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Polyfones Weiß

Die Wittener Tage für Kammermusik boten einen wahren Uraufführungsmarathon. Junge Komponisten, Interpreten und Wissenschaftler stellten ihre neuesten Werke vor.

Von Jörn Florian Fuchs | 28.04.2008
    Es ist Frühling in Deutschland, überall spriessen Blümchen und Pflanzen. Zum vollendeten Gedeihen der selbigen gehört indes auch das Pflegen und Hegen. Besonders schön war es dieses Wochenende in Witten, wo nicht nur die Vegetation in postwinterlichem Glanz erblüht, sondern auch neue Klangpflanzen üppig wuchsen und wucherten – dank der aufwändigen Arbeit und Aufzucht des Neue-Musik-Gärtners und WDR-Redakteurs Harry Vogt.

    Vogt stellte ein vorwiegend sonniges Programm zusammen. Es gab solides Mittelmaß, wenig wirklich Ärgerliches, und vielleicht drei-, viermal Spektakuläres. Spektakulär war in jedem Fall ein neuer Aufführungsort. Dort, wo früher unter Tage malocht wurde, erklingen heute überirdische Töne. Der österreichische Klangtüftler Georg Nussbaumer bespielte die Zeche Nachtigall. Neben Vogelstimmen in Form von Ballons mit Orgelpfeifen gab es im für durchschnittlich große Mitteleuropäer sehr niedrigen Stollen dumpfe Laute und zittrige Videos.

    Jenseits des Stollens schuf der Schweizer Andres Bosshard einen Klangbaum, der mittels Live-Elektronik, realem Akkordeon sowie Wind und Wetter einen kräftigen Hauch Alpenland zum staunenden Publikum schickte. Und in der ehemaligen Ziegelei brachte Jay Schwartz einen Haufen Tamtams elektroakustisch mächtig zum Schwingen, was die immer wieder hereinschneienden "normalen" Besucher heftig entgeisterte. Unter sich war man dann wieder an den üblichen Spielstätten wie der Rudolf-Steiner-Schule, die Wolfgang Rihm und der Klarinettist Jörg Widmann mit einem wunderbar klaren Tonfeuerwerk beschallten.

    Die Öffnung nicht nur von musikalischen Räumen war ein zentraler Programmpunkt in Witten. Sehr gelungen bespielte die Rihm-Schülerin Rebecca Saunders das Märkische Museum, hier wandelte man spätabends durch die abgedunkelten Säle, umgeben von manchmal diffusen, manchmal sehr eruptiven Klangereignissen.

    Mehrere Kompositionen widmeten sich im Wortsinne Mundräumen, während Erin Gee eine reichlich autistische "minimal voice music" vorstellte, überzeugte Isabeella Beumer mit ihrem 20-minütigen Parforceritt durchs Unter-, Mittel- und Obertonspektrum, nebst einigen amüsanten, selbstreflexiven Kommentaren zur Vortragstechnik.

    Sehr eindringlich gerieten Uraufführungen von Hans Abrahamsen und Mark Andre. Andre zeigt in seinem Stück "…es…" vor allem Übergänge, Zerfaserungen, Ab- und Umbrüche. Es ist eine tastende, filigrane Musik, die den Ausführenden ganz neue Spieltechniken abverlangt.

    Mark Andres Suche nach Transzendenz schliesst sich auch der Däne Hans Abrahamsen an. Sein einstündiges Werk "Schnee" transformiert den Kanon aus dem Geiste Bachs sanft, aber bestimmt, in eine glitzernde Raummusik, mal zart und mal wild. Zumindest bei Andre und Abrahamsen merkt man das Ende der sogenannten Postmoderne und das Wiedergewinnen einer durchdachten, nachgerade spirituellen Position. Ob das ein Trend wird, bleibt jedoch noch abzuwarten.