Musik: "Na zdrowie"
Alena Kadanova aus Belarus war hier die dritte Stimme bei Dagadana. Es ist fast egal, was die Frontfrauen von Dagadana singen, obwohl sie für ihr aktuelles Album "Tobie" lange in Archiven beiderseits der polnischen und ukrainischen Grenze recherchiert haben. Es wurde ein Album voller guter Wünsche. Da geht es oft um die elementaren Dinge im Leben, wie Glück, Gesundheit, eine gute Ernte, gesunde Kinder, friedlichere Zeiten. Solche Lieder werden in ländlichen Regionen Polens und der Ukraine meist zwischen dem Nikolaustag und Anfang Januar gesungen. Also rund um die Feiertage von Geburt und Taufe Jesu. Viele dieser Lieder stammen schon aus vorchristlicher Zeit und sind bis heute mit festen Ritualen verbunden, und doch haben sie etwas allgemein Gültiges, erzählt Dana Vynnytska.
Neujahrslied für die Welt
Dana Vynnytska: "Alles begann damit, dass ich ein ukrainisches Shchedrivka, ein traditionelles Neujahrslied zur Band brachte. Wir haben das arrangiert und in der ganzen Welt gesungen. Egal ob in China, Großbritannien, Argentinien oder Deutschland, die Menschen reagierten stark auf dieses Lied. Alle konnten den Refrain mitsingen. In diesem Moment waren all diese Menschen verbunden, wie in einer großen Familie. Unser Drummer sagte dann, lasst uns ein ganzes Album mit solchen Neujahrs- und Weihnachtsliedern aufnehmen. Ich dachte zuerst, das sei keine so gute Idee, denn in der Ukraine ist das immer noch eine lebendige Tradition." Das Lied "Shchedryi vechir" war der Anfang für das Album "Tobie". Dieses Lied wurde vor dem Zweiten Weltkrieg gesammelt und aufgeschrieben von Filaret Kolessa, einem ukrainischen Ethnographen, Komponisten und Historiker aus Lviv. Der Text erzählt von einer Schwalbe, die zu einem Bauern fliegt und ihm von den Gaben erzählt, die ihm von Gott geschenkt wurden. "Deine Söhne sind groß und stark. Deine Töchter sind wie Rosen. Und dein Gehöft ist erfüllt von Gottes Liebe und Freude."
Musik: "Shchedryi vechir"
Der Originaltext des ukrainischen Liedes "Shchedryi vechir" wünscht dem Bauern dann noch zahlreiche Lämmer im neuen Jahr. Die Sängerinnen von Dagadana fügten am Ende noch eine eigene Strophe hinzu, in der sie den Menschen mehr Verständnis füreinander wünschen. Musikalisch verschränken sie dabei unterschiedliche Welten, so hört man archaische Gesangstechniken, aber auch Instrumente, die man jetzt nicht sofort bei einer Musikerin vermutet, die so stark in den polnischen Traditionen verortet ist wie Daga Gregorowicz.
Daga Gregorowicz: "Meine Instrumente sind diese handlichen Taschensynthesizer und Looper, normalerweise werden die eher von DJs benutzt, aber ich liebe sie. Ich hatte endlich die Möglichkeit damit neue Welten zu schaffen. Wir mussten dafür nur einen Technologieschalter umlegen und nette Leute haben uns dabei geholfen. Es klingt vielleicht verrückt, aber für mich war das Wichtigste, dass ich all meine Ideen im Studio verwirklichen konnte."
Musik als Lebensstil
Daga Gregorowicz experimentiert schon lange mit diesen Taschensynthesizern, im Konzert ergibt das rot flackernde Licht der Kaoss Pads, mit denen die Sängerin ihre Stimme loopt oder verfremdet, einen schönen Kontrast zu ihren farbenprächtigen Bühnenkleidern. Dagadanas Musik ist schwer einzuordnen, doch darüber ist Daga Gregorowicz aus Poznan eher glücklich. Ihre ukrainische Bandkollegin Dana Vynnytska hat sie 2006 in Kraków kennengelernt. Musik ist für die beiden Frauen nicht nur Leidenschaft, sie ist ein Lebensstil, und wenn sich das Leben, wie 2020, plötzlich so stark ändert, muss sich der Stil der Musik anpassen. Darum entstanden für das Album "Tobie" auch Songs, die keine Bezüge zu traditionellen Texten haben. Bei "Inaczej", Anders, gab es zuerst die Melodie, erklären Dana Vynnytska und Daga Gregorowicz.
