In Deutschland sind umstrittene Polizeieinsätze verstärkt in den Blickpunkt geraten, insbesondere seit dem Fall George Floyd in den USA. Dies hat zu einer intensiven Debatte über Polizeigewalt geführt und Forderungen nach Transparenz und Reformen im Polizeisystem in Deutschland laut werden lassen. Die aktuelle Studie "Gewalt im Amt" der Goethe-Universität in Frankfurt am Main kommt zudem zu dem Ergebnis, dass übermäßige Polizeigewalt zu wenig aufgearbeitet wird.
- Wann spricht man von Polizeigewalt?
- Wo kommt rechtswidrige Polizeigewalt am häufigsten vor?
- Was sind mögliche Gründe für unverhältnismäßige Polizeigewalt?
- Welche Möglichkeiten gibt es für Betroffene von übermäßiger Polizeigewalt?
- Welche Lösungsansätze gibt es, um Gewalt im Polizeieinsatz einzudämmen?
Wann spricht man von Polizeigewalt?
Von Polizeigewalt spricht man, wenn Polizeibeamte übermäßig oder unangemessen physische Gewalt gegenüber Bürgerinnen und Bürgern einsetzen, die sie festnehmen, in Gewahrsam nehmen oder anderweitig kontrollieren. Polizeigewalt kann verschiedene Formen annehmen, wie zum Beispiel Schläge, Tritte, Würgen, Einsatz von Schusswaffen, rechtswidrige Festnahmen, Schikane, Erniedrigung oder rassistische Diskriminierung.
Kriminologe Tobias Singelnstein, Leiter des Forschungsprojekts "Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen", präzisierte im Dlf: "Man muss sich klarmachen, dass die Polizei in bestimmten Situationen ja durchaus befugt ist, Gewalt einzusetzen." Denn der Staat beansprucht für sich das Gewaltmonopol. Dieses überträgt er an einzelne Institutionen wie Polizei und Militär und legalisiert damit bestimmte Gewaltakte in engen Grenzen: Gewaltanwendung sollte demnach stets "verhältnismäßig" sein.
"Zugespitzt kann man formulieren: Immer dann, wenn polizeiliche Maßnahmen auf andere Weise nicht mehr durchsetzbar sind, dann darf auch Gewalt eingesetzt werden - aber nur, wenn es verhältnismäßig ist", erläutert Rechtswissenschaftler Singelnstein. "Das ist der rechtliche Maßstab, an dem sich die Polizei in ihrem Handeln eigentlich orientieren muss."
Wo kommt rechtswidrige Polizeigewalt am häufigsten vor?
Laut der aktuellen Studie kommt es vor allem bei Großveranstaltungen zu Polizeigewalt, also zum Beispiel Versammlungen und politischen Aktionen wie Demonstrationen, aber auch bei Fußballspielen. 20 Prozent der Fälle betreffen Einsätze außerhalb von Großveranstaltungen, zum Beispiel Konfliktsituationen oder Personenkontrollen. In der Studie berichten am häufigsten junge Männer, dass sie polizeiliche Gewalt erfahren haben.
Was sind mögliche Gründe für unverhältnismäßige Polizeigewalt?
Polizeibeamte arbeiten oft in herausfordernden und gefährlichen Situationen. Laut der Studie "Gewalt im Amt" sind dabei vor allem mangelhafte Kommunikation, Stress, Überforderung, Personalknappheit, diskriminierendes Verhalten und inadäquate Einsatzplanungen Auslöser für Gewalt.
Dazu komme das Bestreben, die polizeiliche Autorität aufrechtzuerhalten. Wenn diese Autorität infrage gestellt wird, neigen Polizeibeamte dazu, Gewalt anzuwenden, um sie wiederherzustellen, erklärt Kriminologe Singelnstein.
Es gibt aber noch weitere Gründe für übermäßige Polizeigewalt: Diskriminierende Einstellungen von Beamtinnen und Beamten etwa können zu übermäßiger Polizeigewalt gegenüber Menschen führen, die den betroffenen Gruppen angehören. In den letzten Jahren hat sich zudem bei der Polizei ein Konzept der Eigensicherung etabliert, das Dominanz und Durchsetzung betont, anstatt Zurückhaltung zu zeigen. Außerdem wird Gewalt in der Polizeikultur oft als normal angesehen. Wenn Polizeibeamte selten oder nie für gewaltsames Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen werden, kann dies dazu führen, dass sie weiterhin Gewalt anwenden.
