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Politologe zum Nahost-Konflikt
"Gleiche Maßstäbe für Hamas und für Israel"

Im Nahost-Konflikt werde zu viel über Gewalt und Vergeltung gesprochen, sagte Politologe Jochen Hippler im Dlf. Eine politische Lösung sei möglich, wenn man von außen Druck auf die Hamas und auf die israelische Regierung ausübe. Für beide müssten die gleichen Maßstäbe des Völkerrechts angewendet werden.

Jochen Hippler im Gespräch mit Dirk Müller |
Ein Wachbeamter der Hamas in den Trümmern eines durch einen israelischen Raketenangriff zerstörten Gebäudes in Gaza-Stadt
"Gewaltakte sind Symptome, nicht das Kernproblem" - Gaza-Stadt nach israelischem Raketenangriff: (AFP / Mahmud Hams)
Dirk Müller: Es ist eine Spirale, die fast immer nach denselben Regeln, nach denselben Ritualen abläuft - oft mit tödlichen Folgen, mit Verletzten. Die Gewaltspirale im Nahen Osten: Die Hamas feuert mutmaßlich Raketen ab, auf israelisches Territorium; die Israelis feuern zurück, mit deutlich mehr Feuerkraft. Die Sicherheit der Bürger ist das Entscheidende, sagt Benjamin Netanjahu, zwei Wochen vor den Wahlen jetzt in Israel.
Die Gewaltspirale funktioniert wieder, sagen Kritiker, oder sie agiert wieder, je nach Perspektive dieser Betrachtung. Und sie wird dann auch wieder angehalten, wie wir festgestellt haben. Am Vormittag jedenfalls ist es ruhig geblieben, auch heute Nacht hat es weniger Feuer gegeben als in den zurückliegenden Stunden. Der Politikwissenschaftler und Nahost-Kenner Professor Jochen Hippler von der Universität in Duisburg ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Tag!
Jochen Hippler: Guten Tag, Herr Müller.
Müller: Wieder Gewalt im Nahen Osten. Ist das alles nur ein bisschen Routine?
Hippler: Na ja. Man hat sich natürlich inzwischen daran gewöhnt. Seit Jahrzehnten haben wir eine Situation, wo Gewaltausbrüche von einer Seite mit Gewaltvergeltung von der anderen Seite beantwortet werden, und das setzt dann so eine Spirale in Gang. Das hilft den Menschen aber auf beiden Seiten des Konfliktes überhaupt nicht, und was tatsächlich eigentlich dringend wäre, wäre, eine politische Gesamtlösung zu machen, statt immer in die Lage zu kommen, auf einzelne Gewaltakte reagieren zu müssen.
"Die Hamas ist tatsächlich unter politischem Druck"
Müller: Warum macht die Hamas das nach wie vor?
Hippler: Nun, die Hamas ist tatsächlich unter politischem Druck. Das ist gerade ja auch gesagt worden. Sie ist in der Defensive, weil die Lebensbedingungen im Gazastreifen tatsächlich furchtbar sind. Das liegt nur zum Teil an der Hamas selbst, aber die ist sicher kein sehr hilfreicher Faktor. Ihre Glaubwürdigkeit, die sie früher hatte, ist bei der eigenen Bevölkerung zusammengebrochen und da ist die Versuchung relativ groß, durch einen Konflikt gegen einen Gegner sich wieder ein bisschen Legitimität verschaffen zu wollen. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass es natürlich dschihadistische Gruppen gibt, auch im Gazastreifen, die teilweise nicht von der Hamas kontrolliert werden und die versuchen, durch eigene Gewaltaktionen die Hamas noch mal zusätzlich unter Druck zu setzen.
Müller: Gegenfrage, Herr Hippler: Auch die Israelis haben nach dieser Logik der Gewaltspirale, dieser Gewaltroutine, wie immer wir das auch bezeichnen, auch keine andere Alternative, keine andere Wahl, als dann jeweils, wenn die Raketen fliegen, ebenfalls Raketen zu schicken?
Hippler: Na ja. Das ist das, was ich meinte. Man hat natürlich eine Wahl, das Gesamtproblem politisch zu lösen. Der Gazastreifen ist tatsächlich ein großes Freiluftgefängnis mit Lebensbedingungen, die man keinem Menschen zumuten möchte. Letztlich wird man das Problem nicht dadurch lösen, dass man Vergeltung übt auf einzelne Fälle. Da können beide Seiten manchmal Gründe für nennen, auch die israelische natürlich, jetzt in diesem Fall zum Beispiel. Aber das Problem ist, die Zwei-Staaten-Lösung, die immer schwerer zu verwirklichen ist, dass beide Seiten tatsächlich darauf arbeiten müssen, auch die internationale Gemeinschaft, das endlich zustande zu kriegen. Der Konflikt um Palästina und mit Israel ist ein bisschen ungewöhnlich, weil jeder seit 20 Jahren oder 25 Jahren die Lösung kennt, nämlich endlich die Zwei-Staaten-Lösung umzusetzen, und sie trotzdem nicht angegangen wird. Das ist das Kernproblem. Diese ganzen wechselseitigen Gewaltakte sind Symptome und nicht das Kernproblem.
"Keine Applauskulisse für eine Seite"
Müller: Viele, die das von außen betrachten, und viele Journalisten, Interessierte allgemein, Hörer von uns ja auch, Fernsehzuschauer, die das immer mitbekommen aus den Medien, sind ja hin und hergerissen. Manchmal plädiert man für die Palästinenser, dann plädiert man wieder für die Israelis, vielleicht auch je nach Skalierung der Gewalt und wer gerade angefangen hat und wer gerade das vielleicht am günstigsten oder, sagen wir mal, am überzeugendsten interpretiert. Ich habe Sie zu Beginn gefragt, warum macht die Hamas das. Ist die Hamas nicht nur das Problem?
