Archiv


Polnische Musik des 20. Jahrhunderts

Auf das Leben und Schaffen der beiden polnischen Komponisten Witold Lutoslawski und Andrzej Panufnik hatten der Zweite Weltkrieg und seine Folgen unmittelbaren Einfluss. In der ersten Nachkriegsdekade fielen beide politisch in Ungnade. Damit sie noch als Interpreten am Musikleben teilnehmen konnten, gründeten sie ein Klavierduo.

Von Barbara Eckle | 29.09.2013
    Meist ist das Alter um Ende 20/Anfang 30 für einen Komponisten eine Zeit des Aufbruchs, eine Zeit, in der sich die Eigenständigkeit der Persönlichkeit festigt, die künstlerische Sprache sich entfaltet und berufliche Perspektiven sich auftun.

    In der heutigen Sendung möchte ich Ihnen zwei neue CDs mit Werken zweier polnischer Komponisten vorstellen, deren Karrierebeginn mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs quasi koinzidierte - ein Umstand, der in jede gewöhnliche Form der Entwicklung eingreifen und Spuren hinterlassen sollte. Die Rede ist von Witold Lutoslawski und Andrzej Panufnik.

    "Witold Lutoslawski
    Symphonie Nr. 1
    BBC Symphony Orchestra, Edward Gardner
    Orchestral Works IV
    Chandos Records Ltd, LC 07038
    Track 1"

    Bereits an den Entstehungsdaten von Lutoslawskis erster Symphonie ist die Kluft abzulesen, die die Weltgeschichte in das Schaffen des Komponisten geschlagen hat. 1947 hat er sie vollendet, begonnen aber schon 1941. In ihren Grundmotiven hatte er sie sogar Jahre vor dem Krieg konzipiert, und zwar als pogodny – als heitere, strahlende Symphonie. Eigentlich hatte Lutoslawski vorgehabt, sein Studium in Paris weiterzuführen, aber mit Kriegsausbruch war daran nicht mehr zu denken. Auf die Absicht einer fröhlichen Symphonie lässt seine spätere Verarbeitung dem Material kaum mehr Rückschlüsse ziehen. Die vermeintliche Heiterkeit offenbart im Kopfsatz eher groteske Züge und einen strammen, unnachgiebigen Grundrhythmus, der wie mit scharfen Hieben der Blechbläsern vorangetrieben wird und immer wieder in Aufschreie des gesamten Orchesters münden. Mit Präzision und Schärfe spielt das BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Edward Gardner Lutoslawskis erste Symphonie auf der neu beim Label Chandos Records erschienen CD Lutoslawski Orchestral Works IV. Es ist bereits die sechste Platte in der Lutoslawski-Gesamteinspielung des Orchesters. (60’’)

    "Witold Lutoslawski
    Symphonie Nr. 1
    BBC Symphony Orchestra, Edward Gardner
    Orchestral Works IV
    Chandos Records Ltd, LC 07038
    Track 1"

    In ihrer auffallenden Rohheit und ihren parodistischen Marschrhythmen, die einer verzweifelten Melancholie im zweiten Satz gegenüberstehen, fühlt man sich bei dieser viersätzigen Symphonie, Lutoslawskis erstem großem Orchesterwerk, auch immer wieder an Komponisten wie Prokofiev, Strawinsky und Bartok erinnert. Den Prinzipien des stalinistischen "sozialistischen Realismus” entsprach diese für politische Propaganda unbrauchbare Musik natürlich in keiner Weise. Wie die Werke so vieler Komponisten wurde Lutoslawskis erste Symphonie des "Formalismus’” bezichtigt und 1949, ein Jahr nach ihrer Uraufführung, vom stellvertretenden Kultusminister in den Orkus verbannt. Erst Mitte der 50er-Jahre konnte sie wieder aufgeführt werden.

    Lutoslawski selbst stand dem Werk kritisch gegenüber. Er wähnte sich damit in einer Sackgasse, wie er es ausdrückte. Die markanteste Wendung in seinem Schaffen löste 1960 die Begegnung mit John Cages zweitem Klavierkonzert aus, das er am Radio hörte. Auch wenn er mit dem Phänomen Zufall anders umging als sein amerikanischer Kollege, inspirierte es ihn zu einem für ihn ganz neuen, freieren Zugriff auf die musikalische Materie. Aleatorische Momente fanden den Weg in seine Kompositionen und waren bestimmend für sein weiteres Werk, das sich nunmehr ohne Restriktionen von außen freier entfalten konnte und Generationen von polnischen Komponisten mitprägte.

