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Polizei-Ausbildung in NRW
Schießen oder nicht schießen?

Polizisten haben oft nur Sekunden, um gefährliche Situationen einzuschätzen. Das ist Teil ihrer Ausbildung. Doch funktioniert das auch? Der Tod eines Jugendlichen bei einem Polizeieinsatz in Dortmund hat Fragen aufgeworfen..

Von Vivien Leue |
Eine Pistole eines Polizisten, gesichert in einem Holster.
Die Entscheidung, ob sie schießen müssen, müssen Polizisten meistens in Bruchteilen von Sekunden treffen. (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
„Justice for Mouhamed. Justice for Mouhamed” schallt es von einer Menschenmenge in Dortmund Mitte November. Mehr als 1000 Menschen demonstrieren dort gegen Polizeigewalt. „Um Menschen zu erinnern, dass Mouhamed in unserer Stadt am 8.8. in einer Jugendeinrichtung aus einer Maschinenpistole mit fünf Kugeln erschossen wurde“, sagt eine Stimme aus den Lautsprechen bei der Kundgebung: „Wir wissen aber jetzt aus der Akte der Staatsanwaltschaft: Mouhamed war niemals eine Gefahr für diese Beamten. Er war niemals eine Gefahr.“
Ob die Beamten das damals im August auch wussten – oder wissen konnten – wird aktuell noch ermittelt, von der benachbarten Polizei Recklinghausen und der Dortmunder Staatsanwaltschaft. Mehrere Verfahren laufen, gegen den 29 Jahre alten Beamten, der schoss, und vier weitere Kollegen und Kolleginnen.
„Wir stehen hier an der Wache Nord und wir wollen vor der Wache Nord ganz klar zeigen: Es ist nicht vergessen, was ihr da getan habt. Es wird nicht vergessen“, ruft eine Frau bei der Demonstration ins Mikrofon.
Fünf Polizisten einer Hundertschaft stehen mit abgezogenen Helmen auf einer Straße in Dortmund
Zwei Tage nach tödlichen Schüssen auf den Jugendlichen Mouhamed Dramé musste sich die Dortmunder Polizei auf eine Demonstrantion vor der Polizeiwache Nord vorbereiten (picture alliance / dpa / Roberto Pfeil)
Bisher ist bekannt, dass der 16 Jahre alte Flüchtling in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt mit einem Messer in einer Ecke saß. Ein Betreuer der Einrichtung rief die Polizei. Er hatte Angst, Mouhamed Dramé könnte sich etwas antun. Mehrere Streifenwagen fuhren vor. Insgesamt zwölf Beamte und Beamtinnen sollen vor Ort gewesen sein. Pfefferspray und ein Elektro-Distanz-Gerät, der sogenannte Taser, wurden eingesetzt – ohne Erfolg. Fast zeitgleich kam es zu den Schüssen, vier Kugeln trafen den 16-Jährigen und verletzten ihn tödlich.
„Und es gibt viele, viele, viele solcher Fälle. … Was können wir machen? Wenn wir mal Hilfe für eine Person brauchen?“, schallt es bei Demonstration über die Menge: „Weil wir vertrauen diesen Beamten nicht mehr.“

