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Politologe Woyke zu EU und Brexit
Deutsche Führungsrolle wird gleichzeitig erwartet und beklagt

Nach dem Brexit werde Deutschland nichts anderes übrig bleiben, als eine Führungsrolle in der EU zu übernehmen, sagte der Politikwissenschaftler Wichard Woyke im DLF. Mit den Briten fehle Deutschland ein großer Unterstützer in der Union. Dies gelte jedoch weniger für den politischen als für den ökonomischen Bereich.

Wichard Woyke im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Martin Zagatta: Einschätzen lassen wir uns die Ergebnisse des EU-Treffens heute jetzt von dem Politikwissenschaftler Wichard Woyke, der lange Jahre an der Uni Münster gelehrt hat. An ihn die Frage: Wenn jetzt gilt, keine Verhandlungen, bevor London offiziell den Austritt erklärt, heißt das nicht zwangsläufig Stillstand und Unsicherheit?
    Wichard Woyke: Es muss nicht Stillstand heißen. Es muss aber ganz sicherlich Unsicherheit herrschen, denn die Unsicherheit ist ja größer geworden durch den Brexit und wir haben das ja auch schon bei den ersten Unternehmen gespürt, die in ihren Aufträgen Rückschläge erlitten haben. Und diese Unsicherheiten, die sich in der Ökonomie schon zeigen, die zeigen sich dann natürlich in der Politik ebenfalls.
    Zagatta: Wenn man in dieser Situation jetzt abwarten will, nur abwarten, ist das dann Ratlosigkeit, oder können Sie dahinter auch eine Strategie entdecken?
    Woyke: Ich kann im Augenblick noch nicht die Strategie erkennen, die die EU hat beziehungsweise die auch führende Politiker in der EU haben. Hier herrscht meines Erachtens immer noch eine gewisse Ratlosigkeit, da ja das Gesetz des Handelns im Augenblick immer noch bei der britischen Regierung liegt, und solange die EU sich selbst darauf festgelegt hat, solange kein offizielles Austrittsgesuch, der Brief mit dem Austrittsgesuch in Brüssel angekommen ist, wird auch nicht verhandelt, bedeutet das, dass man sich doch hier etwas festgezurrt hat.
    "Auf Frau Merkel wird erneut die Führungsaufgabe zukommen"
    Zagatta: Dennoch muss die EU, müssen jetzt die verbleibenden 27 Staaten ja beraten, wie sie künftig ohne die Briten weitermachen wollen. Sie müssen auch beraten, ob sie sich und wie sie sich reformieren wollen. Aus Ihrer Sicht muss das heißen, mehr oder weniger Integration, mehr oder weniger EU?
    Woyke: Ich würde sagen beides, weil in bestimmten Bereichen aufgrund internationaler Entwicklungen die EU als Ganzes gefordert ist und in anderen Bereichen sich ja herausgestellt hat, dass das, was in Brüssel von den europäischen Institutionen gemacht wird, vielleicht doch nicht der Weisheit letzter Schluss ist und dass man eventuell den einen oder anderen Bereich zurückfahren könnte, wie es ja eigentlich auch das im Vertrag verankerte Subsidiaritätsprinzip vorsieht.
    Zagatta: Nun scheinen ja viele in Berlin zumindest auf eine Art Kerneuropa zu setzen, auf ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Muss Deutschland da eine Führungsrolle spielen?
    Woyke: Sagen wir so: Es wird Deutschland gar nichts anderes übrig bleiben, als eine Führungsrolle zu spielen. Es wird von Deutschland erwartet auf der einen Seite, und es wird auf der anderen Seite beklagt, dass Deutschland eine Führungsrolle spielt. Wenn wir mal zurückschauen und die Griechenland-Rettung uns anschauen, dann werden Sie feststellen, dass Frau Merkel dort erst ganz zurückhaltend war beziehungsweise sogar dagegen war, dass die Europäische Union hier helfen sollte, und später, als sie erkannte, welche dramatische Entwicklung die Griechenland-Krise für die Europäische Union nehmen sollte, sie zur dominanten Führungsfigur in diesen ganzen Rettungsaktionen wurde.
