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Polizeigewalt in Moskau
"Die russische Führung ist unsicher"

Russland wisse nicht, wie es mit den zunehmenden Protesten im Land umgehen solle, sagte der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Dirk Wiese (SPD), im Dlf. Das zeige das harte Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten. Wiese plädierte dafür, die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft auszubauen.

Dirk Wiese im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
Protest in Moskau am 27. Juli 2019
Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, der SPD-Politiker Dirk Wiese, hat sich besorgt geäußert über die Bilder des "unverhältnismäßigen Polizeieinsatzes" in Moskau vom Wochenende (imago / Sergei Bobylev)
Jörg Münchenberg: Auch die EU sah sich nach diesem Wochenende zu einer öffentlichen Reaktion genötigt. Die Festnahmen und die unangemessene Gewalt gegen friedliche Demonstranten würden einmal mehr die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung sowie die Versammlungsfreiheit untergraben, das sagte eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten, Federica Mogherini. Außerdem müsse es Chancengleichheit für alle Kandidaten bei den Regionalwahlen geben. Das Verhältnis zwischen der EU und Russland – es bleibt also äußerst schwierig. Das gilt aber letztlich damit auch für Deutschland. Am Telefon ist nun der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Dirk Wiese von der SPD. Herr Wiese, einen schönen guten Morgen!
Dirk Wiese: Guten Morgen!
Münchenberg: Herr Wiese, wie bewerten Sie die Vorfälle in Moskau mit den Prügelattacken und den zahllosen Festnahmen?
Wiese: Die Bilder, die ich am Wochenende gesehen habe, die über tausend Festnahmen, der unverhältnismäßige Polizeieinsatz gegenüber friedlichen Demonstranten, das macht mich schon sehr besorgt. Es passt aber in ein Bild, was wir seit Längerem sehen. Wir sehen an vielen Stellen in Russland, und das seit der Rentenreform, die letztes Jahr während der Fußballweltmeisterschaft durchgepeitscht werden sollte, erhebliche Unzufriedenheit. Wir sehen eine Vielzahl von Protesten, in Archangelsk zum Beispiel, wo gegen illegale Müllablagerung protestiert wird. Wir sehen Proteste in Jekaterinburg, wo gegen einen Kirchenbau demonstriert wird.
"Wir sehen ein hohes Maß an Unzufriedenheit"
Das heißt, wir sehen ein hohes Maß an Unzufriedenheit, und diese Unzufriedenheit hatte sich bereits in den letzten Monaten auch schon bei Gouverneurswahlen gezeigt, wo die sogenannten Parteien der Regierung nicht mehr die Wahlen gewonnen hatten, sondern die Bürger schon an der Wahlurne ihren Unmut gezeigt haben, und jetzt kommt noch mal oben drauf, dass Kandidatinnen und Kandidaten für die jetzt anstehenden Regionalwahlen nicht zugelassen worden sind, und darum auch diese Proteste am Wochenende. Aber diese Protestformen haben sich schon in den vergangenen Wochen und Monaten aufgestaut und sind auch mehr geworden, was die Unzufriedenheit auch zeigt.
Protest in Moskau am 27. Juli 2019
Ein Verletzter bei den Moskauer Protesten am 27. Juli (imago / Sergei Bobylev)
Münchenberg: Der Zorn richtet sich ja letztlich gegen die Nichtzulassung von Kandidaten jetzt bei den anstehenden Regionalwahlen im Herbst. Sind das denn überhaupt noch freie Wahlen?
Wiese: So wie freie Wahlen wir in unserem Verständnis verstehen mit Sicherheit nicht. Wenn immer wieder versucht wird, Kandidaten auszuschließen, Kandidaten durch, ich sage mal, administrative Hürden… Es gibt den sogenannten Munizipalwahl [unverständlich] versucht wird, diese an der Teilnahme an Wahlen zu hindern und damit auch sozusagen das Recht auf Chancengleichheit bei Wahlen auf der einen Seite für die Kandidaten, aber auch für die Bürgerinnen und Bürger, die somit nicht die richtige Möglichkeit haben, frei zwischen Kandidaten zu unterscheiden. Nein, dann kann man nicht von Wahlen sprechen, so wie wir das verstehen.
"Immer wieder an die russische Seite appellieren"
Münchenberg: Ist das denn trotzdem nicht ein System mittlerweile oder dass der Druck sich jetzt auch verschärft, zunimmt?
Wiese: Natürlich merken wir, dass sich die Restriktion und der Druck in Russland auch verstärkt haben. Wir sehen es zum Beispiel bei der Versammlungsfreiheit auch, was ja auch eine wichtige Rolle spielt an diesem Wochenende bei den Demonstrationen. Die russische Verfassung in Artikel 31 garantiert den Bürgern der russischen Föderation, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln und auch Kundgebungen und Demonstrationen durchzuführen, aber auch seit den Demonstrationen von 2012 wurde schon damals das Versammlungsgesetz verschärft, es wurden Auflagen erteilt, Restriktionen verteilt.
