Die Aussage von SPD-Chefin Saskia Esken, es gebe latenten Rassismus bei der deutschen Polizei, hat für heftige Diskussionen quer durch die deutsch Parteienlandschaft gesorgt. Zustimmung erhielt Esken unter anderem von Grünen und Linken-Politikern. Doch es gab auch massive Kritik unter anderem aus den Reihen der CDU, der Linken aber auch aus der eigenen Partei.
Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) sieht in Deutschland zwar Alltagsrassismus in allen Lebensbereichen - auch bei der Polizei, widerspricht aber dennoch der Aussage seiner Parteichefin. Aus seiner Sicht gibt es bei der deutschen Polizei "keinen strukturellen und institutionalisierten Rassismus".
Christiane Kaess: Was ist so falsch an der Aussage Ihrer Parteichefin?
Boris Pistorius: Zunächst mal der Zeitpunkt und der Zusammenhang. Wenn man das unmittelbar tut im Zusammenhang und nach den schrecklichen Ereignissen, nach dem unglaublichen Verhalten der amerikanischen Polizei in Minneapolis, dann erweckt man den Eindruck, als könne man das eine wirklich mit dem anderen vergleichen, oder man habe eine ähnliche Situation, und das ist nun definitiv (und ich glaube, das kann niemand bestreiten) nicht der Fall. Die amerikanische Situation ist eine völlig andere. Die deutsche Polizei wird völlig anders ausgewählt und ausgebildet.
Und mich hat vor allen Dingen geärgert, dass man das in diesem Zusammenhang tut, weil man diese Schieflage gar nicht mehr weg bekommt, und das ist dann am Ende die Kritik an der Kritik, die man sich dann auch selber zuschreiben muss.
Ich habe immer gesagt, es gibt natürlich in Deutschland in allen Lebensbereichen einen sogenannten Alltagsrassismus. Den gibt es, den kann auch niemand wegdiskutieren. Und da die Polizei ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, ein Stück weit jedenfalls, gibt es natürlich auch Formen von Rassismus in den Reihen der Polizei. Aber es ist kein strukturelles Problem, kein struktureller Rassismus und kein institutioneller, und das ist ein ganz wesentlicher Unterschied. Und wir gehen damit um, wir reagieren darauf.
Pistorius: Kritik an Äußerungen der SPD-Chefin war berechtigt
Kaess: Jetzt gehen Sie Ihre Parteichefin da ziemlich scharf an. Hat Saskia Esken die Arbeit von Polizistinnen und Polizisten in Deutschland diskreditiert?
Pistorius: Sie hat vor allen Dingen – das habe ich ja gerade gesagt – den Eindruck erweckt, das Problem sei ähnlich groß wie in den Vereinigten Staaten. Sie spricht von Korpsgeist - man darf nicht den Eindruck gewinnen, Korpsgeist gewinne - und spricht von innerer Führung – alles Begriffe, die wir seit 20 Jahren diskutieren und in der Polizei vor allen Dingen ganz anders aufgesetzt haben.
Wir haben andere Mechanismen. Wir haben Beschwerdestellen, die längst funktionieren, die vielleicht nicht unabhängig sind, so wie man sich das wünscht, aber die trotzdem ein Bild des Beschwerdeverhaltens ganz deutlich wiedergeben. Wir reagieren konsequent disziplinarrechtlich, da wo irgendetwas passiert, und deswegen ist die Kritik an den Äußerungen durchaus berechtigt. Scharf war sie jetzt nicht; sie war deutlich und pointiert, und das muss sie auch sein.
Kaess: Aber jetzt haben Sie gerade noch mehr Vorwürfe an Ihre Parteivorsitzende formuliert. Soll Frau Esken die Aussage zurückziehen?
Pistorius: Nein! Das ist eine Diskussion, die hier angestoßen ist. Ich finde die Aussage falsch, wobei natürlich – das habe ich ja auch gestern schon gesagt: Es gibt diesen Alltagsrassismus. Aber auch das ist übrigens ein Unterschied. Das haben wir ja gerade im Vorbericht gehört.