Das Entsetzen danach

Rückblick, Mitte August: In der Dortmunder Nordstadt ist das Entsetzen nach dem Tod von Mouhamed Dramé groß. Die Menschen sind traurig, wütend, verunsichert.
„Jetzt hier ist so wie Texas geworden. Ja, so, Amerika. Polizei … keine Bewegung, schießen – das geht nicht“, sagt ein Anwohner.
„Meine Reaktion war: Das könnte auch mein Sohn sein. Und meine zweite Reaktion war: Wenn das ein blondes Kind gewesen wäre – hätte die Polizei geschossen?“, fragt eine Frau.
„Sehr viel Wut, sehr viel ungeklärte Fragen und auch Verwirrung, wie das überhaupt passieren konnte“, sagt ein anderer Anwohner.
Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange spricht bei einer Pressekonferenz im Polizeipräsidium.
Gregor Lange ist seit 2014 Polizeipräsident von Dortmund (picture alliance / dpa / Bernd Thissen)
Auch der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange äußert sich gegenüber dem Deutschlandfunk: „Bei uns in der Behörde, bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen hat dieser Vorfall mit diesem Ausgang, mit dem tragischen Tod eines Jugendlichen, für absolute Bestürzung und Betroffenheit gesorgt.“
Der Jurist steht dem Polizeipräsidium seit 2014 vor. Er habe einen solchen Vorfall noch nicht erlebt, sagt er: „Also der tödliche Schusswaffengebrauch ist die absolute Ausnahme.“
Statistisch gesehen ist das so. Laut dem NRW-Innenministerium sind seit 2017 23 Menschen durch Schüsse der Polizei gestorben. Demnach pendeln die Zahlen jährlich zwischen drei und fünf Fällen, bundesweit liegen sie bei elf bis 15 Fällen. Der Statistik zufolge war jedes zweite Opfer wohl in einer psychischen Notsituation.

Ist die Polizei ausreichend trainiert?

Sind Polizisten und Polizistinnen für solche Einsätze ausreichend trainiert? Mit dieser Frage und den Folgen des Dortmunder Einsatzes beschäftigt sich auch der Landtag in Nordrhein-Westfalen.
Der SPD-Abgeordnete Sven Wolf sagt: „Ich glaube, die Anzahl der Menschen, die psychische Auffälligkeiten haben, nimmt zu. Und deswegen ist für uns eine zentrale Frage: Sind alle Polizistinnen und Polizisten in Nordrhein-Westfalen dafür ausgebildet oder muss man dann nachsteuern, damit jeder in so einer Situation damit umgehen kann.“
Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen, sitzt bei der Unterzeichnung einer Kooperationsvereinbarung für eine Dunkelfeld-Studie zu Antisemitismus in der Staatskanzlei.
Herbert Reul (CDU) ist als Innenminister von Nordrhein-Westfalen der oberste Dienstherr der Polizei (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
Dieser Frage muss sich auch der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul, CDU, stellen, wenige Tage nach dem Dortmunder Polizeieinsatz, in einem Interview im Deutschlandfunk.
Deutschlandfunk: „Kann man nicht dann, wenn man schon schießen muss, irgendwohin schießen, dass er möglicherweise das Messer fallen lässt. Also ich meine, wird so etwas nicht trainiert?“
Reul: „Aber wie!"
Deutschlandfunk: „Ja, aber offensichtlich nicht genug, Herr Reul.“
Reul: „Doch! Aber jetzt unter uns: Wir beiden Schlaumeier können so darüber reden, so vom Sessel aus. Aber das ist eine Sekundenentscheidung.“
Wie also wird die Polizei in Nordrhein-Westfalen ausgebildet? Wie wird sichergestellt, dass Polizisten in solchen Sekunden die beste Entscheidung treffen?