    Diese CD stellt Lutoslawskis erste Symphonie und seinen volkstümlich inspirierten Preludia taneczne – den tänzerischen Präludien – zwei Orchesterwerke mit Solovioline aus den 80er-Jahren gegenüber, die besagte Wendung im Schaffen des Komponisten erkennen lassen: In Chain 2 – einem "Dialog für Violine und Orchester” – wechseln sich die Satzbezeichnungen "Ad libitum” und "A battuta” ab, also Teile, die mit interpretatorischer Freiheit und Teile, die genau nach Notationsvorgabe gespielt werden. Dasselbe Prinzip liegt seiner Partita zugrunde, die der Komponist der Geigerin Anne-Sophie Mutter widmete. Ursprünglich für Violine und Klavier geschrieben, schuf Lutoslawski 1988, vier Jahre nach ihrer Uraufführung, eine Version für Violine und Orchester mit obligatem Klavier. In der vorliegenden Aufnahme mit dem BBC Symphony Orchestra ist die britische Geigerin Tasmin Little die Solistin: (130’’)

    "Witold Lutoslawski
    Partita, Allegro giusto
    BBC Symphony Orchestra, Edward Gardner, Tasmin Little
    Orchestral Works IV
    Chandos Records Ltd, LC 07038
    Track 5"

    An das barocke Partitenschema angelehnt lassen die drei Hauptsätze an Anfang, Mitte und Schluss metrisch einen gewissen Suitencharakter erkennen. Diese formgebenden Sätze werden durch freie, nur für Violine und Klavier gesetzte Interludien wie Planeten im Sonnensystem voneinander getrennt. Dem soeben angespielten Allegro giusto folgt ein ephemerer Ad libitum-Teil, der direkt in das Kernstück des Werks, das elegische Largo übergeht:

    "Witold Lutoslawski
    Partita, Ad libitum - Largo
    BBC Symphony Orchestra, Edward Gardner, Tasmin Little
    Orchestral Works IV
    Chandos Records Ltd, LC 07038
    Track 6 und 7"

    Das vom Komponisten immer wieder bekundete Streben nach Klarheit des Ausdrucks offenbart sich hier in seiner Partita aufs Deutlichste. Aus der geradezu bekennenden Kantabilität des Mittelsatzes spricht eine schmerzhafte Sehnsucht und Spannung, die sich in vielen seiner Werke aus dieser politisch so prekären Zeit wiederfinden. Ein intensiver und glasklarer Orchesterklang mit einem Reichtum an farblichen Nuancen ist in dieser Einspielung des BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Edward Gardner zu erleben. Die CD Lutoslawski Orchestral Works VI ist beim Label Chandos Records erschienen.

    Der Krieg machte auch dem 1914, nur ein Jahr nach Lutoslawski in Warschau geborenen Komponisten und Dirigenten Andrzej Panufnik einen bitteren Strich durch die Rechnung. Von seinem Studium in Wien in seine Heimatstadt zurückgekehrt, musste er nicht nur dessen tragisches Schicksal hautnah miterleben: Beim Warschauer Aufstand 1944 gingen zudem seine sämtlichen Werke, die er bis dato komponiert hatte, verloren. Nur sein jüngstes Werk, die Tragische Ouverture, konnte er rekonstruieren. Wie Lutoslawski fiel auch Panufnik während der Ära des "sozialistischen Realismus” der ersten Nachkriegsdekade mit seinen kurz zuvor noch preisgekrönten Werken politisch in Ungnade. In dieser für Komponisten erdrückend restriktiven Zeit gründeten Witold Lutoslawski und Andrzej Panufnik sogar ein Klavierduo, um wenigstens als Interpreten vom polnischen Musikleben nicht vollkommen ausgeschlossen zu sein.

    Von einer Auslandstournee, die er dirigierte, kehrte Panufnik 1954 nicht mehr nach Polen zurück. Man gewährte ihm politisches Asyl in England, was ihm zur zweiten Heimat wurde. Dort spielte er im Musikleben als Dirigent wie als Komponist eine bedeutende Rolle. So kam es wohl auch, dass er 1979 mit dem prestigeträchtigen Auftrag betraut wurde, zur Feier des 75-jährigen Bestehens des London Symphony Orchestra ein großes Orchesterwerk zu schreiben. So entstand das "Concerto Festivo", welches nun das Konzerthausorchester Berlin auf der fünften CD ihrer Reihe "Andrzej Panufnik – Symphonic Works" zusammen mit seiner 7. und 8. Symphonie unter der Leitung von Lukasz Borowicz eingespielt hat.

