Ein unkontrollierter Strom von Asylbewerbern und Migranten nach EU-Europa sei nicht möglich, wenn die Gesellschaften hier nicht kollabieren sollen, unterstreicht der Münsteraner Politikwissenschaftler Wichard Woyke. Er fordert, dass von der EU-Kommission vorgeschlagene Maßnahmen in allen 28 Mitgliedsländern durchgesetzt werden müssten − notfalls mit Vertragsverletzungsverfahren oder auch finanziellem Druck.
Bestimmte Eliten in einigen Ländern, die jetzt an der Macht seien, wollten die Vorteile des europäischen Integrationsprozesses nutzen, seien aber nicht bereit, "die Gemeinsamkeiten, wenn sie denn schwierig für solch ein Land werden, zu akzeptieren". Doch die internationalen Beziehungen seien kein Wunschkonzert, sondern "ich habe mich der Realpolitik zu stellen und muss nach Lösungen suchen, wie die nach Europa strömenden Migranten irgendwie kanalisiert werden können".
Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Neue Flüchtlingszahlen aus Deutschland. Weit über eine Million sind es im vergangenen Jahr wohl gewesen. Das wussten wir schon und wir haben an diesem Vormittag auf diese neuen Zahlen gewartet. Das wurde gestern angekündigt aus Berlin. Auch heute Vormittag sind alle Korrespondenten vor Ort davon ausgegangen. Aber der Innenminister Thomas de Maizière hat sie bislang jedenfalls noch nicht geliefert. Dabei blicken viele Beobachter auch darauf, wie viele Migranten gekommen sind, die nicht registriert wurden und die jetzt immer noch nicht registriert sind, und wir reden hier offenbar von einer halben Million, 500.000 Menschen, die hier hingekommen sind, ohne dass die Behörden immer noch nicht wissen, wo sich diese aufhalten. Die Grenzkontrollen jedenfalls sollen fallen.
Eine europäische Flüchtlingspolitik, eine europäische Asylpolitik hat es vielleicht alles noch nie gegeben. Jeder macht zuhause, was er will in dieser Frage, siehe Deutschland, siehe Polen, siehe auch Großbritannien oder Frankreich. Das soll sich nun ändern. Wir brauchen eine einheitliche Politik in Europa, sagt jedenfalls die EU-Kommission.
Brüssel will also eine einheitliche Asylpolitik in Europa, will einheitliche Asylverfahren − unser Thema jetzt mit Politikwissenschaftler und Europakenner Professor Wichard Woyke. Guten Tag nach Münster.
Wichard Woyke: Guten Tag, Herr Müller.
Müller: Herr Woyke, will die EU-Kommission immer das, was die meisten Mitgliedsländer nicht wollen?
Woyke: Nein, das kann man nicht sagen. Die EU-Kommission ist ja laut Vertragstext gefordert, Initiativen zu ergreifen, und sie ergreift Initiativen, von denen sie überzeugt ist, dass sie langfristig der Europäischen Union wie auch ihren Mitgliedsländern dienen, und bisher hat die Europäische Kommission meines Erachtens eigentlich einen ganz guten Job gemacht.
Müller: Warum hat sie das getan? Vieles hat doch nicht funktioniert in der Flüchtlingspolitik.
Woyke: Na ja, das ist ja gerade der Punkt, dass im Augenblick wir uns darüber klar sind, dass vieles nicht funktioniert, obwohl ja im Amsterdamer Vertrag von 1997 − das sind fast 20 Jahre her − die Flüchtlings- und Asylpolitik auf supranationaler Ebene angelegt ist. Das heißt, dass die Gemeinschaft darüber entscheiden soll. Aber die von der Gemeinschaft beschlossenen Maßnahmen, die müssen natürlich dann umgesetzt werden von den Mitgliedsstaaten, und vielleicht ist bezeichnend dafür, dass die EU, die ja immer gescholten wird, nichts zu tun, im letzten Jahr allein 19 Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedsstaaten eingeleitet haben, die Richtlinien in Bezug auf die Asyl- und Migrationspolitik nicht umgesetzt haben.
