macron sackte da erst einmal ganz schön ab in den Umfragen vor der Wahl. Ist die Kolonialzeit das letzte historische Tabu in Frankreich?
Seidendorf: Sie ist auf jeden Fall schwieriger und umstrittener. Wenn wir das Beispiel Algerien nehmen: Algerien war 130 Jahre lang französisches Siedlungsgebiet, also französisches Departement. Es war kein Protektorat, es war kein Kolonialgebiet, sondern wurde zu einem französischen Departement – natürlich mit Diskriminierung gegen die einheimische Bevölkerung. Im Befreiungskrieg in Algerien sind natürlich furchtbare Gräuel passiert auf beiden Seiten. Frankreich, die Republik, hat sehr damit zu kämpfen, dass sie – manche sagen – ihre Ehre verloren hat, ihre Werte verraten hat, indem sie systematisch dort gefoltert hat.
Auf der anderen Seite sind viele der Gräuel, die wir heute durch den IS zum Beispiel sehen, schon damals vorgekommen auf Seiten der Befreiungsbewegung. Und Algerien war ja ein Kolonialkrieg indem tatsächlich auch die Wehrpflichtigen einberufen wurden, das heißt, viele Familien hatten direkt damit zu tun und waren damit konfrontiert. Diejenigen, die damit konfrontiert waren, sind heute in einem Alter, wo sie die Erinnerungen weitergeben können, sind im Grunde eine Generation oder eine halbe Generation jünger als diejenigen, die tatsächlich mit Vichy befasst waren. Das heißt die sind noch da, das ist noch ein lebendiges Gedächtnis in den Familien.
Nicht-Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft
Hondl: Eine Vergangenheit, die nicht vergeht, wie man immer sagt. Sie haben gerade kurz den IS schon angesprochen und der Pariser Politikwissenschaftler und Dschihadismus-Experte Gilles Kepel, der sieht sogar einen direkten Zusammenhang zwischen der unbewältigten Kolonialgeschichte und dem islamistischen Terror von heute. Kepel sagt, es sei kein Zufall, dass Mohammed Merah – der Attentäter, der in Toulouse jüdische Schulkinder ermordet hat –, dass er das am 19. März 2012 getan hat – dem 50. Jahrestag des Waffenstillstands im Algerienkrieg. Sehen Sie, Herr Seidendorf, da auch direkte Zusammenhänge? Vielleicht vorsichtiger formuliert zwischen fehlender Aufarbeitung des Algerienkriegs in Frankreich und Integrationsproblemen von Jugendlichen mit Familienbackground aus den Ex-Kolonien?
Seidendorf: Ich würde spontan sagen, der Professor gesteht dem Attentäter zu viel Wissen und zu viel intellektuelle Leistung zu. Die jungen Männer, vor allem die zu Attentätern werden, kommen zwar schon mit Einwanderer-Biografien, meistens in der zweiten und dritten Generation, aber es sind bestimmt keine Intellektuellen, die sich in der Tradition des Befreiungskampfes der Algerier sehen. Es hat andere Gründe, dass aus diesen Gruppen sich diese Extremisten und Attentäter rekrutieren. Es hat mit der Nicht-Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft zu tun und, wenn wir diese Nicht-Anerkennung erklären wollen, dann kommt natürlich schon die Kolonialvergangenheit mit ins Spiel. Alles was an Diskriminierung, an Ressentiment auch gefühlt werden kann, ohne dass es wirklich tatsächlich ausgesprochen wird oder erlebt wird, kann damit reinspielen.
Die Diskussion wird noch Jahre andauern
Hondl: Krankt Frankreich an Algerien?
Seidendorf: Es ist sicherlich noch ein offenes Thema und der Umgang damit ist sehr schwierig, weil es auch parteipolitisch nicht völlig klar ist, wie man damit umgehen soll. Als Sarkozy und die bürgerliche Rechte das letzte Mal an der Regierung waren, haben sie ein Gesetz verabschiedet, dass von der Kolonialvergangenheit auch positiv gesprochen werden soll und die positive Leistung der Zivilisierung Algeriens – also der Besiedlung Algeriens – gewürdigt werden soll im Schulunterricht, was natürlich sowieso immer difficile und kritisch ist, wenn Politiker vorgeben wollen, was für ein Geschichtsbild unterrichtet werden soll. In diesem Fall das völlig quer zu den Lehrplänen und zu dem, was eigentlich in den Schulen im Moment passiert, lag. Die Linke hat diesen Beschluss dann wieder rückgängig gemacht unter Hollande, aber trotzdem ist der Streit natürlich weiterhin vorhanden. Das heißt, es ist auch ein politischer Streit und damit noch weit davon entfernt, dass es ein ruhendes Gedächtnis wäre, das nicht mehr als heißes Thema im Wahlkampf oder in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hoch kommt.
Hondl: Und, wenn wir zum Schluss vielleicht noch ein Blick in die Zukunft wagen. Ist Frankreich in Sachen Vergangenheitsbewältigung jetzt auf einem besseren Weg, also gerade in Sachen Kolonialgeschichte scheint Macron ja im Moment Einiges bewegen zu wollen, oder?
Seifendorf: Macron ist sicherlich sehr mutig in dieser Richtung. Das zeichnet ihn ja auch bei anderen Reformankündigungen und Umsetzungen aus, dass er sich nicht davor, scheut Missstände anzusprechen und entsprechend auch Vorschläge zu machen. Frankreich hat noch einen zweiten Vorteil, die Nationen, ihre Intellektuellen sind mit der Nationalgeschichte regelrecht besessen, und es gibt immer diese Historikerinnen und Historiker, die im Grunde gegen das offizielle, national staatstragende Gedächtnis argumentieren und weiter wühlen und weiter grübeln, und diese Bewegung, die lässt sich im Grunde nicht aufhalten, sondern wird öffentlich auch diskutiert. Breit diskutiert in den Medien, und das findet auch mit Hinblick auf die Kolonialvergangenheit statt, aber es wird sicherlich noch einige Zeit brauchen, vielleicht nicht ganz so lange wie bei der Frage von Vichy und damit Verantwortung für die Deportation der Juden, aber bestimmt doch noch einige Jahre.