Doris Simon: Martin Schulz, nach dem Willen von Sigmar Gabriel der neue Kanzlerkandidat und Parteichef der Sozialdemokraten, er stellt sich in diesen Minuten der SPD-Bundestagsfraktion offiziell vor.
Martin Schulz wird Kanzlerkandidat der SPD. Dass das bei den Sozialdemokraten erst mal rundum auf Zustimmung stößt, auf jeden Fall nach außen, das ist überhaupt keine Überraschung. In den anderen Parteien im Bundestag, da geht man auf abwartende Distanz. Übereinstimmend kommt die Kritik - wir haben es eingangs ja von Jens Spahn von der CDU gehört -, dass so gar nicht klar ist, wofür Martin Schulz denn steht, außer für Europa. Er sei eben woanders noch nicht aufgefallen. - Am Telefon ist der Politikwissenschaftler Torsten Oppelland von der Universität Jena. Guten Tag!
Torsten Oppelland: Guten Tag!
Simon: Wofür steht denn Schulz jenseits von Europa?
Oppelland: Das habe ich befürchtet, dass Sie mich das jetzt fragen. Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Die Fragen von Jens Spahn kann ich auch nicht beantworten. Das wird schon Herr Schulz in seiner programmatischen Rede selber machen müssen.
Simon: Sie können es nicht beantworten, weil es überhaupt kein innenpolitisches Profil gibt?
Oppelland: Im Wesentlichen nicht, denn bisher hat er seine Karriere im Europaparlament gemacht. Wenn man von den kommunalpolitischen Wurzeln, die sicher wichtig sind für seine Bodenständigkeit und Authentizität, absieht, dann hat er im Europäischen Parlament Karriere gemacht und dort sind europäische Themen im Vordergrund. Er war 2014 Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, hier in Deutschland natürlich auch der deutschen, aber da standen auch europäische Themen im Vordergrund. Insofern in der Tat: Über spezifisch innenpolitische Fragen weiß auch die informierte Öffentlichkeit nicht allzu viel.
Simon: Europa ist ja nun ein Thema, was beim Wähler nicht wirklich zieht. Das lehrt die traurige Erfahrung. Welche Wähler kann denn ein Martin Schulz dann ansprechen?
Oppelland: Na ja, das hängt davon ab, wie er sich jetzt positioniert. Erst mal hat er eine gewisse Beliebtheit von der Person her, mit der er natürlich jetzt punkten kann und die auch der Grund ist, warum die Wahl auf ihn gefallen ist. Welche Wähler er anspricht, das kann man im Grunde erst dann sagen, wenn er sich programmatisch geäußert haben wird. Ob er eher Richtung links geht, also versucht, mit sozialpolitischen Themen eher Wähler, die sich frustriert von der SPD abgewandt haben, zurückzugewinnen, ob er stärker der CDU in der Mitte Konkurrenz machen will, das kann man jetzt im Moment noch nicht sagen.
Martin Schulz ist
Simon: Soziale Gerechtigkeit ist ja eine Sache, von der Martin Schulz immer spricht. Ist er denn wirklich so links, wie manche auch in der SPD das glauben wollen?
Oppelland: Zumindest spricht die Erfahrung insofern dagegen, weil er natürlich aus dem Europäischen Parlament heraus auch immer mit der Europäischen Volkspartei koalitionsfähig war. Sein engster Verbündeter und Partner auf der europäischen Ebene war Juncker, der nun von der anderen Parteienfamilie herkommt, von der EVP. Insofern: Von dieser europäischen Geschichte her ist Martin Schulz auch eher ein klassischer Vertreter von großen Koalitionen.
Simon: Das heißt, Sie könnten sich vorstellen, dass sich da einige in der SPD noch gewaltig wundern werden, wenn Schulz jetzt mal inhaltlich sagt, wo er hin will?
Oppelland: Möglicherweise. Vielleicht will er ja auch aufgrund der Analyse der Wählerstruktur und da, wo die SPD große Verluste hatte, vielleicht wird er stärker auf links seinen Kurs bestimmen. Das ist durchaus möglich. Ich meine, wenn er wirklich Angela Merkel als Kanzlerin ablösen will, dann geht das ja nur, wenn er eine rot-rot-grüne Koalition formiert, denn nach Lage der Dinge ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass in einer Großen Koalition die SPD der stärkere Partner würde, auch wenn es Schulz gelingt, jetzt etwas zuzugewinnen.
"Wenn es für Rot-Rot-Grün reicht, wäre es für die SPD der einzig naheliegende Kurs"
Simon: Das heißt, strategisch sagen Sie, es lohnt sich nicht mehr wie zu Schröders Zeiten in der Mitte zu fischen, weil da die meisten Stimmen zu holen sind, sondern aufgrund der Ausgangsbasis geht es dann doch auf Rot-Rot-Grün zu?
