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Politologe zu Johnson-Niederlage
"No-Deal-Brexit wird unwahrscheinlicher"

Der britische Supreme Court hat die von Premierminister Johnson verfügte Zwangspause des Parlaments einkassiert. Johnson stehe jetzt enorm unter Druck, sagte der Politologen Jonathan Worth im Dlf. Eine Lösung könnten Neuwahlen und drei Monate mehr Zeit von der EU sein.

Jonathan Worth im Gespräch mit Sandra Schulz |
Ein Demonstrant im Sträflingsanzug und mit Boris-Johnson-Maske sitzt vor dem Supreme Court in London und hält ein Schild mit der Aufschrift "Boris Johnson: Schuldig".
"Schuldig im Sinne der Anklage" - Protest gegen Premier Boris Johnson vor dem Supreme Court in London (Tolga Akmen / AFP)
Sandra Schulz: Eine fundierte, wenn auch vielleicht angesichts der Spannung etwas längliche Tour d’Horizon durch das britische Verfassungsrecht, die konnten gerade alle genießen, die die Urteilsverkündung des britischen Supreme Court verfolgt haben - zur Zwangspause, die der britische Premier Johnson dem Parlament in Großbritannien ja verordnet hatte. Aus Berlin zugeschaltet ist uns Jonathan Worth, Politikwissenschaftler, Blogger und britischer Staatsbürger. Schönen guten Tag!
Jonathan Worth: Guten Tag!
Schulz: Ein britischer Premier, der vom obersten Gericht attestiert bekommt, Recht gebrochen zu haben. Kann der im Amt bleiben?
Worth: Er hofft natürlich, dass er im Amt bleiben kann - aber schon alle Oppositionsparteien, nicht nur Labour, sondern auch die schottischen Nationalisten, die Grünen, haben gesagt: Er muss unbedingt jetzt zurücktreten. Er ist unter enorm viel Druck - besonders, weil die Richter einstimmig entschieden haben, und zweitens, weil das Unterhaus, wie wir gerade gehört haben, jetzt wieder tagen kann. In den kommenden Tagen wird Boris Johnson unter enorm viel Druck sein. Das ist der Kampf seines politischen Lebens jetzt.
Schulz: Aber was spricht dafür, dass er sich von diesem Druck beeindrucken lässt? Wir haben ja bisher auch schon die Situation gehabt, dass er sagt, was das Parlament entscheidet in Sachen No-Deal-Brexit, ist mir doch egal.
Worth: Ja, aber es gibt natürlich einen anderen Weg. Das wäre ein Misstrauensvotum. Der Oppositionschef Jeremy Corbyn hat schon gesagt, es wäre ihm lieber, wenn Boris Johnson selbst zurücktritt, aber es wäre dann auch möglich, dass Corbyn sagt, okay, dann leiten wir ein Misstrauensvotum ein. Es wäre dann die Frage, wie wählen dann die Konservativen und die Ex-Konservativen, die Johnson vor ein paar Wochen rausgeschmissen hat. Wie stehen dann diese pragmatischen Konservativen zu einer Frage des Misstrauensvotums? Das wäre dann ein Mittel, wenn Johnson nicht selbst geht, dass die Oppositionsparteien dies dann selbst mittels eines Misstrauensvotums machen können.
Misstrauensvotum gegen Johnson - oder Rücktritt?
Schulz: Und das wäre auch Ihre Einschätzung, das wäre die nächste Amtshandlung, die dann im Parlament läuft, so es zusammentritt?
Worth: Das Parlament tagt dann mal wieder. Es gibt natürlich auch dann ein Problem: Wie sieht dann alles aus im Zusammenhang mit den Brexit-Verhandlungen? Wir wissen zumindest, dass dank des Gesetzes, worüber sie vor ein, zwei Wochen abgestimmt haben, Boris Johnson verpflichtet ist, oder der Premierminister verpflichtet ist, am 17. Oktober zum EU-Gipfel in Brüssel zu gehen und eine Verlängerung der Verhandlungsperiode für den Brexit zu beantragen. Das wollte Johnson selbst nicht machen. Das Problem ist: Wenn Boris Johnson zurücktritt, oder ein Misstrauensvotum erfolgreich ist, wer kann das dann machen, nach Brüssel gehen zu dem Gipfel und den Brexit halbwegs lösen, damit Großbritannien nicht am 31. Oktober aus der EU stürzt? Das ist dann dieser Zusammenhang zwischen der politischen Zukunft Boris Johnsons und der kurzfristigen Zukunft des Brexit. Die sind nah miteinander verbunden.
Schulz: Wäre das dann womöglich eine relativ elegante Art von Boris Johnson, sich aus der Affäre zu ziehen, sich jetzt einfach zurückzuziehen und zurückzutreten?
Worth: Das könnte ein Weg sein für Boris Johnson. Er könnte einfach sagen: Okay, ich trete jetzt zurück, nach meiner Meinung habe ich alles versucht, um einen Brexit bis zum 31. Oktober zu machen, das war nicht erfolgreich, das war das böse Unterhaus und die bösen Richter, die mich gestoppt haben, wir gehen jetzt in eine Unterhauswahl und ich tue, was das britische Volk will, die haben für einen Austritt gestimmt, also wählt dann mal konservativ und ich liefere dann letztendlich diesen Brexit gegen die politische und juristische Elite des Landes. Das wäre halbwegs das Argument von Boris Johnson. Er könnte als Premierminister zurücktreten, weiterhin Parteichef der Konservativen bleiben und dann die Partei in eine Unterhauswahl als Parteivorsitzender hineinführen. Das wäre ein Weg für ihn.
Labour im Brexit-Dilemma
Schulz: Wir wissen, dass der Labour-Chef Jeremy Corbyn mit den Hufen scharrt, dass der auch auf eine Möglichkeit wartet, nach der Macht zu greifen. Ist das jetzt seine Stunde?
Worth: Das wäre möglich. Aber wie wir schon an den vorherigen Tagen vom Labour-Parteitag in Brighton gehört haben, hat er selbst einige Schwierigkeiten. Labours eigene Brexit-Position ist nicht unbedingt klar. Die wollten auch eine Art Brexit, einen sanfteren Brexit als die Konservativen. Das bedeutet, Boris Johnson zu kritisieren, ist für Corbyn einfach. Eine gute alternative Lösung zu finden, ist auch für ihn sehr schwierig. Es gäbe auch Schwierigkeiten für Labour, wenn eine Unterhauswahl dann stattfinden muss, weil in den Meinungsfragen war Labour vor ein paar Tagen nur auf dem dritten Platz hinter den Konservativen sowie hinter den Liberal Democrats. Es ist für Corbyn auch sehr schwierig. Es ist nicht einfach für ihn.
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Schulz: Sie haben es jetzt noch relativ freundlich umschrieben, was andere vielleicht etwas drastischer formulieren würden: dass Labour schlichtweg zur Brexit-Frage nach wie vor ja auch unter der Führung von Jeremy Corbyn ziemlich herumeiert. Trauen Sie ihm das zu?
Worth: Das Problem ist grundsätzlich, dass viele Labour-Abgeordnete aus Wahlkreisen kommen, wo eine Mehrheit der Wähler für den Brexit gestimmt haben. Diese Abgeordneten besonders in den nordenglischen Ex-Industriestädten, die haben Angst, wenn sie dem Brexit so begegnen, dass sie an Stimmen verlieren bei einer Unterhauswahl. Das ist genau das Problem für Jeremy Corbyn und für Labour. Das bedeutet, eine klare Position einzunehmen ist für die Labour-Partei sehr schwierig.
Was Jeremy Corbyn zumindest gesagt hat, ist: Er ist jetzt klar und definitiv für ein zweites Referendum. Aber er weigert sich noch, zu sagen: wo genau Labour bei so einem Referendum steht, für oder gegen den Brexit. Aber zumindest hat sich seine Position zu einem Referendum ein bisschen bewegt. Das bedeutet aus meiner Sicht: Ich denke, wir können nichts mehr erwarten von Jeremy Corbyn. Er ist selbst auch so ein euroskeptischer Politiker. Es ist traurig aus meiner Sicht, dass er noch Parteichef ist, aber er ist noch sicher im Amt. Ich denke, wir können zurzeit nicht mehr von Jeremy Corbyn erwarten.
"Anhänger eines No-Deal-Brexits haben verloren"
Schulz: Jetzt müssen wir es natürlich noch abbinden auf dieses Datum, auf das im Moment alles zuläuft: 31. Oktober. Das ist ja der Tag, an dem der ungeregelte Brexit kommt, wenn bis dahin jetzt nicht noch irgendwas passiert, die nächste Verlängerung oder die nächsten Verhandlungen mit der EU, oder gar ein Deal. Was ist denn Ihre Einschätzung? Was bedeutet diese Entscheidung heute für dieses No-Deal-Brexit-Szenario? Ist das heute wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher geworden?
Worth: Aus meiner Sicht ist es unwahrscheinlicher geworden. Einen No-Deal-Brexit will Boris Johnson und eine relative kleine Gruppe rechter, radikalerer Menschen bei den Konservativen. Diese Menschen haben heute deutlich verloren und Boris Johnsons eigene Zukunft ist jetzt in Frage. Das bedeutet, dass die Chancen steigen, dass Boris Johnson durch irgendeinen Übergangs-Premierminister, vielleicht der ehemalige Finanzminister Kenneth Clarke ist gerade im Spiel, ersetzt wird, der als Übergangsperson nach Brüssel gehen könnte als möglicher Johnson-Nachfolger, um diese drei Monate lange Verlängerung mit der EU zu verhandeln. Ich gehe davon aus, dass heute die Chancen auf einen No Deal ein bisschen geringer geworden sind, nicht höher.
Schulz: Und was genau wäre mit einer nochmaligen dreimonatigen Verlängerung gewonnen?
Worth: Genug Zeit, um eine Unterhauswahl zu organisieren. Neuwahlen wollte Boris Johnson schon. Eine Unterhauswahl will Labour-Parteichef Corbyn, und die Liberalen sowie die schottischen Nationalisten können auch damit gut leben. Das wäre eine Möglichkeit, diese ganze Situation in Großbritannien zu entriegeln, weil aus meiner Sicht ein Brexit mit einem Deal aus dem jetzigen House of Commons vollkommen unmöglich ist. Die wollen keinen No Deal, aber die haben keine Mehrheit für irgendeinen anderen Deal. Das bedeutet: Der einzige Weg, eine Mehrheit für irgendwas zu kriegen auf der britischen Seite, wäre aus meiner Sicht dann eine Unterhauswahl. Drei Monate Zeit von der EU wäre ausreichend Zeit für Großbritannien, diese Neuwahl letztendlich zu organisieren, und danach haben wir dann vielleicht ein bisschen Klarheit.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.