Müller: Was aber gerade ja Ihre Beispiele, Herr Woyke − sorry, dass ich hier reingehe −, offenbar eindeutig zeigen, dass vieles in Europa gilt, aber eben nicht die europäischen Verträge.
Woyke: Die europäischen Verträge gelten schon, nur die müssen Anwendung finden auch bei den Mitgliedsstaaten. Und wenn sie keine Anwendung bei den Mitgliedsstaaten finden, dann hat die Europäische Kommission nur die Möglichkeit, Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten oder notfalls in der schärfsten Waffe auch vor den Gerichtshof zu gehen. Und wenn das alles gar nicht hilft − und ich denke, wir werden in Bezug auf die Flüchtlings- und Asylpolitik zu dieser Entwicklung kommen −, wird letztendlich der Geldfluss an die jeweiligen Mitgliedsstaaten entscheiden, wie weit sie bereit sein werden, von der Kommission vorgeschlagene und gemeinsam beschlossene Maßnahmen zu tragen.
Mehr Europa und gemeinsame Einwanderungspolitik
Müller: Wir haben ja noch vor ein paar Wochen, Herr Woyke, darüber geredet, fällt die EU auseinander im Rahmen der Flüchtlingspolitik, in der Diskussion, im Streit um die umstrittene Flüchtlingspolitik, auch noch vor dem EU-Gipfel mit der Türkei. Jetzt reden wir schon wieder darüber, dass Europa mehr Europa werden soll?
Woyke: Ich war immer ein Anhänger von mehr Europa, weil ich überzeugt bin, dass es bestimmte Politiken gibt, die von dem Mitgliedsstaat allein nicht mehr exakt beantwortet werden können und wo wir eine gemeinsame Antwort der Europäischen Union brauchen. Und wir haben schon Anfang der 90er-Jahre geschrieben in der Wissenschaft: Wenn wir eine gemeinsame Politik haben mit gemeinsamen Außengrenzen, also Schengen, dass dies darauf fußt, dass man konsequenterweise auch eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik haben muss.
Müller: Ist das die Wunschvorstellung auf dem Papier, die in der Praxis nicht wiederzufinden ist?
Woyke: Nein, das ist nicht nur eine Wunschvorstellung; es ist auch schon durchaus in Ansätzen passiert. Nur es ist außerordentlich schwer, wenn Sie 28 verschiedene Mitgliedsländer haben, bis in allen 28 Mitgliedsländern man soweit ist, dass man das erkennt.
Müller: Das sind die Pro-Europäer jetzt selbst schuld, könnte man sagen, denn sie haben dafür gesorgt, dass es 28 sind. Vielleicht wäre das mit 15 einfacher.
Woyke: Das wäre mit 15 und mit sechs erst recht sicherlich sehr viel einfacher gewesen, aber das nützt uns ja jetzt nichts. Wir sind nun mal 28 und wir müssen sehen, dass wir eine Möglichkeit finden, unter diesen 28 in der gemeinsamen Asylpolitik voranzugehen. Und Sie sehen ja: In Bezug auf den Türkei-Deal, wenn ich den mal so nennen darf, sind ja alle 28 EU-Mitglieder einig gewesen in den verschiedenen Zielen, auch wenn man qualitativ darüber natürlich sehr unterschiedlicher Meinung sein kann. Aber Sie sehen, es gibt durchaus Möglichkeiten, dass man auch mit diesen 28 gemeinsame Regelungen erzielt.
Müller: Würden Sie das wirklich auch rückblickend als Einigung beziehungsweise als Lösung bezeichnen, wenn die Europäer jetzt einfach gesagt haben, gut, wir haben jetzt nichts mehr damit zu tun, die Türken lösen das Problem?
Woyke: Nein. Ich selbst sehe das auch nur als eine Notmaßnahme an. Aber immerhin: Die internationalen Beziehungen sind nun einmal kein Wunschkonzert, sondern ich habe mich der Realpolitik zu stellen und muss nach Lösungen suchen, wie die nach Europa strömenden Migranten irgendwie kanalisiert werden können. Denn eins ist ja klar, darüber sind sich auch alle 28 Länder oder die Vertreter aller 28 Länder einig, dass der unkontrollierte Strom von Asylbewerbern und Migranten nach EU-Europa nicht möglich ist, wenn hier nicht die Gesellschaften kollabieren sollen.