Wenn Menschen im Alltagsleben rassistisch denken, aus welchen Gründen auch immer, und handeln, dann ist das eine Sache. Und wenn Polizisten ihrerseits gleiches Gedankengut in sich haben, was vereinzelt auch der Fall ist – natürlich -, dann ist das aber der Unterschied, dass in der Polizei eine grundständige, sehr solide Ausbildung über drei Jahre mit einem Bachelor-Studium zum Beispiel in Niedersachsen stattfindet, Aus- und Fortbildung begleitend da ist. Das heißt, es gibt ganz klare Mechanismen, die verhindern, dass sich solche Gedanken und Einstellungen dann auch im Alltag wiederspiegeln. Das zeigen übrigens auch die Dunkelfeld-Studien, die wir regelmäßig durchführen in Niedersachsen, und die belegen, welch großes Vertrauen 90 Prozent der Menschen in Niedersachsen in ihre Polizei haben. Auch das kommt ja nicht von Ungefähr.
"Das sind doch keine alarmierenden Zahlen"
Kaess: Jetzt muss man fairerweise dazu sagen, dass Saskia Esken auch gesagt hat, die große Mehrheit der Polizeibediensteten stehe rassistischen Tendenzen kritisch gegenüber und leide unter dem potenziellen Vertrauensverlust, der sich aus rassistischen Tendenzen ergebe. Und Saskia Esken bekommt auch Unterstützung für ihre Aussage. Wir haben jetzt viel über die Kritik gesprochen, aber es gibt auch die andere Seite. Unterstützung kommt zum Beispiel von Bernhard Franke, dem Kommissarischen Leiter der Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes. Der sagt, dass es auch in der Polizei Rassismus gebe, sei unzweifelhaft, und er hat bei uns gestern im Programm folgendes Beispiel genannt:
Bernhard Franke: "Wir haben seit der Einrichtung unserer Stelle etwa 200 Anfragen, die sich auf sogenanntes Racial Profiling beziehen, also Kontrollen, die allein an dem äußeren Erscheinungsbild einer Person sich festmachen, beispielsweise der Hautfarbe. Und von daher gibt es auch das in Deutschland, dass hier die Polizei Menschen kontrolliert, letztlich im Sinne ihres typischen Auftretens."
Kaess: Das sagt Bernhard Franke von der Anti-Diskriminierungsstelle. – Also stimmt der Rassismus-Vorwurf an die Polizei doch?
Pistorius: Nein, der stimmt so nicht. 200 Fälle in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern und über 300.000 Polizisten …
Kaess: Das sind ja nur die, die gemeldet wurden.
Pistorius: Ja! Aber selbst wenn wir die meinetwegen verzehnfachen, dann sind wir bei 2.000 Fällen pro Jahr, je nachdem was Sie dann zugrunde legen wollen. Das sind doch bei den Millionen und Abermillionen Kontakten zwischen Polizei und Bürgerinnen und Bürgern keine alarmierenden Zahlen.
"Racial Profiling geht nicht"
Kaess: Aber damit würden Sie sagen, Herr Pistorius, Racial Profiling darf durchaus passieren.
Pistorius: Nein, das darf nicht passieren, damit wir uns völlig richtig verstehen. Das ist ja genau das, was mich an der Diskussion stört. Es wird immer der Eindruck erweckt, als würde man die Dinge hinnehmen, nur weil man sie nicht so lautstark festmacht.
Ich bin völlig der gleichen Auffassung: Racial Profiling geht nicht. Aber wenn wir diese Fälle haben und wir haben sie in dieser Größenordnung - wie gesagt, gemeldet 200 -, dann mag die Dunkelziffer höher sein. Einverstanden! Das wird sicher so sein. Aber es ist doch keine alarmierende Zahl, wenn es zwei, 3000 Fälle pro Jahr sind, die ins Verhältnis gestellt werden müssen zu einer hohen Millionenzahl von Begegnungen und Zusammentreffen zwischen Polizei und Bürgerinnen und Bürgern. Da muss man, finde ich, dann auch die Kirche im Dorf lassen, ohne das Problem zu verharmlosen. Man muss immer wieder auf das Racial Profiling ansprechen, in der Aus- und Fortbildung und im täglichen Umgang, und da, wo Übergriffe passieren oder racial profilt wird, muss das aufgeklärt werden.