Dana Vynnytska: "Und in diesem Pandemiejahr begannen wir über den Songtext nachzudenken. Wir hatten eine völlig neue Idee, denn dieses Jahr hat für alle von uns neue Erfahrungen gebracht und wir wollten unsere positiven Gefühle teilen. Sicher war dieses Jahr sehr schwierig, aber wir sind gleichzeitig auch sehr dankbar für die Zeit, die wir mit unseren Familien verbracht haben und wir waren besonders dankbar für jedes andere Treffen. Was früher völlig normal war, wurde jetzt außergewöhnlich!"
Daga Gregorowicz: "Inaczej ist ein Song, der sich von allen anderen auf dem Album unterscheidet. Das ist kein traditionelles Weihnachts- oder Neujahrslied. Er reflektiert unsere Zeit, und wie alles sich verändert hat. Der Titel bedeutet soviel wie "auf andere Art, oder "anders". Alle von uns haben jetzt ein anderes Leben, und wir können jetzt viele Dinge auf eine andere Art und Weise sehen, schärfer. Nach einem Jahr fühlen wir ganz deutlich, wie wichtig unsere Familien und unsere Band für uns sind. Darum wollten wir unsere Familien im Video zeigen, aber auch die Einsamkeit, denn ich habe gerade keinen Mann oder Freund."
Musik: "Inaczej"
Mikołaj Pospieszalski gab mit seinem Kontrabass diesem Song einen pulsierenden, tänzelnden Rhythmus. Bei Dagadana ist er auch an E-Bass, Geige und zunehmend an Synthesizern zu hören. Der zweite Mann bei Dagadana ist der Schlagzeuger Bartek Mikołaj Nazaruk, er liebt Free Jazz genauso wie traditionelle Musik, seine ersten Schritte machte er mit 14 in einer Klezmerband, dass er auch Death und Black Metal liebt, hört man in verschiedenen Songs auf dem Album. Als Livemusiker spielt er in renommierten Jazz, Folk- und Ethnopopprojekten, darunter Kayah i Transoriental Orchestra oder Zakopower aus der Hohen Tatra. Beim polnisch-ukrainische Quartett Dagadana entstehen fast alle Kompositionen gemeinsam, sagt Sängerin Dana Vynnytska, die Keyboards und Klavier spielt.
Dana Vynnytska: "Ich denke, es ist das erste Album, auf dem man wirklich jeden von uns hört. Darum kann man viele Inspirationen und Stile in dieser Musik erkennen. Wir haben gemeinsame Vorlieben, aber wir sind verschiedene Menschen. Mikołaj Pospieszalski, kreierte viele wunderschöne Klänge mit seinem Moog Synthesizer. Er hat in der Pandemie viel über Musikproduktion gelernt und eine große Leidenschaft für neue elektronische Sounds entwickelt. Bartek Mikołaj Nazaruk, unser Drummer, spielt unvorhersehbar. Er ist sehr offen für verschiedene Stile aus unterschiedlichen Kulturen und sucht immer nach neuen Rhythmen und Ausdruckswegen. Manchmal erinnert mich sein drum set an die Perkussionsinstrumente eines großen Symphonieorchesters. Und Jazz lieben wir alle, wir haben uns ja auch auf Jazzworkshops kennen gelernt."
Dagadana-Bassist Mikołaj Pospieszalski studierte Jazz an der Musikakademie in Kraków und beteiligt sich an zahlreichen Projekten seiner in polnischen Jazzkreisen sehr bekannten Familie. Sein Onkel, Mateusz Pospieszalski, spielte auf "Tobie" als Gast Baritonsaxofon bei "Hola, Hola". Gesungen wurde diese Melodie früher vor allem in der Weihnachtszeit. Junge Leute zogen von Haus zu Haus, sangen und wurden bewirtet von den Gastgebern. Wenn ein unverheiratetes Mädchen im Dorf von seinen Eltern besonders streng bewacht wurde, wurde dieses Lied angestimmt, ein Dialog zwischen erfahrener Mutter und verliebter Tochter, in dem erstere versucht, letztere vom Heiraten abzubringen.
Psychedelisches Volkslied
Daga Gregorowicz: "Hola, Hola ist ein tragisches Lied, eine Mutter warnt ihre Tochter, dein Mann wird dich schlagen und dein Leben zerstören. Und die Tochter antwortet, nein er wird mich küssen und alles wird gut. Am Ende sagt die Tochter, jetzt kannst du sterben, aber gibt mir vorher meine Mitgift. Am Schluss des Liedes wollten wir darum eine mächtige Klangwand aufbauen, mit einem verrückten Saxophon, fast psychedelisch, denn es ist ein psychedelisches Volkslied."