Hippler: Nein, sicher nicht. Die Hamas ist ein Problem, aber der ganze Konflikt-Knäuel, den wir da haben, ist wesentlich komplizierter. Und wir müssen daran denken, Sie haben ja völlig recht: Es gibt immer die Versuchung, eine der beiden Seiten besonders zu kritisieren oder Verständnis zu haben für die Gegengewalt einer anderen Seite. Das ist aber kein Fußballspiel. Es geht nicht darum, zu jubeln oder zu kritisieren, wer gerade besonders recht hat, Vergeltung zu üben. Das ist mal die eine, mal die andere Seite. Das hilft aber wirklich nicht, den Friedensprozess in Gang zu kriegen. Wir müssen tatsächlich bei der Betrachtung dieses Konfliktes heraus, dass wir je nach Situation mal der einen, mal der anderen Seite oder immer der gleichen einfach dann das Recht geben, diese Gewalt auszuüben, sondern es geht tatsächlich darum, das Problem politisch zu lösen. Das ist durch Raketenangriffe auf Israel nicht möglich und das ist durch Vergeltungsschläge Israels auch nicht möglich. Wir kennen die mögliche Lösung des Konfliktes und es ist wirklich unglaublich frustrierend, dass da seit über einer Generation jeder die Lösung kennt, wir aber immer darüber diskutieren müssen, ob der jetzige Gewaltakt von dieser Seite berechtigt war oder nicht berechtigt war.
Müller: Jetzt fordern Sie, Herr Hippler, ja in vielen Interviews immer wieder, auch in Ihren Aufsätzen, faire Bedingungen vor Ort und eine faire Lösung, Zwei-Staaten-Lösung, wo beide Seiten dann entsprechend mit leben können. Jetzt argumentieren viele Israelis und offenbar immer auch noch die Mehrheit der Israelis, die ja nicht per se immer auf Seiten von Benjamin Netanjahu, auf Seiten der Konservativen sind, sie sagen nach wie vor: Wie kann es sein, auch aus der internationalen Brille gesehen, dass von uns verlangt wird, dass eine Demokratie mit einer Terrororganisation kooperiert, verhandelt und dann einen fairen Deal hinbekommt?
Hippler: Na ja. Wir müssen versuchen, gleiche Maßstäbe für alle zu entwickeln. Wir dürfen nicht tatsächlich als Applauskulisse für eine Seite da sein. Wir müssen mit gleichem Maß herangehen.
Gleiche Maßstäbe für Hamas und Israel
Müller: Auch für die Hamas? Auch für eine Terrororganisation?
Hippler: Natürlich! - Was heißt Terrororganisation? Wenn Sie durch den Gazastreifen reisen, oder wenn Sie durch Palästina, durch die Westbank reisen, dann werden viele Leute sagen, dass das eine repressive, eine schlechte Organisation ist. Aber sie ist wesentlich komplexer. Sie hat Terrorakte durchgeführt. Das haben relativ viele Akteure in der Region. Das ist furchtbar, das muss kritisiert werden. Aber wir müssen tatsächlich die gleichen Maßstäbe an alle anlegen. Das Völkerrecht muss für alle angewandt werden, die Hamas und Israel. Die Menschenrechte als Kriterium müssen der Hamas entgegengehalten werden und der israelischen Regierung entgegengehalten werden. Wenn wir nicht bereit sind, die gleichen Maßstäbe des Völkerrechts und der Menschenrechte anzuwenden, dann sind wir tatsächlich nicht hilfreich bei der Konfliktlösung.
Müller: Tun wir das nicht?
Hippler: Nee, das glaube ich nicht. Zum Beispiel Ihre berechtigten Fragen, wer denn jetzt eigentlich mehr Schuld hat und welcher Gewaltakt auf wen reagiert, da lassen wir uns auf eine Ebene taktischer Gewaltanwendung zurückbringen. Aber es wird wenig über die Frage von Völkerrecht diskutiert. Denken Sie daran: Gerade hat der amerikanische Präsident die Annexion der Golanhöhen durch Israel akzeptiert - völkerrechtswidrig. Wir haben gerade wieder Diskussionen, dass die tschechische Regierung die Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt - nach überwältigender Mehrheit aller anderen Staaten, fast aller anderen Staaten und des Völkerrechts. Wenn wir das nicht mit einbeziehen, sondern uns immer nur auf diese Gewaltausübung einer oder der anderen Seite konzentrieren, verpassen wir die tatsächlichen Möglichkeiten, den Konflikt zu dämpfen.
Müller: Das heißt, der demokratische Westen ist auch Nährboden für neue Gewalt und für neuen Terror?
Hippler: So würde ich das nicht sagen.
Müller: Mit diesen Entscheidungen, die Sie gerade genannt haben.
Hippler: Man ist zumindest nicht hilfreich. Ich würde nicht sagen, dass jetzt diese Schweigsamkeit oder diese Unfähigkeit manchmal westlicher Politik direkter Nährboden ist. Aber man macht auf jeden Fall nicht das, was man tun könnte, um die Gewalt zu überwinden, weil das geht nämlich nur, wenn man auf die Hamas Druck ausübt und wenn man auf die israelische Regierung Netanjahu Druck ausübt. Das sind Dinge, die beiden widerstreitenden Konfliktparteien von außen tatsächlich dazu zu bewegen, sich an Menschenrechte und ans Völkerrecht zu halten. Das ist die einzige Ausgangslage, die auch prinzipiell akzeptabel für beide Seiten sein könnte.
Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Politikwissenschaftler und Nahost-Kenner Professor Jochen Hippler. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
Hippler: Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.