Mängel in Ausbildung, Sensibilisierung und Kommunikation spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, sagte Christine Frücht, Leiterin des Landesamts für Aus- und Fortbildung der Polizei NRW, im Dlf. Bei Konfliktsituationen, insbesondere bei Sprachproblemen etwa bei Geflüchteten, könnte das Hinzuziehen eines Dolmetschers helfen, um die Situation zu deeskalieren. In jedem Fall müsse man zunächst abwägen, ob die Situation gerade gefährlich sei. "Muss ich jetzt sofort Gewalt einsetzen? Oder kann ich auch einfach zum Beispiel abwarten, weil gerade eben nicht Gefahr in Verzug ist?"
Hinzu kommt: Die Polizeiausstattung hat sich in den letzten Jahren verändert: bessere Schutzwesten, Taser, Bodycams, Drohnen und Maschinenpistolen für Amok-Lagen. Gleichzeitig hat sich das Verhalten potenzieller Angreifer verändert. Messerattacken haben zugenommen und werden daher verstärkt in die Aus- und Fortbildung einbezogen, da sie äußerst heikel sind, erklärt Behördenleiterin Frücht.
Welche Möglichkeiten gibt es für Betroffene von übermäßiger Polizeigewalt?
Schmerzgriffe, Körperverletzung, Schlagstockzugriffe, Faustschläge ins Gesicht - wer Opfer solcher Gewaltanwendungen durch die Polizei wird, behält das oft für sich, denn strafrechtlicher Erfolg erscheint den meisten aussichtslos. Rechtsanwalt Christian Mertens rät bei Dlf Nova allerdings dringend dazu, ein solches Vorgehen anzuzeigen. "Eine Strafanzeige ist immer auch ein Disziplinierungsmittel, um darüber nachzudenken, ob es okay ist, was man getan hat."
Bei Vorwürfen gegen Polizeibeamte sei eine sorgfältige und ruhige Vorbereitung entscheidend. Der Rechtsanwalt empfiehlt die rasche Erstellung eines schriftlichen Gedächtnisprotokolls der Situation. Zudem sollte man eventuelle Verletzungen ärztlich dokumentieren lassen. Um Beweise zu sichern, kann man nach Zeugen suchen oder die Situation selbst filmen, wobei darauf geachtet werden sollte, dies offen und nicht heimlich zu tun, um keine Straftat zu begehen.
Mertens warnt ausdrücklich davor, eine konkrete Person bei der Polizei zu beschuldigen. Dies könnte als Beleidigung, Verleumdung, üble Nachrede, Vortäuschen einer Straftat oder falsche Verdächtigung ausgelegt werden und zu einer Gegenanzeige führen. Stattdessen empfiehlt er, den allgemeinen Sachverhalt zu schildern und so aktiv das eigene Recht einzufordern.
Betroffene von Polizeigewalt haben auch noch andere Möglichkeiten: Sie können sich an Menschenrechtsorganisationen wenden, die spezialisiert sind und rechtlichen Beistand sowie Beratung bieten. Durch die öffentliche Aufmerksamkeit, zum Beispiel in den Medien oder bei Protestaktionen, kann Bewusstsein geschaffen und öffentlicher Druck erzeugt werden. Zudem können Betroffene sich mit anderen Opfern zusammenschließen, um gemeinsam Unterstützung und Gerechtigkeit anzustreben, indem sie lokale und nationale Organisationen in Anspruch nehmen.
Welche Lösungsansätze gibt es, um Gewalt im Polizeieinsatz einzudämmen?