Musik: "Hola Hola"
Das Lied, "Hola, Hola", wurde früher aber auch auf Hochzeiten gesungen, um junge Frauen davor zu warnen, was in der Ehe auf sie zukommen könnte. Die Sängerin Daga Gregorowicz hörte es zum ersten Mal in der Mikroregion Biskupizna, zu der nur zwölf Dörfer gehören. Das Gebiet war vom 13. bis 18. Jh. im Besitz der Bischöfe von Poznań, die dem Land und seinen Bewohnern den Namen gaben - "biskup" bedeutet auf Polnisch "Bischof". Anna Chuda und Franciszek Jesiak, ebenfalls aus Biskupizna, sind alte Meister, von denen die Dagadana Frontfrau lokale Lieder, Bräuche, Tänze, aber auch Rezepte für Gerichte gelernt hat. Seit 2008 singt Daga Gregorowicz diese Lieder mit der zweiten weiblichen Dagadana-Stimme, Dana Vynnytska. Sie studierte Komposition in Lviv und kam über ein Stipendienprogramm vom polnischen Ministerium für Kultur und Nationales Erbe nach Polen, das sich an junge Künstlerinnen und Künstler aus Mittel- und Osteuropa richtet. Dana Vynnytska hatte in der Ukraine schon in verschiedenen Bands gesungen und interessierte sich vor allem für Lieder aus den waldbedeckten Karpaten um ihre Heimatstadt Iwano-Frankiwsk.
Dana Vynnytska: "Wir arbeiteten mit Aufnahmen von alten Meistern aus der Westukraine. Man versucht zu verstehen, wie sie singen, wie sie ihre Stimme und die Instrumente einsetzen und welche Genres beliebt sind unter den Sängerinnen und Sängern. Wenn ich Polen und die Ukraine vergleiche, dann sehe ich, dass in der Ukraine regional noch mehr Traditionen lebendig sind. Im Bergdorf Kryworiwnja kann man bis heute diese erstaunlich starken Weihnachtslieder der Männer hören. Sie verbringen zwei Wochen singend zusammen, besuchen in einer Nacht zwei oder drei Häuser. Da geht es nicht nur um die Lobpreisung von Gott, sie überbringen singend persönliche Wünsche für die Gastgeber, denn alle kennen sich."
Diese vertraute und warme Stimmung gemeinsam verbrachter Feiertage verströmt auf dem Album "Tobie" vor allem der Schlusstitel, "Slaven yes". Es gibt viel Symbolik im Text dieses Liedes, einen Weltenbaum, auf dem ein scharfäugiger Falke thront, ein Meer aus Tränen, ein Schiff mit Tischen voll Essen und Getränken an Bord. Es ist ein Lied, bei dem die Solistin eine Zeile singt und dann ein Chor aus voller Kehle antwortet.
Musik: "Slaven yes"
Im Mittelteil dieses Liedes spielte Dana Vynnytska eine kleine chinesische Mundorgel namens Hulusy, bei einer Tour in China hatte sie dieses Instrument entdeckt. Dagadanas Vorgängeralbum "Meridian 68" erschien 2016 und wurde auch mit Gästen aus Peking, der Inneren Mongolei und Polen aufgenommen. Für "Tobie" schaute diese Band wieder verstärkt auf ihre eigenen Wurzeln, Dagadana verstehen sich als Botschafter für slawische Kulturen, sind aber auch offen für andere Einflüsse. Man muss sich selbst kennen, dann kann man auch die anderen respektieren, sagen diese Musikerinnen und Musiker, die besondere Kraft dieser Band liegt in den Liveauftritten.
Dana Vynnytska: "Ich mag es, Konzerte zu geben und ich bin gern auf der Bühne, nicht nur, weil da schöne Musik entsteht, ich bin auch mit den Menschen zusammen, die meine engsten Freunde sind. Diese Band ist mein Platz. Wir füllen keine Stadien, aber für uns zählt jeder Mensch. Wir haben uns nicht vorgenommen, Brücken zu bauen zwischen Polen und der Ukraine, oder all diese Stereotypen zu brechen, aber ich sehe, dass wir eine Mission haben. Wir versuchen etwas sehr Persönliches, das Schönste unserer Kulturen, mit der ganzen Welt zu teilen".