Die Ausbildung

„Okay, und wir gehen auf sechs Meter“, erklärt der Ausbilder in einem Schießraum im Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW in Selm.
„Wir sind in der Abnahme der sogenannten LÜTH, das ist die Landeseinheitliche Überprüfung der Treff- und Handhabungssicherheit“, wird einem dort erklärt. Etwa 15 junge Kommissaranwärter und -anwärterinnen stehen vor einer großen Leinwand. Dort erscheinen nacheinander Symbole, auf die jeweils zwei junge Polizisten und Polizistinnen schießen müssen.
Polizeischüler bei der Schießübung in der Raumschießanlage in der Polizeiakademie.
Angehende Polizisten lernen in der Ausbildung ann und wie man schießt - aber auch wann man nicht schießt. (picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Britta Pedersen)
„Schießen an sich ist eine komplette Schwierigkeit“, erklärt die Polizeihauptkommissarin und zuständige Sachgebietsleiterin im Ausbildungsdezernat, Sandra Herrmann: „Das ist ein Handwerk, es bedarf sich auf jeden Schuss zu 100 Prozent wieder einzulassen. Das fängt bei einer Körperspannung an. Das richtige Visieren, dass der Schuss dort auftritt, wo ich auch tatsächlich beabsichtige hinzuschießen. Viele stellen sich vor, man sieht es auch im Film: Man schießt und man trifft immer. Es ist definitiv nicht so.“
Die Frauen und Männer im Raum wirken hochkonzentriert und angespannt. Sie zücken die Waffen, strecken die Arme nach vorne und schießen. Der Rückstoß der Pistole, dieses leichte Ziehen nach oben, ist gut zu erkennen.
„Wir trainieren nicht nur zu schießen, sondern auch in Situationen zu trainieren, eben nicht zu schießen. Das ist ein sogenanntes Situationstraining. In kleinen Rollenübungen trainieren wir auch: Was ist zum Beispiel, wenn jemand auf mich zukommt und hat die Hände in den Taschen und zieht die? Ich muss in dem Moment entscheiden: Ist es? Und er zeigt mir zum Beispiel einen Personalausweis, dann habe ich keine Grundlage natürlich zu schießen. Hat er in dem Moment einen gefährlichen Gegenstand für mich sichtbar in der Hand, muss ich anders überlegen“, erklärt Herrmann.
„Also, wir müssen ihnen auch beibringen, dass jede Situation bewertet werden muss, bevor überhaupt eine Schussabgabe erfolgen darf. Es ist immer eine rechtliche Prüfung vorauszusetzen.“
Diese rechtliche Prüfung wird auch trainiert, unter anderem in Theoriestunden.
Außerdem wird geübt, so zu deeskalieren, dass die Schusswaffe gar nicht erst zum Einsatz kommt, erklärt die Direktorin des Landesamtes für Ausbildung Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei – kurz LAFP - , Christine Frücht:
„Ein ganz großes Thema ist auf jeden Fall Kommunikation. Das wird auch noch mal ganz besonders trainiert. Denn jeder Einsatz, den ich natürlich kommunikativ lösen kann, ohne in irgendeiner Form Zwang anwenden zu müssen, ist immer der beste Einsatz.“
Die Polizei in Nordrhein-Westfalen bildet ausschließlich Beamte und Beamtinnen für den gehobenen Dienst aus, in einem dualen Studium. Nach einem theoretischen Block an der Polizei-Hochschule wechseln die jungen Anwärter und Anwärterinnen zum praktischen Training an das LAFP und wenden das Gelernte schließlich in Polizeibehörden vor Ort an, bevor es dann wieder zu neuen Theorie-Blöcken an die Hochschule geht.
„Wir bereiten die jungen Kolleginnen und Kollegen auf alle Situationen vor, die sie eben später im Einsatz dann auch antreffen können oder die sie da ereilen können“, so Direktorin Christine Frücht: „Sie werden das auf dem Gelände hier sehen, dass tatsächlich einfach an den Straßen dann – sage ich mal – eine Verkehrsunfallsituation nachgestellt wird oder eine Kontrolle, die simuliert wird. Wir haben hier auch ein Haus mit sogenannten Tatort-Wohnungen, um eben auch auf die reale Situation vorbereitet zu sein.“