Um Polizeigewalt zu reduzieren, werden in der Studie "Gewalt im Amt" unter anderem folgende Maßnahmen empfohlen:
"Korpsgeist" bekämpfen: Reform der strafrechtlichen Bearbeitung
Die strafrechtliche Aufarbeitung von polizeilicher Gewalt sollte laut den Studienautoren verbessert werden. Dies könnte beispielsweise durch eine erleichterte Anzeigemöglichkeit, eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte und eine reflektierte Herangehensweise der Justiz erfolgen.
Zudem stellt sich die Frage, ob es nicht mehr unabhängig ermittelnde Institutionen geben sollte, "um diese besondere Konstellation, wo der Staat quasi gegen seine eigenen Amtsträger und Amtsträgerinnen ermitteln soll - auch im Hinblick auf eine Gewaltenteilung - für noch mehr Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit zu sorgen", sagt Studienleiter Tobias Singelnstein.
In einigen Bundesländern ermitteln Polizisten der benachbarten Dienststelle gegen betroffene Kollegen, in anderen wurden Ermittlungen zum Beispiel beim Landeskriminalamt zentralisiert. In allen Fällen bleibt es dabei: "Es ermitteln Polizisten gegen Polizisten." Auch die institutionelle Nähe von Polizei und Staatsanwaltschaft führt laut Studie dazu, dass Staatsanwälte Verfahren gegen Polizeibeamte als herausfordernd und belastend empfinden. In den Interviews mit Staatsanwälten wurde zudem ein besonderes Verständnis für beschuldigte Polizeibeamte sichtbar, das als "Korpsgeist" zwischen den Institutionen bezeichnet wurde.
Sensibilisierung innerhalb der Polizei
Notwendig sind laut der Studie außerdem eine kritische Reflexion und Hinterfragung des Umgangs mit Gewalt sowie eine Entnormalisierung von Gewaltanwendungen. Dies beinhaltet auch die Anerkennung, dass übermäßige Gewaltanwendungen ein strukturelles Problem sind, das angegangen werden muss, sowie Coachingmaßnahmen, Supervision und Reflexion - also das Nachdenken über schwierige Einsätze, über den Blick in menschliche Abgründe und gesellschaftliche Verwerfungen.
Verbesserung der polizeilichen Kommunikation
Die Studienautoren kommen zu dem Schluss, dass bei der Polizei noch Potenzial für eine bessere Kommunikation besteht: auf Augenhöhe, Verständnis fördernd und auf Drohungen verzichtend. Eine Veränderung von Ausrüstung, Bewaffnung und Einsatzstrategien sowie die Einbeziehung sozialarbeiterischer oder psychologischer Ansätze könnten ebenfalls hilfreich sein.
Transparenz und Überprüfbarkeit
Darüber hinaus halten die Studienautoren eine transparente statistische Erfassung von polizeilichen Gewaltanwendungen und eine öffentliche Debatte darüber für wichtig. Zudem sollten die vorgeschriebenen Techniken der Gewaltausübung klarer definiert und nachvollziehbar gemacht werden: Es besteht beispielsweise Unklarheit darüber, wie häufig die Polizei überhaupt Gewalt anwendet. Es ist sogar unbekannt, wie viele Todesfälle in Deutschland im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen auftreten.
Stärkung der Position der Betroffenen
Es ist laut der Studie zudem notwendig, die Beschwerdemacht der Betroffenen von Polizeigewalt zu stärken: Empowerment-Arbeit, mediale Berichterstattung und rechtliche Unterstützung können dazu beitragen. Strafverfahren werden oft eingestellt, da Aussagen der Betroffenen im Widerspruch zu den Aussagen der beteiligten Polizisten stehen und es an zusätzlichen Beweismitteln mangelt.
Reform der Polizeiausbildung und -fortbildung
Eine umfassende Reform der Polizeiausbildung und -fortbildung, die intersektionale und rassismuskritische Ansätze beinhaltet, könne helfen, die Ungleichbehandlung von benachteiligten Gruppen zu hinterfragen und rassistische Strukturen anzugehen. Polizeibehörden in Nordrhein-Westfalen und anderen Bundesländern versuchen bereits, mehr Anwärter und Anwärterinnen mit Migrationsgeschichte anzuwerben.
Quellen: Dörte Hinrichs, Vivien Leue, Martin Krinner, Forschungsprojekt KviAPol, og