Oppelland: Wenn die Mehrheitsverhältnisse dafür ausreichen würden nach der Bundestagswahl - das ist ja noch keineswegs sicher; wenn man sich die aktuellen Umfragewerte anschaut, wird es wahrscheinlich nicht reichen. Aber sollte es doch reichen, dann wäre das für die SPD der einzig naheliegende Kurs - völlig unabhängig davon, wer jetzt Spitzenkandidat ist.
Simon: Das heißt aber, ich entnehme Ihren Äußerungen, Sie sehen in der Wahl der Person Schulz keinen Fingerzeig in die eine oder andere politische Richtung?
Oppelland: Genau. Inhaltlich sehe ich von dem, was ich über Schulz weiß, keine dramatischen Unterschiede zwischen Schulz und Sigmar Gabriel. Wenn Sie beispielsweise CETA und solche Dinge nehmen, da hat Gabriel sich stark für eingesetzt in der SPD und auf der deutschen Ebene, aber Schulz auch auf der europäischen Ebene. Da sind die Unterschiede zwischen beiden nicht besonders groß.
"Im Moment hat Schulz den Reiz des Unverbrauchten"
Simon: Sie sprachen vorhin, Herr Oppelland, die Beliebtheit der Person Martin Schulz an. Damit hat die SPD in der Vergangenheit doch eher schlechte Erfahrungen gemacht: Frank-Walter Steinmeier war auch beliebt, als er Kandidat wurde, Peer Steinbrück auch, und das hat ja nichts gebracht.
Oppelland: Das ist richtig. Insofern ist die Frage, jetzt im Moment hat er sozusagen den Reiz des Neuen, des Unverbrauchten. Wie lange das hält, das ist schwer zu sagen. Und die Lehre, die die SPD aus diesen historischen Erfahrungen gezogen hat, ist die, dass er auch den Parteivorsitz übernimmt. Ob das die Ursache dafür war, dass Kandidaten wie Steinmeier und Steinbrück gescheitert sind, …
Simon: Dass die das nicht gemacht haben?
Oppelland: Ja. Darüber kann man lange streiten und rätseln.
Simon: Eine andere Lehre ist ja die: Gestern hatten wir das, was wir so ein bisschen als Chaostag bei der SPD betrachten können, jedenfalls kommunikativ erlebt. Die schlechten Umfragewerte, die Noch-Parteichef Gabriel angegeben hat als Grund für seinen Rückzug, die hatte er ja schon letztes Jahr. Aus Ihrer Sicht: Wäre ein geordneter Wechsel vor einem Jahr zu Schulz besser gewesen für die Chancen der Sozialdemokraten im Wahlkampf?
Oppelland: Nein, das glaube ich nicht. Ganz abgesehen davon, dass Schulz zu dem Zeitpunkt ja noch Präsident des Europäischen Parlaments gewesen war und wahrscheinlich gar nicht gewollt hätte. Das hängt ja jetzt alles damit zusammen, dass auch die Verlängerung seines Mandates als Präsident des Europäischen Parlaments nicht geklappt hat. Wenn es so ausgegangen wäre, wie er das ursprünglich beabsichtigt hatte, dass er über die volle Legislaturperiode Präsident des EP bleibt, dann wäre er wahrscheinlich in Brüssel geblieben.
"Das Dilemma der SPD ist, dass sie weiter links ihren potenziellen Koalitionspartnern die Stimmen wegnimmt"
Simon: Wenn Sie jetzt sagen, Schulz ist eigentlich innenpolitisch ein völlig unbeschriebenes Blatt, gibt es etwas, was Sie ihm raten würden, wenn er wirklich in die linke Richtung gehen wird, was er verfolgen sollte, wo Sie Chancen sehen für die SPD?
Oppelland: Oh, das ist natürlich eine schwere Frage. Wenn ich dieses Rätsel lösen könnte, dann würde ich da ein gutes Honorar für bekommen wahrscheinlich. Das Dilemma der SPD ist, dass wenn sie tatsächlich nach links geht, ist, dass sie ihren potenziellen Koalitionspartnern die Stimmen wegnimmt, also insbesondere der Linken und auch den Grünen. Das geht dann am Ende aus wie das Hornberger Schießen, es reicht dann trotzdem nicht für eine Mehrheit, die Angela Merkel ablösen könnte. Insofern ist gerade diese Frage äußerst schwierig. Das ist das strategische Dilemma der SPD, an dem sie seit 2005 etwa leidet.
Simon: Schwierige Aussichten auch mit dem Kandidaten Martin Schulz, meint der Politikwissenschaftler Torsten Oppelland von der Universität Jena. Herr Oppelland, danke für das Interview.
Oppelland: Herzlich gerne.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen