Dirk Müller: Sogar SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel kann und will wohl auch nicht anders argumentieren. "Wir haben einen Machtkampf und permanent Chaostage in der Koalition." Klar und deutlich ausgesprochen. Dabei geht es den Sozialdemokraten vor allem um die Union, also um CDU und CSU, um Thomas de Maizière, denn der Bundesinnenminister hatte gute 24 Stunden nach der vermeintlichen Einigung vergangenen Donnerstag im Kanzleramt den Grundkonsens wieder aufgekündigt. Er musste dann alles wieder ein bisschen relativieren, aber eben nur ein bisschen, bis schließlich Wolfgang Schäuble zur Hilfe kam. Und wo ist die Kanzlerin?
Krisenstimmung in der Koalition. Seit Wochen Streit um die Flüchtlingspolitik, dann eine Einigung, dann wird das Ganze wieder umgestoßen, relativiert, infrage gestellt.
Ein desaströses Bild also der Großen Koalition in der Öffentlichkeit - unser Thema nun mit Professor Everhard Holtmann, Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg. Guten Tag!
Ein desaströses Bild also der Großen Koalition in der Öffentlichkeit - unser Thema nun mit Professor Everhard Holtmann, Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg. Guten Tag!
Everhard Holtmann: Hallo, Herr Müller.
Müller: Herr Holtmann, ist die Regierung nicht mehr in der Lage, vernünftig zu regieren?
Holtmann: Nun, es entsteht zumindest der Eindruck von Hektik und einer fast unkontrollierten Serie von Zwischenrufen aus der Regierung selbst heraus und unterhalb der Regierung heraus aus dem Zusammenspiel von Parteien und Regierungsmitgliedern. Ich denke, das Problem ist deshalb so kompliziert und bisweilen auch unüberschaubar, weil sich mindestens drei Problembereiche überlagern. Da ist zum einen das ja auch nachvollziehbare Bestreben der Akteure, der Kanzlerin und der beiden anderen Parteivorsitzenden, nach Außen hin auch gegenüber der Bevölkerung Handlungsfähigkeit zu bewahren. Das glaubte man, mit dem am Donnerstag gefundenen Kompromiss fürs Erste gesichert zu haben. Die zweite Problemebene ist, dass eine Große Koalition zumal ihren eigenen Handlungslogiken immer folgt, und das bedeutet, dass der Zwang und auch der Wille zum Konsens das eine sind, dass aber das Profilierungsbedürfnis der einzelnen Koalitionsparteien im Hinblick auf die nächsten Wahlen das andere ist. Das muss auch immer wieder neu austariert werden und erklärt zum Teil jedenfalls auch diese Kakofonie von unterschiedlichen Stimmen. Und das Dritte ist: Es ist ja sicherlich schon längst intern eine Reflexion darüber im Gange, dass die künftigen Szenarien der Handhabung der Regelung des anhaltenden Flüchtlingszustroms ja diskutiert und auch entworfen werden müssen. Nach meiner Einschätzung besteht eigentlich kaum noch Zweifel daran, dass der Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerbern in irgendeiner, eben auch humanen Form gedrosselt werden muss. Weil ja die Bekämpfung der Fluchtursachen längere, unkalkulierbare Zeit immerhin dauert und weil ja offenbar auf der anderen Seite auch die Mitgliedsstaaten der EU in der Verteilung von Flüchtlingskontingenten derzeit ein europapolitisches Armutszeugnis abliefern.
Müller: Ist das die fatale Folge der Willkommenseinladung der Kanzlerin?
Holtmann: Nein, das denke ich nicht, denn das war auch aus meiner Sicht ein angemessenes Signal. Wir sind ein sehr reiches, ökonomisch gut aufgestelltes Land und wir haben uns auch unserer eigenen Vergangenheit immer wieder zu vergewissern, die ja zu Zeiten der Diktatur auch durch entsprechende Herausweisung von deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gekennzeichnet gewesen ist. So gesehen halte ich gegenwartsbezogen und auch und gerade historisch dieses Wort der Kanzlerin für sehr angemessen.
Müller: Herr Holtmann, reden wir über die Akteure in der Koalition. Sie sagen, es ist auch eine Entscheidungsfindung und die ganze Problematik ist sehr komplex. Das will keiner bestreiten. Thomas de Maizière, ist er der böse Bube in diesem Spiel?
Holtmann: Ich denke nicht, dass man vom bösen Buben hier sprechen sollte. Wie immer nun seine Motivation, hier mit diesem Vorschlag vorzupreschen gewesen sein mag, ich gehe davon aus, dass solche Szenarien den Akteuren innerhalb der Koalition längst bekannt sind, gewesen sind, und dass man wie gesagt auch in dieser Richtung sicherlich weiterdenken muss vor dem Hintergrund, dass andere entlastende Maßnahmen nur unwägbar oder gar nicht ins Haus stehen.
Müller: Geht er damit gegen die Kanzlerin vor?
De Maizières Aussagen waren nicht abgesprochen
Holtmann: Das ist zumindest ein Ausbrechen aus dem mit der Kanzlerin ja gefundenen und auch von der Kanzlerin präsentierten Kompromiss des vergangenen Donnerstag, und so ist ja auch die entsprechende Aussage und auch Richtigstellung des Kanzleramtsministers Altmaier zu verstehen.
Müller: Ist das abgesprochen, um da noch mal nachzufragen? De Maizière macht den Vorstoß, rudert ein bisschen zurück, dann kommt Wolfgang Schäuble, einer der entscheidenden Figuren nach wie vor in der Union, und der sagt, war völlig richtig?
Holtmann: Ich denke nicht, dass es abgesprochen war. Man darf ja auch nicht vergessen: Innerhalb der Union sind unter der Decke des schließlich gemeinsam gefundenen und nach außen hin auch kommunizierten Koalitionskompromisses ja entsprechende Flügel und Strömungen auch präsent. Innerhalb der Union wurde und wird ja auch schon vor dem Donnerstag - und das wird nach diesem letzten Donnerstag sich nicht ändern - eine entsprechende lebhafte interne Debatte geführt. Das ist ja auch nicht ganz so dramatisch für die interne Vielfalt einer großen Volkspartei.
"Unglückliche Abfolge von Kommunikationsangeboten"
Müller: Lassen Sie mich, Herr Holtmann, das mal aus der Medienperspektive fragen und Sie bitten, von außen draufzuschauen. Lassen sich die Medien ein bisschen an der Nase herumführen? Wenn wir über diesen Donnerstag-Kompromiss noch einmal sprechen. Da machen wir einen Riesenbohei über Wochen, über Tage in absoluter Verdichtung. Die Politik tut das, die Medien tun das auch, andere Beobachter ebenfalls. Da wird ein Beschluss gefasst, Transitzonen contra Einreisezentren und so weiter. Ein paar Stunden später sagt Sigmar Gabriel, der das Ganze ja alles mit forciert hat, wir reden hier über zwei Prozent der Flüchtlingszahlen, die da betroffen sind. Ein Bohei, der es nicht wert ist?
Holtmann: Das ist mit Sicherheit auch dann eine unglückliche Abfolge von Kommunikationsangeboten von der politischen Seite heraus. Ich kann ein Stück weit auch die Frustration der Medien nachvollziehen. Auf der anderen Seite: Sie können ja gar nicht anders, als möglichst minutiös den Ablauf der Entscheidungsbildungen und auch der Deutungsangebote der Regierenden, der Politik entsprechend dann auch nach außen zu kommunizieren.
Berichterstattung über Asylkompromiss war "angemessen"
Müller: Aber ist das angemessen? Ist das angemessen, diese Intensität der Berichterstattung für zwei Prozent der Betroffenen?
Holtmann: Ich denke, die zwei Prozent sind ja nicht alleine die kritische Masse, die in dem gesamten Beschluss drinsteckt. Es handelt sich ja um einen Beschluss mit vielen einzelnen Punkten und dem Versuch jedenfalls, das entsprechend komplexe Problem auch von möglichst vielen Perspektiven her nicht nur anzusehen, sondern auch einer Lösung zuzuführen, und von daher ist die Berichterstattung über diesen Koalitionskompromiss des vergangenen Donnerstag angemessen gewesen. Ich würde mich unterinformiert fühlen, auch als Beteiligter einer medienvermittelten demokratischen Gesellschaft, wenn die Medien hier gedrosselt berichten würden.
Müller: Und auch jetzt tun wir ja ein bisschen so - ich rede immer noch von uns, von den Journalisten im Allgemeinen -, dass die Koalition kurz vor dem Zusammenbruch steht, jetzt ein bisschen übertrieben von mir, aber Riesenkoalitionskrise. Sind es nur Scharmützel, die ganz schnell wieder gelöst werden?
Holtmann: Es ist mehr als ein Scharmützel. Aber es ist meines Erachtens auch deutlich unterhalb der Schwelle von ernsthaften Koalitionskrisen. Es gibt - und das ist allen Beteiligten bewusst, auch wenn sie in Sachfragen in diesem Politikfeld unterschiedlicher Meinung sind -, es gibt im Grunde genommen zu dieser Großen Koalition keine ernsthafte Alternative. Man sollte allerdings erwarten, dass die Breite, die ja auch durch eine solche Koalition in der Bevölkerung repräsentiert wird, zu stabilen und berechenbaren Handlungsempfehlungen kommt.
Müller: Gibt es in dieser Frage, in der Flüchtlingspolitik, in der gesamten Vielfalt dieser Flüchtlingspolitik dann eine Alternative zu dieser Kanzlerin?
Holtmann: Ich denke, die Frage stellt sich derzeit nicht, denn diese Koalition steht und fällt auch mit der Kanzlerin, mit der Kanzlerschaft von Angela Merkel. Und die Tatsache, dass sich die Kanzlerin bisher in dieser neu aufgeflammten Kontroverse, in diesen Zwischenrufen nicht beteiligt, lässt meines Erachtens auch auf eine entsprechende Stabilität von innen heraus schließen.
"Rechte Parteien profitieren von aufgeputschter Flüchtlingsdebatte"
Müller: Lohnt es sich für die rechten Parteien, sich die Hände zu reiben?
Holtmann: Na ja. Die rechten Parteien profitieren von dem Wasser, was auf die Mühlen einer demagogisch auch entsprechend aufgeputschten Flüchtlingsdebatte geleitet wird. Das ist keine Frage. Die Umfragen zeigen das ja. Und auch das lässt im Grunde genommen nur die Schlussfolgerung zu, dass sich die demokratische Politik, in Sonderheit in Gestalt der Regierung, entsprechend handlungsfähig und berechenbar erweist und auch sich nicht in die Defensive drücken lässt. Denn es gibt nach wie vor gute Gründe, humanitärer, aber auch pragmatischer Natur, sich zu einem entsprechenden, wenn auch komplizierten Handlungskonzept zu verstehen, was außerhalb der Vorurteile, was außerhalb der Ressentiments und der Hetze gegen entsprechende Personen und Akteure bleibt.
Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Professor Everhard Holtmann, Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg. Danke, dass Sie Zeit für uns gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag.
Holtmann: Bitte schön! Ihnen auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.