Das Quartett Dagadana verharrte nie bei der einfachen Wiedergabe traditioneller Musik, alte Lieder werden zerlegt, um sie neu zusammenzuzusetzen, da folgt auf eine mehrstimmige Passage auch mal eine gerappte Strophe. "W moim ogrodeczku" - "In meinem Gärtchen" ist ein nichtreligiöses Lied aus dem Süden und Osten Polens. Es wird von jungen Männern gesungen. Der Text handelt von einer Frau, die ihren Liebsten bittet, nicht in ein fernes Land zu gehen. Doch er überlässt ihr zwei Silbermünzen zum Abschied und reitet los, kehrt aber, getrieben von seinem Bauchgefühl zurück und entdeckt ihre Untreue. Interessanterweise unterschlagen die heutigen Sänger oft die letzten Strophen. Es wurde eines der sanftesten Lieder auf "Tobie" und Dagadana haben exzellente Bläser als Gäste eingeladen, Daga Gregorowicz und Dana Vynnytska singen natürlich die ganze Geschichte, bis zum bitteren Ende.
Daga Gregorowicz: "Ich habe nicht gezählt wie viele Bläser wir auf dem Album haben, aber wir wünschten uns für einige der Songs von Beginn eine Bläsersektion. Wir haben schon beim Album "Meridian 68" mit einem Bläserquartett gearbeitet, auch während der Pandemie haben wir mit ihnen eine EP mit experimenteller Musik aufgenommen. Sie fehlten uns, und wir wollten endlich wieder zusammenspielen."
Musik: "W moim ogrodeczku" (In my yard)
Daga Gregorowicz: "Wir haben dieses Album selbst produziert und vom ersten Ton an waren wir uns sehr bewusst darüber, was für einen Klang wir entwickeln wollen. Es wäre großartig, wenn Menschen, die Jazz hören, etwas darin entdecken und sich dann vielleicht für traditionelle Musik interessieren. Oder wenn Leute, die traditionelle Musik hören, sagen, diese elektronische Musik ist gar nicht so schlecht, vielleicht tauche ich da mehr ein. Wir verbinden Polen und die Ukraine seit 13 Jahren und wollen jetzt auch andere Welten miteinander verknüpfen."
Man kann bei Dagadana beeindruckenden traditionellen Gesang hören, Jazz und Improvisation. Auf dem analogen Moog Synthesizer des Bassisten Mikołaj Pospieszalski entstanden diesmal viele trancige Basslinien fürs neue Album. Seit Mitte Juni tourt das polnisch-ukrainische Quartett wieder in Polen, am 2. Juli spielten sie beim Internationalen Festival Globaltica in Gdynia, am 3. Juli folgt ein Konzert in Lublin. In Polen sind sie längst kein Geheimtipp mehr mit ihrem polnisch-ukrainischen Avantgarde Folk, der die Energie der Volksmusik bewahrt und nicht nur Sprach- sondern auch Genregrenzen überwindet. Ich freu mich auf das nächste Dagadana Konzert bei uns, am Mikrofon verabschiedet sich Grit Friedrich.
Musik wie Butter
Dana Vynnytska: "Vielleicht ist es einerseits eine der glücklichsten Zeiten in der Geschichte der Menschheit, aber gleichzeitig sahen wir den Krieg in der Ukraine, die Situation in Belarus, erlebten viele Frauenstreiks in Polen. Ich denke, wir müssen diese Lieder singen und damit Menschen Hoffnung und Unterstützung geben in diesen besonderen Zeiten. Wir sollten aufhören, andere zu verurteilen, wir sollten offener und toleranter sein, egal wie man aussieht, welche Hautfarbe man hat oder welcher Religion man angehört oder nicht. Offener und freundlicher sollten wir alle sein."
Daga Gregorowicz: "Heute hat mich jemand angerufen und gesagt: Eure Musik klingt wie schmelzende Butter, man zerfließt in eurer Musik, ich liebe, wie ihr alles miteinander verbindet. Wir haben versucht, jedem Klang seinen Platz zu geben. Es fließt ineinander. Ich habe dieses Bild dafür gefunden, man gibt tropfenweise verschiedene Farbpigmente in ein Glas Wasser. Man weiß nicht genau, wie sie sich mischen. Es gibt Platz für jede Farbe, aber wenn die Farben sich mischen, entsteht etwas Neues."
Musik: "Hej leluja"