Kaess: Aber das Problem ist ja: Wir haben diesen Vorwurf seit Jahren. Es fehlen uns aber aussagekräftige Statistiken. Warum gibt es die nicht?
Pistorius: Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil wir haben Beschwerdestellen in Niedersachsen. Da haben wir ein Aufkommen von Beschwerden gegenüber der Polizei – übrigens eine Beschwerdestelle, die nicht nur Beschwerden gegen die Polizei aufnimmt, sondern auch gegen Verwaltungen in anderen Bereichen.
Die Zahlen gegenüber dem Verhalten der Polizei sind außerordentlich überschaubar. Das erfassen wir auch, das definieren wir auch. Warum es jetzt nicht überall solche Zahlen gibt, das kann ich Ihnen nicht sagen.
Klar ist aber – und das ist im Grunde der Kern: Es reicht nicht zu sagen, wir haben einen latenten Rassismus und deswegen müssen wir jetzt alles auf den Kopf stellen und unabhängige Beschwerdestellen haben. Ich sage, damit wird der Eindruck erweckt, wir hätten ein RiesenProblem. Das sind Lösungen für Probleme, die wir in dieser Größenordnung schlicht nicht haben, was nicht heißt, dass wir uns ihnen nicht zuwenden müssen, das aber auch tun.
"Das sind furchtbare Fälle"
Kaess: Gehen wir zu den schlimmeren Fällen, bei denen nicht weiße Menschen in Gewahrsam von deutschen Behörden gestorben sind. Die erstrecken sich über Jahre, eigentlich sogar über Jahrzehnte. Ich nenne ein paar: Der Sudanese Aamir Ageeb, 1999 als Asylbewerber in Deutschland; der wurde abgeschoben, erstickte im Flugzeug wegen der brutalen Behandlung durch deutsche Polizeibeamte. Es gibt den Fall von Achidi John aus Nigeria 2001, der erstickt ist an einem Brechmittel, das die Polizei ihm gewaltsam einflößte. Wir haben den bis heute nicht aufgeklärten Tod von Oury Jalloh aus Sierra Leone, der 2005 bei einem Feuer in seiner Gefängniszelle ums Leben gekommen ist, ein ähnlicher Fall der Syrer Amad Ahmad, der 2018 bei einem Feuer in seiner Zelle starb. Er soll das selber gelegt haben, aber er saß noch immer im Gefängnis, obwohl schon längst klar war, dass er verwechselt worden war und stattdessen jemand anderes gesucht wurde.
Haben diese Fälle, von denen es noch mehr gibt – ich habe jetzt nur ein paar genannt -, haben die zu wenig Beachtung gefunden und sind die innerhalb der deutschen Sicherheitsbehörden zu wenig aufgearbeitet worden?
Pistorius: Das kann sein. Das will ich nicht pauschal in Abrede stellen. Das sind furchtbare Fälle, die Sie dort aufgezählt haben. Die sind durch nichts zu rechtfertigen. Die sind durch nichts zu erklären und die müssen rigoros aufgeklärt werden. Hier müssen klare Konsequenzen gezogen werden. Und wenn das im Einzelfall nicht passiert ist, dann ist das natürlich zu kritisieren. Da schließe ich mich der Kritik sofort an.
In Niedersachsen, kann ich sagen, hatten wir solche Fälle bislang nicht. Das ist gut so. Und wenn es einen solchen Fall gäbe, was ich hoffe, dass das nie eintritt, dann werden wir sehr, sehr konsequent dagegen vorgehen, weil ich ein großes Interesse daran habe, dass die Polizei als eine Polizei wahrgenommen wird und auch so agiert, die Bürgerpolizei ist und eben nicht Unterschiede macht zwischen den Menschen, mit denen sie zu tun hat, und schon gar nicht Übergriffe macht.
Pistorius: Rassismus ist bei der Polizei "kein Massenproblem"
Kaess: Wenn, Herr Pistorius, es so ist, wie Sie sagen, dass es da keine Unterschiede gibt, wie erklären Sie denn, …
Pistorius: Unterschiede geben darf, habe ich gesagt.
Kaess: Oder geben darf, wie erklären Sie denn dann, dass es diese Todesfälle mit Weißen nicht gibt?