Das ist ja gewiss auch etwas, was man merkt, dass die russische Führung an dieser Stelle unsicher ist. Sie weiß nicht, wie sie mit diesen zunehmenden Protesten auch in den letzten Wochen und Monaten umgehen sollen. Das zeigen gerade die Proteste auch in Jekaterinburg, das noch mal deutlich macht, die Proteste sind nicht nur auf Moskau und Sankt Petersburg beschränkt, sondern es gibt ein hohes Maß an Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger über die wirtschaftliche Lage, über die soziale Lage und über die Einschränkung der Möglichkeit, an Wahlen sich zu beteiligen und auch Kandidaten zu wählen, die nicht im Vorfeld ausgeschlossen werden. Das hat sich in den letzten Wochen und Monaten gesteigert. Noch mal, dieser unverhältnismäßige Polizeieinsatz, der am Wochenende stattgefunden hat, dass auf Demonstranten eingeschlagen worden ist, eingeknüppelt worden ist, das zeigt auch, glaube ich, dass die russische Seite vor diesen Regionalwahlen sehr verunsichert ist.
Da muss man immer wieder appellieren auch an die russische Seite, es gibt Rechte, die sind in der russischen Verfassung geschützt, die haben die Bürgerinnen und Bürger, und es muss bei den Wahlen eine Chancengleichheit gesichert werden. Daher müssen wir immer wieder auch an die russische Seite dies deutlich machen.
"Russland hat Prinzipien unterschrieben und anerkannt"
Münchenberg: Herr Wiese, nun geht es ja nur um Regionalwahlen. Die Moskauer Stadtduma hat ja relativ wenig zu sagen, jetzt trotzdem diese Härte gegenüber den friedlichen Demonstrationen, den friedlichen Demonstranten. Würden Sie sagen, am Ende bleibt die Demokratie in Russland dann doch auf der Strecke?
Wiese: Ja, man muss auf jeden Fall ein Fragezeichen setzen, denn Russland hat natürlich auch Prinzipien unterschrieben und anerkannt, die wir gemeinsam vertreten im Rahmen der OSZE, des Europarates. Ja, wenn wir uns diese Proteste am Wochenende ansehen, wenn wir uns die Einschränkung der Chancengleichheit bei den Wahlen anschauen, dann muss man sich da schon ernsthafte Sorgen machen an dem Punkt. Auf der anderen Seite ist es allerdings auch so, dass innerhalb Moskaus und den vielen anderen Städten auch vieles vorangebracht worden ist. Ich mache jetzt mal das Beispiel, die russischen Stadtverwaltungen, gerade in Moskau, sind viel weiter im Bereich der Digitalisierung, der E-Mobilität, aber das sind nicht Punkte, die die Bürgerinnen und Bürger sozusagen gutheißen.
Protest in Moskau am 27. Juli 2019
Viele fanden das Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten unverhältnismäßig hart, auch Wiese. (imago / Sergei Bobylev)
Ärgerlich ist, dass Einschränkungen da sind, dass die Chancengleichheit nicht gewährleistet ist, und hier, glaube ich, wird sich auch bei den Wahlen letztendlich eine große Zahl der Bürger letztendlich nicht teilnehmen. Vielleicht wird es eine geringe Wahlbeteiligung geben, oder es wird wieder sozusagen ein Missmut an den Wahlurnen ausgedrückt, dass plötzlich Kandidaten die Wahl gewinnen, mit denen man gar nicht gerechnet hat, wie das bei einigen Gouverneurswahlen in den vergangenen Monaten schon passiert ist, wo Kandidaten gewonnen haben, die eigentlich absolute Außenseiter gewesen sind, weil das die einzige Möglichkeit gewesen ist für die Bürgerinnen und Bürger, ihre Unzufriedenheit an der Wahlurne auszudrücken.
"Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft ausbauen"
Münchenberg: Herr Wiese, wenn Sie sagen, auch die Demokratie bleibt in Russland zunehmend auf der Strecke, was heißt das dann wiederum für die deutsch-russischen Beziehungen, denn das kann ja nicht alleine eine innerrussische Angelegenheit sein?
Wiese: Nein, ich glaube, es gibt viele Bürgerinnen und Bürger, die sich für ein demokratisches Russland einsetzen, die ihre Stimme erheben, die sich einsetzen, die sich Sorgen machen, und wir als Bundesregierung haben gerade seit Amtsantritt der neuen Regierung die Mittel für die russische Zivilgesellschaft von 14 auf 18 Millionen erhöht. Wir fördern Projekte im Demokratiediskurs, im Menschenrechtsdiskurs, zur Medienvielfalt, und das hohe Interesse an diesen Projekten, auch trilaterale Projekte, wo wir junge Leute zusammenbringen aus Russland, der Ukraine und Deutschland, das hohe Interesse daran, das zeigt uns, wie groß der Bedarf ist, auch der russischen Bürgerinnen und Bürger, diese zivilgesellschaftlichen Strukturen zu stärken.
