Dirk Müller: Generaldebatte im Bundestag - so steht es sachlich nüchtern bei den Nachrichtenagenturen geschrieben heute Morgen. Die Generaldebatte ist die generelle grundsätzliche Aussprache, ein Schlagabtausch, wenn es gut läuft, die Chance für die Opposition, die Regierungschefin für alles das kritisieren zu können, was sie tut, und ebenso für so gut wie alles zu attackieren, wenn es möglich ist. Die Karten stehen ganz günstig für die Linken und für die Grünen im Moment, denn Angela Merkel ist angeschlagen, vor allem auch, weil sie in den eigenen Reihen offenbar immer weniger Zustimmung findet, vor allem auch beim Thema Flüchtlingspolitik. Die Flüchtlingspolitik ist äußerst heftig diskutiert worden, die Türkei-Politik, die Anti-Terror-Politik, die Kanzlerin massiv unter Druck, auch wegen der anhaltenden Diskussion über vermeintliche Obergrenzen. Am Telefon ist nun der Politikwissenschaftler und Parteienforscher Professor Karl-Rudolf Korte von der Universität in Duisburg. Guten Tag.
Karl-Rudolf Korte: Hallo, Herr Müller.
Müller: Herr Korte, wann kommt die Kanzlerin in der Flüchtlingspolitik auf Kurs?
Korte: Sie ist im Moment durchaus in ihrem Kurs bestätigt worden. Das zeigt auch die heutige Debatte. Es ist ja eher beängstigend: Es gibt eine Solidarisierung um diese Kanzlerin herum parteiübergreifend noch mal durch die Terrorakte in Paris, letztlich auch durch den Seehofer-Affront vor ein paar Tagen. Alle huldigen geradezu der Kanzlerin und das ist in Zeiten der Großen Koalition für eine Generaldebatte in dieser Ausprägung nicht erwartbar. Ansätze dazu ja, aber nicht in dieser Dimension.
Müller: Und Sie meinen, dieser Kurs, der im Moment von ihr gefahren wird, ist der Kurs, der in einem halben Jahr auch noch besteht?
Korte: Ja! Sie hat ja ihren Kurs internationalisiert geradezu. Sie hat 30 Maßnahmen, die sie beschreibt, und zehn davon werden vielleicht greifen. Manche sind kurzfristig, manche langfristig. Ich sehe keinen in der Generaldebatte, der grundsätzlich etwas dagegen hat, denn es geht darum, ja nicht nur Flüchtlings-Idealismus zu thematisieren, sondern auch Grenzen des Guten, und die sind ja von ihr auch benannt worden, die sich in vielen Bereichen darauf beziehen, dass man den Katastrophenschutz nur begrenzt noch aufrecht erhalten kann, wenn man nicht weiter auch freiwillige Helfer aktiviert.
"Wichtig ist natürlich, dass eine Kanzlerin, eine Regierung Zuversicht ausstrahlt"
Müller: Aber das ist doch gerade die Kritik, nicht nur aus Reihen der CSU, sondern auch bei vielen in der CDU, die da sagen, es wird viel geredet, es wird ein bisschen konzipiert, aber am Zustrom ändert sich nichts.
Korte: Ja, wichtig ist natürlich, dass eine Kanzlerin, eine Regierung Zuversicht ausstrahlt. Dazu wäre es hilfreich, auch ein Programm zu haben, was vielleicht auch in zehn Punkte zu überführen ist, wie wir das aus dem Herbst '89 ja auch kennen. Aber in der Sache habe ich heute nichts herausgehört, dass einer einen klugen Ausweg hat zu den benannten Punkten über Kontingente, über Partner, die ich im EU-Kontext finde, über die Türkei-Fragen und so weiter, in irgendeiner Weise eine neue, originelle, kluge Lösungsstrategie. Es gibt - und das ist ein Stück weit Ratlosigkeit, die man sich wechselseitig auch zugestehen sollte - nicht die Lösung und ich habe sie auch heute nicht gehört. Insofern ist das durchaus ein Abbild einer Diskussion, die über viele verschiedene Maßnahmen diskutiert und zusammengeführt wird.
Müller: Ist für Sie die Diskussion über vermeintliche Obergrenzen, wie auch immer die definiert werden, ob mit Zahlen oder ohne Zahlen oder jedenfalls in einer nicht genauen Definition, sind das Schimären?
Korte: Nein. Es geht um ein Abbild der Gesellschaft und damit auch eine Diskussionskultur, die in der Gesellschaft auch verstanden wird. Letztlich formieren sich die Parteien, die wir heute gehört haben, auch so, um AfD-Potenziale gering zu halten. Diese Parteien, die heute diskutiert haben, haben es selbst in der Hand, ob Rechtspopulismus groß und stark wird. Wenn sie es schaffen, die Debatte von Sozialneid, von Umverteilung nicht größer zu machen, sondern die soziale Infrastruktur dieses Landes auch mit den Haushaltsmitteln, die ja heute Thema der Diskussion waren, zu stärken und nicht nur eine Politik für Flüchtlinge zu machen, werden sie auch Resonanz haben, die AfD und Rechtspopulisten klein zu halten. Das ist eigentlich die Diskussion, die um die Obergrenzen herum zu thematisieren ist.
