Archiv

Polnisches Urteil zu EU-Recht
"Diese Position hat keine Mehrheit in Polen"

Der Politikwissenschaftler Piotr Buras erwartet nach dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zum EU-Recht zunehmend Druck aus der Gesellschaft. Die Positionen, mit denen man vor allem den rechten, euroskeptischen Rand zufriedenzustellen wolle, hätten in der polnischen Bevölkerung keine Mehrheit, sagte er im Dlf.

Piotr Buras im Gespräch mit Peter Sawicki | 09.10.2021
Proteste vor dem Verfassungsgericht in Warschau im August 2021
Proteste vor dem Verfassungsgericht in Warschau im August 2021 (imago/Zuma Wire)
Schon vor Wochen sollte das polnische Verfassungsgericht eigentlich ein Grundsatzurteil zur Frage fällen, welche Rechtsprechung Vorrang genießt, das polnische oder das EU-Recht. Mehrfach wurde der Urteilsspruch verschoben, Donnerstagabend kam er nun, und er lautete, wie von vielen befürchtet: das polnische Recht hat grundsätzlich Vorrang. Hintergrund ist die umstrittene Justizreform in Polen.
Die EU-Kommission will nach eigenen Angaben nun alles daran setzen, dass in Polen auch in Zukunft europäisches Recht eingehalten wird. Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen betonte, die EU-Kommission werde das Urteil zügig analysieren und dann über die nächsten Schritte entscheiden. Möglich wären zum Beispiel finanzielle Druckmittel. Der polnische Regierungschef Morawiecki wies hingegen Forderungen nach einem Austritt seines Landes aus der EU zurück.

"Ein innenpolitisches Spiel"

Der Politikwissenschaftler Piotr Buras, Leiter der Zweigstelle der Denkfabrik European Council on Foreign Relations in Warschau, sagte im Dlf, mit dem Urteil sei eine künstliche verfassungsrechtliche Hürde aufgebaut worden gegen den EU-Vertrag und gegen die Anwendung eines bestimmten, sehr wichtigen Artikels des europäischen Vertrags. Diese Position habe aber im Land selbst keine Mehrheit. "Das ist ein Versuch, diesen rechten Rand, euroskeptischen Rand, eurofeindlichen Rand zu bedienen und zufriedenzustellen, anders kann man das nicht erklären."
Worum es beim Streit um Polens Jusitzreform geht
Die EU-Kommission will Zwangsgelder gegen Polen verhängen, weil die Regierung weiter an ihrer umstrittenen Disziplinarkammer festhält. Es ist die nächste Eskalation im Streit um den Umbau von Polens Justizsystem.

Das Interview im Wortlaut
Sawicki: Es gibt ja eine Menge Kommentare, die in die Richtung zielen, dass das jetzt ein Schritt Richtung Pol-Exit, also eines Ausscheidens Polens aus der EU sei. Trifft es das im Kern?
Buras: Ja nicht wirklich. Ich glaube, natürlich rein verfassungsrechtlich gesehen müsste Polen die Europäischen Union eigentlich verlassen nach diesem Urteil, weil wenn bestimmte Artikel des EU-Vertrags mit der polnischen Verfassung nicht zu vereinbaren sind, dann haben wir nur drei Möglichkeiten: Wir können die EU-Verträge ändern, wir können unsere Verfassung ändern oder die Europäischen Union verlassen. Die beiden ersten Möglichkeiten sind eigentlich ausgeschlossen, also es bleibt nur die dritte Option. Aber es ist natürlich vielleicht nicht so schlimm oder nicht so einfach, nämlich das polnische Verfassungsgericht ist ein Instrument der polnischen Regierung, das ist kein unabhängiges Gericht, und wir wissen auch, dass die polnische Regierung sich auch an die polnische Verfassung, auch die Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichts nicht unbedingt hält. Insofern, das ist ein politisches Spiel.
Man muss eben diesen Schluss nicht ziehen, wenn die polnische Regierung das machen will, kann sie auch dieses Urteil ignorieren in der Absprache mit dem Verfassungsgerichtshof. Also das ist nicht zwingend, dass Polen die Europäischen Union verlässt, es ist eher so, dass mit diesem Urteil eine künstliche verfassungsrechtliche Hürde aufgebaut wurde gegen den EU-Vertrag und gegen die Anwendung eines bestimmten, sehr wichtigen Artikels des europäischen Vertrags.

"Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit außer Kraft gesetzt"

Sawicki: Und wenn wir darauf erst mal noch schauen, was folgt erst mal ganz konkret unmittelbar aus diesem Urteil, das wir am Donnerstag gesehen haben?
Buras: Paradoxerweise sehr wenig, das ist ja ein innenpolitisches Spiel. In den letzten Jahren hat die Regierung Recht und Gerechtigkeit das polnische Justizwesen gründlich umgebaut und das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit außer Kraft gesetzt.
Sawicki: Da würde die Regierung widersprechen – ist das für Sie ausgemachte Sache?
Buras: Nein, das steht fest, dazu gibt es auch Urteile des Europäischen Gerichtshofs, und das ist eben der Grund dafür, dass die polnische Regierung jetzt will die Anwendung dieser Urteile des Europäischen Gerichtshofs, die darauf hinauslaufen, dass eben diese Justizreformen zurückgenommen werden müssen, in Polen verhindern. Und dazu ist eben die verfassungsrechtliche Hürde da oder Blockade, aber die ist aus der Sicht der europäischen Institutionen völlig belanglos.
Der Europäische Gerichtshof hat schon vor ein paar Tagen zu Recht festgestellt, dass die Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofs kein Argument ist, gegen die Anwendung der europäischen Verträge und nicht als solches angesehen werden kann. Das eigentliche Problem, das wir haben, ist, dass die polnische Regierung die Urteile des Europäischen Gerichtshofs nicht umsetzt, und zwar nicht seit gestern, sondern zumindest seit Juli, als zwei wichtige Urteile verkündet worden sind. Und eben dieses Urteil von gestern wird nichts daran ändern.

Druck der EU wird Wirkung zeigen

Sawicki: Genau, und man erwartet ja jetzt eine Reaktion der EU – das wurde ja bereits angekündigt –, dass man das Urteil, also in Brüssel die Kommission, die will das Urteil analysieren und dann zeitnah antworten. Welche Reaktion in Brüssel würde denn in Warschau Eindruck hinterlassen?
Buras: Momentan wird darüber verhandelt zwischen der polnischen Regierung und der Europäischen Kommission, ob der polnische Recovery Plan, das heißt dieser polnische nationale Wiederaufbauplan, aus dem Polen mehrere Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt bekommen soll in kommenden Jahren, von der Europäischen Kommission akzeptiert werden soll. Eine der Voraussetzungen dafür ist, dass Polen eben zumindest einen Teil dieser Justizreformen zurücknimmt und vor allem eben die Urteile vom Juli umsetzt. Ich glaube, das ist der wichtigste Hebel, wenn es eben um diese jetzt etwas verfahrene Lage geht für die Europäische Kommission, und den muss man ansetzen.
Ich glaube, es ist ja fast unvorstellbar, dass die Europäische Union mehrere Milliarden Euro an ein Land auszahlen sollte, das eben auf eine eklatante Art und Weise das europäische Recht außer Kraft setzt. Das ist eben wahrscheinlich das wichtigste Feld, auf dem sich das abspielt.
Sawicki: Würde das wirklich ein Umdenken in Warschau bewirken, wenn Milliarden Euro an Zuschüssen, an Subventionen aus welchen Fonds auch immer, wenn die zurückgehalten werden würden?
Buras: Ich glaube, es geht nicht darum, das Geld eben nicht auszuzahlen, sondern damit anzudrohen und zu sagen, das sind die Voraussetzungen dafür, dass das Geld nach Polen fließt. Und ich glaube, das hat schon eine gewisse Wirkung gezeigt. Diese Verhandlungen haben sich jetzt in die Länge gezogen in den vergangenen Wochen, eben aus dem Grund, dass die Kommission eben auf diese Konditionen bestanden hat, und ich glaube, das wird schon Wirkung zeigen.
Vor allem muss man auch bedenken, die polnische Gesellschaft ist sehr stark proeuropäisch, unterstützt die EU-Mitgliedschaft, und es wird auch bestimmt Druck aus Polen geben, eben dieses europarechtliche und verfassungsrechtliche – aus der polnischen Sicht – Urteil eben zurückzunehmen.
Sawicki: Genau, da wollte ich Sie auch noch fragen, wir haben nicht mehr so viel Zeit, aber wenn Sie sagen, dass das Ganze sozusagen ein politisches Urteil gewesen sei, dass das ein politisiertes Verfassungsgericht sei, und gleichzeitig aber die deutliche Mehrheit der Menschen in Polen für eine EU-Mitgliedschaft ist und für gute Beziehungen innerhalb der EU, warum fährt Warschau dann diesen konfrontativen Kurs?
Buras: Es gibt eine Auseinandersetzung auch innerhalb der polnischen Regierung zwischen einem europaskeptischen Teil und einem EU-feindlichen Teil der Regierung – die Regierung hat jetzt Probleme mit der parlamentarischen Mehrheit, die ist gar nicht sicher –, und dieser innenpolitische Hintergrund ist sehr wichtig, um eben diese ganze Lage zu verstehen. Das ist ein Versuch, diesen rechten Rand, euroskeptischen Rand, eurofeindlichen Rand zu bedienen und zufriedenzustellen, anders kann man das nicht erklären. Diese Position hat keine Mehrheit in Polen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.