    Durch sein gesamtes kompositorisches Schaffen hindurch gilt Panufniks größtes Bemühen - nach eigener Bekundung - dem Streben nach Gleichgewicht zwischen Impuls und Konstruktion, überhaupt zwischen Gefühl und Intellekt. Auch "Concerto Festivo" stellt einen solchen Balanceakt in drei Sätzen dar. Hier sind es die drei musikalischen Grundparameter Melodie, Rhythmus und Harmonie, die er gegeneinander abwiegt, indem er in jedem der drei Sätze auf jeweils einen davon ganz verzichtet. Interessanterweise erscheint der entsprechende Parameter durch seine Absenz auf indirekte Weise besonders präsent. So verleiht gerade das ziel- und richtungslos Fließen des mit "Lirico" überschriebenen zweiten Satzes, der den Parameter Rhythmus ausschaltet, ein ganz eigentümliches Zeitgefühl:

    "Andrzei Panufnik
    Concerto Festivo – II. Lirico
    Konzerthausorchester Berlin, Lukasz Borowicz
    Votiva – Symphonic Works Vol. 5
    CPO, LC 8492 - Koproduktion mit Deutschlandradio Kultur
    Track 5"

    Besonders zufrieden war Panufnik mit der Herz-Hirn-Balance, wie sie ihm 1978 in seiner 7. Sinfonie gelungen ist. Dieses großformatige, einsätzige Werk für Orgel, Pauken und Streichorchester gleicht von der Form einem Orgelkonzert. Mit dem Titelzusatz "Metasinfonia” rückt Panufnik aber mehr das Symphonische in den Fokus. Er beruft sich damit auf das Phänomen des Wandels, wie es in den Begriffen Metamorphose oder Metaphysik mitschwingt. Metasinfonia ist ein Werk, das quasi seine Form transzendiert.

    Wie so oft orientiert sich Panufnik hier an einer geometrischen Figur, die er der Komposition zugrunde legt. Metasinfonia ist als Doppelhelix angelegt, was sich klangbildlich erstaunlich unmittelbar nachvollziehen lässt. Orchester und Orgel sind wie zwei Stränge, die sich aneinander entlangwinden. Der gestochenen Schärfe des Unisono-Orchesterklangs setzt die Orgel allerdings mit ihren polternden, clusterartigen Einsätzen etwas Unbändiges entgegen. Jenseits von Klangschönheit und Sauberkeit überwältigt diese Komposition mit einer ungestümen Kraft, die hier der Organist Jörg Strodthoff, der Perkussionist Michael Oberaigner und das Konzerthausorchester Berlin unter Borowiczs Leitung entfesseln.

    "Andrzei Panufnik
    Metasinfonia
    Konzerthausorchester Berlin, Lukasz Borowicz
    Votiva – Symphonic Works Vol. 5
    CPO, LC 8492 - Koproduktion mit Deutschlandradio Kultur
    Track 1"

    Von der Form ist "Metasinfonia" symmetrisch aufgebaut. Spiralartig bewegt sich das Geschehen auf die Mitte zu und genauso wieder von ihr weg; damit geht ein Anschwellen von Dynamik und Dichte einher sowie eine Dramatik, die sich in einem immer ausgeprägteren, immer facettierteren Dialog zwischen Orgel, Pauke und Orchester manifestiert:

    "Andrzei Panufnik
    Metasinfonia
    Konzerthausorchester Berlin, Lukasz Borowicz
    Votiva – Symphonic Works Vol. 5
    CPO, LC 8492 - Koproduktion mit Deutschlandradio Kultur
    Track 1"

    "Votiva” lautet der Titel dieser neuen CD und ist Panufniks 8. Sinfonie, seiner "Sinfonia Votiva" entliehen. Sie ist der Schwarzen Madonna von Czestochówa gewidmet, die dem polnischen Volk ein Symbol der Unabhängigkeit und der religiösen Hingabe ist.

    "Votiva” ist die fünfte CD in der Reihe "Andrzej Panufnik – Symphonic Works", die das Konzerthausorchester Berlin unter der Leitung von Lukasz Borowicz eingespielt hat und die vor Kurzem beim Label CPO in Koproduktion mit Deutschlandradio Kultur erschienen ist. Hören Sie zum Abschluss der Sendung einen Ausschnitt des 2. Satzes aus Panufniks Sinfonia Votiva. Das war die Neue Platte mit symphonischen Werken von Witold Lutoslawski und Andrzej Panufnik.

    "Andrzei Panufnik
    Sinfonia Votiva (Symphonie Nr. 8) – II. Allegro assai
    Konzerthausorchester Berlin, Lukasz Borowicz
    Votiva – Symphonic Works Vol. 5
    CPO, LC 8492 - Koproduktion mit Deutschlandradio Kultur
    Track 3"