Bestimmte Eliten wollen nur die Vorteile der Integration
Müller: Sie haben ja, Herr Woyke, nach wie vor weitreichende Kontakte in viele EU-Länder, auch in die neueren EU-Länder, auch in Richtung Osteuropa, weil Sie seit Jahrzehnten an diesem Netzwerk auch gearbeitet haben und nach wie vor daran arbeiten. Ist das so jetzt heute im April 2016, dass sich viele Mitgliedsländer fremder sind denn je?
Woyke: Nein, das würde ich nicht sagen, dass sie sich fremder sind denn je. Aber es gibt in einigen Ländern bestimmte Eliten, die jetzt an der Macht sind, die bestimmte Vorteile des europäischen Integrationsprozesses nutzen wollen, aber nicht bereit sind, die Gemeinsamkeiten, wenn sie denn schwierig für solch ein Land werden, zu akzeptieren.
Müller: Die gewählt sind?
Woyke: Die gewählt sind, ja.
Müller: Die das legitimerweise aus ihrem politischen Selbstverständnis machen?
Woyke: Ob das nun sinnvoll ist und ob das legitim ist, sei mal dahingestellt. Aber ich denke mal, dass bei der Wahl dieser politischen Eliten dem Wähler nicht unbedingt klar war, in welches Fahrwasser diese Regierungen die jeweiligen Staaten bringen würden. Und ich denke mal, dass das auf mittlere Sicht auch wieder umschlagen wird und dass diese Regierungen auf mittlere Sicht dafür dann auch ihren Tribut zollen müssen.
Müller: Aber Kritiker sagen ja auch gerade, die etablierten Altparteien sind selbst schuld, dass sich die rechtspopulistischen Tendenzen so durchgesetzt haben in Europa, dass vielleicht ja auch bei den Etablierten inzwischen so viel Rücksicht darauf genommen wird.
Woyke: Natürlich ist da etwas dran, beispielsweise, gerade wenn wir das mit der Flüchtlingspolitik und Migrationspolitik nehmen, dass gerade wir in Deutschland in den Jahren ʼ12, ʼ13, ʼ14 nichts gemacht haben und die Griechen und die Italiener ziemlich allein ließen, obwohl die Italiener laut geschrien haben: Helft uns doch! Da ist natürlich etwas dran, aber das nützt ja nun alles nichts. Dieses alles führt dazu, dass die Staaten begreifen und die Gesellschaften in den Staaten, dass Flüchtlingspolitik, Migrationspolitik nur gemeinsam gelöst werden kann.
Müller: Kommen wir noch einmal auf die Innenpolitik zu sprechen. Wir haben heute den Koalitionsgipfel vor uns, heute Abend der xte Gipfel. Es geht wieder auch um Flüchtlingspolitik, es geht auch wieder um Horst Seehofer. Aus Bayern war jetzt zu hören: Wenn Horst Seehofer nicht wäre, dann wäre das mit der Union noch viel schlimmer gekommen in den vergangenen Monaten und Wochen, weil er wenigstens diese eine Position vertritt. Kann da was dran sein?
Woyke: Na ja, das ist sehr hypothetisch und lässt sich meines Erachtens nicht belegen.
Müller: Der Strauß-Faktor oder die Strauß-These von der Integration der Rechten, ist das so absurd?
Woyke: Absurd ist es ganz sicherlich nicht, aber der Spagat wäre natürlich für die CDU noch schwieriger. Aber für die CSU wäre er meines Erachtens dann auch außerordentlich schwierig, denn wenn es letztendlich dazu kommen würde, dass die CDU sich in Bayern ausbreiten würde, dann wäre der letzte Rest eines bundespolitischen Anspruches seitens der CSU vorüber.
Müller: Bei uns heute Mittag live im Deutschlandfunk der Politikwissenschaftler und Europa-Experte Professor Wichard Woyke.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.