Gerade in einer solchen Situation, wo wir ein hohes Maß an Unzufriedenheit haben, wo wir auch Entwicklungen haben, die wir nicht gutheißen, glaube ich, ist es wichtiger, diese Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft jetzt nicht sozusagen einzuschränken, sondern eher noch massiv auszubauen.
Münchenberg: Auf der anderen Seite, viele, die ostdeutschen Ministerpräsidenten fordern ja ein Ende der Sanktionen wegen der Krimbesetzung, fordern eine Normalisierung der Beziehung zu Russland. Wie ist das vorstellbar, wenn der Staat gleichzeitig immer repressiver reagiert?
Wiese: Also, hier muss man differenzieren. Es gibt drei Arten von Sanktionen. Es gibt einmal die Sanktion aufgrund der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, aufgrund des Abschusses der Malaysian Airlines und aufgrund der Situation in der Ostukraine. Im Hinblick auf die Ostukraine haben wir immer gesagt, wenn es Fortschritte in den Minsker Vereinbarungen gibt, wenn es einen permanenten Waffenstillstand gibt, wenn es Abzug schwerer Waffen gibt, dann kann man hier über das eine oder andere reden, aber wir haben das noch nicht, und darum ist es am jetzigen Zeitpunkt dafür auch zu früh. Aber der jetzige neugewählte ukrainische Präsident Selenkskyj hat erste Signale erkennen lassen. Das hat er im Telefongespräch mit Präsident Putin auch gegeben.
Permanenter Waffenstillstand wäre ein erster Schritt
Das Normandie-Format tagt weiter, es hat erste Fortschritte auch gegeben zur Entflechtung einer Waffenstillstandslinie, und von daher sieht man, was die Situation in der Ostukraine anbelangt, erste Fortschritte. Aber ich würde nicht alles in einen Topf werfen, sondern ich würde sehr differenziert vorgehen an der Stelle. Darum noch mal: Ja, wir versuchen gerade im Hinblick auf die Ostukraine Fortschritte zu erzielen, dann kann man über bestimmte Situationen auch reden, aber das andere, das, was wir am Wochenende erlebt haben, das zeigt mir, wie wichtig es ist, die russische Zivilgesellschaft zu unterstützen, und wie wichtig es war, die Mittel für diese Kooperation mit der Zivilgesellschaft von deutscher Seite auch zu erhöhen.
Protest in Moskau am 27. Juli 2019
Die Zivilgesellschaft braucht Deutschlands Hilfe, meint der SPD-Politiker. (imago / Sergei Bobylev)
Münchenberg: Aber auf der anderen Seite, noch mal, bleiben wir bei den ostdeutschen Ministerpräsidenten, die ja in puncto Krimbesetzung trotzdem sagen, wir wollen eine Normalisierung der Beziehungen, wir wollen ein Ende der Sanktionen – für die Bundesregierung steht das derzeit nicht auf der Agenda.
Wiese: Sämtliche Aussagen, die ich am Wochenende vernommen habe, noch mal, sagen ganz klar, dass man sich an die Vereinbarungen im Minsk-Prozess halten sollte, und diejenigen, die ihre Äußerungen getroffen haben, haben auch gesagt, dass es Fortschritte im Minks-Prozess geben muss, um über Lockerungen von Sanktionen nachzudenken, und das ist auch so ziemlich der Kurs, den die Bundesregierung vertritt. Aber, noch mal, wir müssen im Minsk-Prozess auch erst mal zum ersten Schritt kommen, und das heißt ein permanenter Waffenstillstand, also erst einmal den ersten Schritt.
Die Gespräche mit Russland "werden konstruktiver"
Münchenberg: Auf der anderen Seite gibt es ja schon so etwas wie eine vorsichtige Annäherung zwischen Russland und Deutschland jetzt beim Petersburger Dialog. Mitte des Monats war ja auch der deutsche Außenminister wieder dabei. Deutschland hat sich dafür eingesetzt, dass Russland wieder sein Stimmrecht in der parlamentarischen Versammlung erhält. Also bemüht sich die Bundesregierung ja doch um eine Annäherung an Russland.
Wiese: Ja, zweifelsohne. Ich habe auch am Petersburger Dialog in der vergangenen Woche in Bonn und Königswinter teilgenommen, und die Gespräche – das muss man zweifelsohne sagen – werden konstruktiver. Man hört sich zu, man tauscht sich aus, man tauscht die Argumente aus. Es täuscht aber nicht darüber hinweg, dass wir in einigen Punkten auch noch unterschiedlicher Auffassung sind und auch noch ein weiter Weg letztendlich zu gehen ist. Aber es ist gut, wenn man konstruktiv miteinander im Gespräch bleibt und darin versucht, an Lösungen zu arbeiten für die schwierigen Punkte. Aber, noch mal, es muss auch Fortschritte und es muss auch Ergebnisse geben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.