    Und das heißt: Gerade angesichts der Tatsache, dass wir es mit einem schwachen französischen Präsidenten zu tun haben und auch mit einem italienischen Ministerpräsidenten, der viel von seinem Anfangsglanz inzwischen eingebüßt hat, führt dies dazu, dass letztendlich auf Frau Merkel jetzt erneut die Führungsaufgabe zukommt.
    EU: "Auch kleinere Staaten in den Prozess einbinden"
    Zagatta: Aber in der Vergangenheit, da standen die Briten ja oft an der Seite von Berlin. Kann die Bundesregierung jetzt ohne die Briten diese Führungsrolle überhaupt noch spielen? Verschieben sich da nicht auch die Gewichte?
    Woyke: Ich denke, die Führungsrolle wird man schon spielen können. Sie haben recht, dass die Briten dann nicht mehr dabei sind und dass damit ein großer Unterstützer fehlt. Dieser große Unterstützer war aber nicht so sehr in der Politik, in den politischen Bereichen, sondern mehr im ökonomischen Bereich vorherrschend, während die Unterstützung im politischen Bereich ja auch von kleineren Ländern wie den Benelux-Staaten und Finnland kam.
    Und es wird darauf ankommen, auch gerade die kleineren Staaten und auch einen Staat wie Polen in den Prozess einzubinden, der lauten muss, dass die Europäische Union dort, wo sie sinnvoller gemeinsam agieren kann, gemeinsam agiert und dort, wo es vielleicht sinnvoller ist - ich denke, durchaus in manchen landwirtschaftlichen Bereichen -, den Einzelstaaten wieder einiges zurückzuüberweisen.
    EU-Pläne zum CETA-Abkommen: "Halte ich politisch für falsch und kontraproduktiv"
    Zagatta: Herr Woyke, ausgerechnet in diesen schwierigen Tagen will die EU-Kommission jetzt bei CETA, beim Handelsabkommen mit Kanada, die nationalen Parlamente außen vor halten. Wirkt das nicht höchst undemokratisch, höchst kontraproduktiv?
    Woyke: Herr Juncker, wie ich ihn heute Abend verstanden habe, mag ja juristisch im Recht sein, ist meines Erachtens aber politisch kontraproduktiv. In dieser Situation, wo die Briten gerade ihren Brexit positiv gestimmt haben, wenn auch mit sehr knapper Mehrheit, ist es natürlich nicht sehr glücklich, wenn man einen Bereich, der auch gerade in Großbritannien in dieser Kampagne eine Rolle gespielt hat, nämlich die mangelnde Demokratisierung der EU, wenn man den jetzt verlässt und sagt, das ist ein originär gemeinschaftlicher Bereich, der Handel, den wir auch seit Jahren so betreiben, und das geht eigentlich nur die Gemeinschaftsinstitutionen was an. Das halte ich politisch für falsch und kontraproduktiv.
    Zagatta: Und jetzt gibt es auch noch ein Gerichtsurteil, bei dem von Richtern in Luxemburg diejenigen, die die skandalösen Steuer-Deals mit Großkonzernen öffentlich gemacht haben, zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden. Und der Mann, unter dem das stattgefunden hat, Jean-Claude Juncker, ist und bleibt Kommissionspräsident. Nährt das nicht auch jedes Vorurteil gegen die EU?
    Woyke: Das wird Vorurteile weiter bestätigen, wenngleich man sehen muss, dass Jean-Claude Juncker in seiner Zeit als Finanzminister und als Ministerpräsident des Großherzogtums Luxemburgs ja im Einvernehmen mit den übrigen Kollegen des Europäischen Rates diese Steuerpolitik für Luxemburg praktiziert hat.
    Die haben zwar nicht jedes Detail darüber gewusst, die wussten aber, dass Luxemburg unter Juncker ein ökonomisch erfolgreiches Land war und besonders im Finanzsektor unterwegs war, und wenn man nach Luxemburg kam, konnte man das ja auch sehen, wenn man beispielsweise erkannte, wie viele neue Banken und Filialen von Banken dort dann gebaut wurden. Das war schon erstaunlich.
    Zagatta: Der Politikwissenschaftler Wichard Woyke. Herr Woyke, ich bedanke mich für das Gespräch.
    Woyke: Ja, gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.