Fortbildungen werden angepasst

Und weil sich die realen Situationen, die echten Einsätze vor Ort, kontinuierlich verändern, werden sie auch wieder zurückgemeldet zur Aus- und Fortbildung.
„Es ist so, dass wir sämtliche Realeinsätze immer daraufhin überprüfen: Ist unsere Aus- und Fortbildung tatsächlich noch so, wie die Realität das widerspiegelt? Also wir gucken uns an, was ist gut gelaufen in Einsätzen? Was ist nicht so gut gelaufen? Was hat sich auch einfach verändert? Und das nehmen wir dann in unserer Fortbildung mit auf“, sagt Frücht.
Zum einen hat sich die Ausstattung der Polizei in den vergangenen Jahren verändert. Bessere Schutzwesten, die Taser und Bodycams, der Einsatz von Drohnen oder Maschinenpistolen, hier insbesondere für Amok-Lagen, kamen hinzu. Zugleich veränderte sich auch das Verhalten möglicher Angreifer.
„Wenn wir eben feststellen, zum Beispiel Messer-Attacken haben zugenommen, dann bringen wir das verstärkt auch in unsere Aus- und Fortbildung rein“, sagt Behördenleiterin Christine Frücht. Denn solche Angriffe, seien extrem heikel.
Sie erklärt weiter: „Das ist so ziemlich das Gefährlichste, was ich mir vorstellen kann, man unterschätzt das immer gerne. Dass man sagt: Derjenige hat doch nur ein Messer in der Hand. Wie schnell sich so jemand dann aber auch bewegen kann und mit diesem Messer dann auch wirklich ganz großen Schaden anrichten kann mit schwersten Verletzungen, das ist den meisten Menschen, glaube ich, nicht bewusst.“
Ob im Fall von Mouhamed Dramé in Dortmund deshalb die Maschinenpistole zum Einsatz kam – das müssen die Ermittlungen zeigen. Erste offizielle Ergebnisse werden erst im Dezember erwartet. Laut Informationen aus Ermittlerkreisen wollte der Jugendliche allerdings nur sich – keine Umstehenden – verletzen. Hat vielleicht die Kommunikation versagt, weil die anwesenden Beamten nicht die Sprache des 16-Jährigen sprachen? Die Informationen deuten darauf hin, dass die anwesenden Beamten und Beamtinnen kaum mit Mouhamed geredet haben. Auch sei nicht vor den Schüssen gewarnt worden. Der gesamte Einsatz dauerte nur wenige Minuten.
„Nichtsdestotrotz versuchen wir, die Kolleginnen und Kollegen zumindest darauf vorzubereiten, dass sie zum einen möglicherweise auf Sprachbarrieren stoßen. Vielleicht allerdings auch auf Menschen, die in ihren Ländern schlechte Erfahrungen mit Polizei gemacht haben, vielleicht gar kein Vertrauen in Polizei haben, so wie wir das bei uns durchaus gewöhnt sind“, sagt Frücht. „Und da einfach darauf vorzubereiten, dass die möglicherweise mit Vorbehalten oder sogar Angst reagieren könnten. Und dass man das bei der Kommunikation oder bei der Art, wie man auftritt, durchaus auch mit beachten sollte und muss.“
Auch hier hat sich die Ausbildung an gesellschaftliche Veränderungen angepasst, zum Beispiel an eine wachsende Anzahl an Geflüchteten – und bietet entsprechende Fortbildungen an.
Frücht führt aus: „Wir haben dafür tatsächlich sogar spezielle Lehrgänge, in denen genau auf solche, ich sage mal kulturellen Unterschiede oder eben mögliche Probleme, die sich ergeben könnten aufgrund schlechter Erfahrungen ... Wir haben extra Lehrgänge dafür, die im Umgang mit solchen Situationen sensibilisieren.“

Vorurteile in der Polizeiarbeit?