Pistorius: Das ist ja genau das, was ich eingangs gesagt habe. Wir drehen uns im Kreis, Frau Kaess. Natürlich gibt es einen Alltagsrassismus auch in der Polizei. Das habe ich nie in Abrede gestellt. Aber er ist kein Massenproblem, kein strukturelles Problem. Er ist ein Problem von Einzelnen oder einzelnen Gruppen. Wir hatten die Probleme jetzt in Hessen mit rechtsextremen Polizisten. Wir haben auch in anderen Bereichen diese Dinge. Wir machen in Niedersachsen dazu seit zwei Jahren ein groß angelegtes Projekt mit dem Namen "Polizeischutz für die Demokratie", um deutlich zu machen, wir wollen junge Polizistinnen und Polizisten frühzeitig immunisieren, widerstandsfähig machen gegen diese Anwandlungen von Rechtsaußen.
Das heißt, wir reagieren auf solche Entwicklungen sehr zügig. Aber natürlich gibt es Menschen auch in der Polizei, die rassistisch denken und handeln, und da, wo das sichtbar wird, muss sofort interveniert werden. Daran darf es keine Zweifel geben. Das schulden wir den Menschen in diesem Land, egal welcher Hautfarbe.
Pistorius: Es nimmt einem Teil der Menschen das Vertrauen in die Polizei
Kaess: Man hat es aber mehr oder weniger ohne Skandal hingenommen, dass in diesen Todesfällen, die ich gesagt habe, offenbar mit zweierlei Maß gemessen wurde?
Pistorius: Jetzt fragen Sie mich nach Dingen, die zum Teil 10, 20 Jahre zurückliegen und für die ich aus Niedersachsen heraus wirklich keine abschließende Stellungnahme abgeben kann. Ich habe aber sehr deutlich gesagt, dass ich kein Verständnis dafür habe, wenn diese Dinge nicht rückhaltlos aufgeklärt werden. Das ist übrigens auch ein Fehler, weil es den Menschen, jedenfalls einem Teil der Menschen das Vertrauen in die Polizei nimmt und das Ansehen der Polizei beschädigt. Es ist also auch ein Eigeninteresse, ein ganz elementares staatliches Eigeninteresse, dafür zu sorgen, dass solche Dinge, wenn sie denn passieren, wirklich auch rückhaltlos aufgeklärt und bestraft werden.
"Das kann nicht der richtige Weg sein, die Beweislast umzukehren"
Kaess: Schauen wir voraus. In Berlin gibt es jetzt ein Anti-Diskriminierungsgesetz. Das besagt im Kern, dass die Beweislast umgekehrt wird, dass Polizisten, die der Diskriminierung beschuldigt werden, in Zukunft nachweisen müssen, dass der Vorwurf gegen sie unberechtigt ist. Ist das gut?
Pistorius: Erstens stimmt das nicht ganz. Nicht die Polizisten müssen einen Gegenbeweis antreten, sondern die Behörde muss im Fall von Schadenersatzforderungen, die geltend gemacht werden und glaubhaft dargestellt werden, beweisen, dass das nicht so ist. Ich halte davon prinzipiell nichts, und zwar hat das nichts mit Rassismus zu tun, warum ich das sage, sondern schlicht und ergreifend damit, dass es ein bewährtes Prinzip in unserem Rechtssystem gibt, nämlich dass eine Unschuldsvermutung es gibt und dass jemand, der jemandem anderen unterstellt oder behauptet, er habe etwas Unrechtmäßiges getan, dies beweisen muss.
Es kann nicht sein, dass dann die Behörde – das ist auch mein Verständnis davon – hingehen muss und die Polizisten befragen muss, ob das stimmt oder nicht, und aufgrund dessen einen Gegenbeweis antreten muss. Das kann nicht der richtige Weg sein, die Beweislast umzukehren.
Kaess: Sagen Sie uns noch, weil Bayern und Baden-Württemberg wollen jetzt prüfen, ob sie unter diesen Umständen überhaupt noch Polizisten nach Berlin schicken wollen. Gibt es ähnliche Überlegungen in Niedersachsen auch?
Pistorius: Nein, aktuell nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.