Müller: Herr Korte, warum sagen Sie Sozialneid? Plötzlich argumentieren ja viele, nicht nur bei der AfD, es sind Milliarden da für die Flüchtlingspolitik, weil die Politik das für notwendig erachtet und notwendig ist, um die Flüchtlinge entsprechend zu versorgen, die vorher aber nicht da waren, die nicht investiert worden sind.
Korte: Ja genau. Das muss man erklären. Ich wehre mich nur dagegen, dass sehr schnell man sagt, die Gegner von Flüchtlingen sind alles fremdenfeindliche Menschen oder Rassisten. Die Diskussion, die aufkommt in einem Wohlfahrtsstaat, der viel umverteilt, ist sofort die Diskussion um Abstiegsängste, um Sozialneid. Aber die Politik ist genau in der Erklärung, woher die Milliarden, die jetzt offenbar als Katastrophenhilfe und als erste Stufe der Integration einsetzbar sind, kommen und wie diese Mittel allen gleichermaßen helfen. Diese Debatte ist zu führen von den Parlamentariern, um Rechtsextremisten und auch Rechtspopulisten das Wasser in der Diskussion zumindest abzugraben.
"Flüchtlingsfragen werden kommende Wahlen entscheiden"
Müller: Inwieweit kommt das zu spät, denn der Haushalt ist schon geschrieben?
Korte: Das kommt zu spät aus meiner Sicht. Das stimmt. Denn diese Diskussion, Flüchtlingsfragen werden kommende Wahlen entscheiden. Flüchtlinge, Flüchtlingsthemen sind die Machtfrage im kommenden Parteienwettbewerb, nicht so sehr die Terrorfrage. Insofern sind alle aufgerufen, in dem Mikrokosmos, in dem diese Fragen in jeder Familie eine Rolle spielen, ob man nun zum Sportunterricht kann oder nicht, ob das Geld für die Kommune richtig eingesetzt wird oder falsch, wie man Menschen helfen kann, all diese Fragen charakterisieren die Alltagsgespräche und haben ein hohes Mobilisierungspotenzial. Da muss die Politik Informationen geben, Erklärungen geben, auch versuchen, zu sagen, warum diese Mittel jetzt dafür wie eingesetzt werden, um genau diese Verteilungsdebatte auch ein Stück weit mit zu steuern.
"Ich habe keine massive Kritik an der Kanzlerin gehört"
Müller: Sie haben ja, Herr Korte, die Debatte heute im Fernsehen verfolgt, haben alle wichtigen Redner und Beiträge ganz bewusst auch verfolgt und analysiert dementsprechend. Wir waren zu diesem Interview verabredet. Jetzt sagen Sie, als Essens ist das so: Sie haben herausgefunden, der Kanzlerin wird fast gehuldigt, das heißt ein breiter Rückhalt, auch zum Teil vonseiten der Opposition. Wir hatten ja nun vergangenen Freitag in München beim CSU-Parteitag ein ganz, ganz anderes Bild und es hat ja zunächst auch sehr, sehr viel Kritik aus den eigenen Reihen, aus den CDU-Reihen am Kurs der Kanzlerin gegeben. Hat sich das jetzt über ein paar Tage verändert?
Korte: Ich habe keine massive Kritik an der Kanzlerin gehört. Die Linken haben Pazifismus zum Thema gemacht, gegen militärische Aufrüstung in allen Krisengebieten. Die Grünen wollen nicht den Geheimdienst besonders ausbauen in diesen Tagen. Aber im Kern finden alle das gut, was die humanitäre Geste der Kanzlerin ausmacht. Das was der CSU-Parteitag widergespiegelt hat, spielte heute im Bundestag keine Rolle, aber es gehört durchaus in eine Streitkultur rein, auch noch viel kritischer die Flüchtlingsthemen in die parlamentarischen Formate zu überführen. Der Empörungsort für Bürger muss auch im Parlament sein. Insofern habe ich das heute durchaus vermisst. Man muss ja nicht gegen Flüchtlinge sein, aber doch markanter auch Grenzen des Guten aufzeigen.
Müller: Das heißt, die Meisten waren zu feige?
Korte: Nicht feige, aber vielleicht parteipolitisch zu stark unterwegs und vielleicht auch schon ausgerichtet auf Partner im Sinne des Koalitionsmanagements, die man behalten möchte oder die man suchen möchte. Feigheit will ich jetzt nicht unterstellen, aber eine Debattenkultur im Bundestag ist natürlich auch nicht identisch mit Parteitagen. Deswegen ist der Herbst in Deutschland immer von Parteitagen auch geprägt. Parteitagsreden sind andere als Bundestagsreden. Hier kommt stärker die Verantwortung der Abgeordneten mit zum Tragen, auch im Gemeinwohl am Ende zu entscheiden, während das auf Parteitagen ja keine Rolle spielt.
Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Politikwissenschaftler und Parteienforscher Professor Karl-Rudolf Korte von der Universität in Duisburg. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
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