Was passiert, wenn solche Situationen zum Alltag von Polizisten und Polizistinnen werden? Wenn sie immer wieder mit bestimmten Bevölkerungsgruppen aneinandergeraten, wenn sich dadurch Vorurteile bilden – und diese sich dann wiederum in der Polizeiarbeit niederschlagen?
Im Innenausschuss des Landtags von Nordrhein-Westfalen hat der Dortmunder Fall auch solche Fragen aufgeworfen.
Die Grünen-Abgeordnete Verena Schäffer sagt: „Wenn uns Menschen mit Migrationsgeschichte, wenn uns schwarze Deutsche berichten, dass sie im Umgang mit Behörden immer wieder auch Diskriminierungserfahrungen machen, dass sie zum Beispiel an Bahnhöfen stärker kontrolliert werden, und sich daraus ergibt, dass es auch einen gewissen Vertrauensverlust in die Arbeit der Polizei, in die Arbeit anderer staatlicher Behörden gibt, dann müssen wir das als Politikerinnen und Politiker sehr ernst nehmen.“
In der Tat sprechen auch Kriminologen davon, „dass es schon einen nicht unerheblichen Anteil jedes Mal von Befragten im Polizeidienst gibt, die auch Einstellungen haben, die deutlich machen, dass sie einfach stereotyp über bestimmte Menschengruppen hier in Deutschland denken“, so die Polizeiforscherin und Soziologie-Professorin Daniela Hunold von der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. „Und es ist natürlich und menschlich, dass sich mit der polizeilichen Arbeit natürlich auch bestimmte Bilder verfestigen, weil die polizeiliche Arbeit auf Probleme gerichtet ist und auf Menschen, die ja aus Sicht der Gesellschaft, der Polizei problematisch sind, weil sie sich kriminell verhalten.“
Daniela Hunold spricht bei einer Pressekonferenz.
Daniela Hunold ist Polizeiforscherin und Soziologie-Professorin an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin (picture alliance / dpa / Sina Schuldt)
Die Polizei müsse aber besser sein als die Gesellschaft. Vorurteile dürften nicht akzeptiert werden. Hunold weiter:
„Da würde ich sagen, müsste die Organisation mehr Möglichkeiten bereithalten, für die Belegschaft auch Reflexionsräume zu schaffen, darüber einfach zu sprechen, zu reflektieren: Was habe ich denn eigentlich für Vorurteile im Kopf? Und was macht das mit mir im Polizeialltag? Wie kann ich das möglicherweise verhindern? Oder wie kann ich anders mich verhalten?“
In vielen Bundesländern tue sich die Polizei schwer damit, diese Problematik anzuerkennen, sagt Hunold. Erst langsam verändere sich das.

Traumberuf Polizist

Mitte November, in Duisburg. Rund 200 geladene Gäste sind zur feierlichen Einweihung des neuen Gebäudekomplexes der Hochschule für Polizei und Verwaltung in Nordrhein-Westfalen HSPV gekommen, auch Innenminister Herbert Reul: „ … denn die Qualität unserer öffentlichen Verwaltung und unserer Polizei in Nordrhein-Westfalen spielt für das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat eine zentrale Rolle und da können wir nicht jeden gebrauchen, da können wir nur die Besten gebrauchen. Und die Besten müssen auch noch sehr gut werden, noch besser werden …“
Hier an der HSPV bekommen die jungen Polizisten und Polizistinnen ihre theoretische Ausbildung, absolvieren ihr Bachelor-Studium.
Auch Levin Rybak ist Kommissaranwärter, mittlerweile im dritten Jahr. „Ich bin momentan im Wach- und Wechseldienst in Dortmund“, erklärt Rybak. Der 21-Jährige lernt seinen Traumberuf.
„Man möchte Dienst an der Gesellschaft leisten. Man möchte Teil einer großen Institution sein. Man möchte Teil der Polizei sein“, erklärt er.
Nach rund zweieinhalb Jahren hat Rybak vieles erlebt und merkt mittlerweile, dass Polizeiarbeit auch ganz schön an den Kräften zehren kann:
„Es ist schwierig, also, man muss es zugeben: Es ist unheimlich schwierig, positiv zu bleiben in dem Beruf, vor allem vielleicht auch in dem Wach- und Wechseldienst. Wenn man auch in der Früh, spät nachts arbeitet, das macht auch was mit dem Körper, wenn man müde ist, man ist unkonzentriert. Man ist schneller genervt beispielsweise. Es ist sehr, sehr anstrengend. Man muss dazu sagen: Wenn die Polizei gerufen wird, geht es meistens nie um positive Sachen. Wir kommen, weil etwas passiert ist.“

Wenn die Polizei gerufen wird, geht es meistens nie um positive Sachen. Wir kommen, weil etwas passiert ist.

Kommissaranwärter Levin Rybak
Das Studium versuche, die jungen Menschen bestmöglich auf diesen Job – und diese Herausforderungen – vorzubereiten, sagt Professor Tobias Trappe. Er ist stellvertretender Sprecher des Fachbereichs Polizei und erklärt: „Wir thematisieren auch die dunklen Seiten der Polizeiarbeit: die Wirklichkeit von Gewalt. Die Studierenden müssen ja lernen, in einem Beruf zu arbeiten, in dem sie einerseits mit Aggressionen, mit Konflikten und eben auch mit handgreiflicher Gewalt in Berührung kommen. Sie müssen lernen, auch selber Gewalt auszuüben. Das ist ja ein großer und nicht einfach zu bewältigender Schritt.“
Trappe lehrt an der Hochschule das Fach Ethik. Es sei neben den großen Fächern Straf- oder Verkehrsrecht, Kriminalistik oder Staatsrecht ein eher kleines Fach – aber nicht minder wichtig.
„Ethik bildet einen Raum über diese Erfahrungen, die sie vielleicht schon haben oder auf die sie sich jetzt vorbereiten müssen, zu sprechen,  vielleicht auch über ihre Ängste. Was aber natürlich immer ein sensibles Thema ist“, sagt Trappe: „Und vielleicht auch die eine oder andere Hilfe zu geben, wie man mit den schweren Erfahrungen, die zur Polizei gehören, auch umgeht.“

Das Bedürfnis nach Gesprächen

„Wenn wir nicht anfangen, darüber zu reden, zu reflektieren, einzuordnen, zu veranschaulichen, was der Beruf für uns ist, was er mit uns gemacht hat, auch als Menschen“, sagt Rybak. „Jeder Anwärter ist nach dem ersten Jahr, nach dem ersten Praktikum anderer Mensch. Das sieht man. Weil man Sachen sieht, die man vorher noch nie erlebt hat und auch nie gedacht hat, dass man sie erlebt. Und deswegen sind auch solche Fächer unheimlich wichtig.“
So wichtig, dass diese Ansätze – das Nachdenken über schwierige Einsätze, über den Blick in menschliche Abgründe und gesellschaftliche Verwerfungen – nun in den Polizeialltag integriert werden sollen.
Der leitende Landespolizeipfarrer in Nordrhein-Westfalen, Dietrich Bredt-Dehnen, hat die sogenannten „Alltagreflexionen“ in einer Pilotphase seit 2021 begleitet. Er berichtete damals: „Diese Gespräche sind total positiv aufgenommen worden. Als ob viele darauf gewartet hätten, dass es endlich ein Forum gibt, in dem sie mal über das reflektiert sprechen können, auch, weil sie ein Bedürfnis haben, mal zu reden.“
Dietrich Bredt-Dehnen steht mit einer lila Stola um die Schultern auf einer Kanzel und predigt
Der evangelische Geistliche Dietrich Bredt-Dehnen ist der leitende Landespolizeipfarrer in Nordrhein-Westfalen. (picture alliance / dpa / Christian Knieps)
Schon seit 2010 gibt es zudem die Ausstellung „Grenzgang“, am LAFP in Selm und zwei weiteren Orten in NRW.
Gezeigt werden zum Beispiel Straßenzüge mit migrantischen Communitys, die lebensnahe Statue eines verwahrlosten Obdachlosen steht in einer Ecke. Ein anderer Raum widmet sich psychisch auffälligen Menschen, wieder ein anderer fragt: Was tust du, wenn dein Kollege im Dienst gewalttätig wird?
LAFP-Direktorin Christine Frücht sagt: „Es ist fast, als wenn sie einen Schritt zurücktreten, aus dem Alltag einmal heraus und versuchen, sich das große Ganze nochmal zu betrachten. Also: Warum bin ich Polizist oder Polizistin geworden? Und was ist bei dem ganzen Alltagsgeschehen vielleicht aus mir geworden? Oder was möchte ich nicht, was aus mir wird?“
Polizeiforscherin Daniela Hunold begrüßt solche Projekte. Aber sie dürften nicht nur ein- oder zweimal im Jahr stattfinden, sie müssten regelmäßig angeboten werden, wenn sie wirken sollen.
Sie sagt: „Es gibt tatsächlich inzwischen Ansätze von Forschung, die zeigen, das sich negative Einstellungen erst mit Eintritt in die Praxis manifestieren. Also das heißt es muss in der Praxis etwas geben und auch insbesondere im Übergang von der Ausbildung in die Praxis etwas geben, das vielleicht so eine Art Praxisschock auslöst und natürlich auch man mit Belastungen konfrontiert ist, wo man nicht genau weiß, wie gehe ich damit um?“