Vor 30 Jahren, Herbst 89: "Wir sind das Volk", tönt es auf den Straßen in Leipzig – und SED-Funktionär Günter Schabowski stammelt: "Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort." Die Mauer bröckelt. Doch wie war die Wende im Spiegel der Popkultur?
Zwei Musikredakteure am Mikrofon
Den Zeitgeist von 89 wollen wir wieder aufleben lassen mit zwei Musikredakteuren aus Ost und West: Marion Brasch, heute radioeins-Moderatorin, Roman-Autorin und damals am Mikrofon der progressiven DDR-Jugendwelle DT64. Und vom Rundfunk im Amerikanischen Sektor, RIAS, auf der anderen Seite der Berliner Mauer: Olaf Leitner – Musikjournalist und Autor von Sachbüchern über die DDR-Musikszene.
Adalbert Siniawski: Es ist Herbst 1989, die Menschen marschieren bei der Leipziger Montagsdemo am 9. Oktober, und am 9. November spricht SED-Politbüromitglied Günter Schabowski - wir kennen diese Töne. Wir haben Sie in den Musik- und Kulturredaktionen auf diese Ereignisse reagiert? Olaf Leitner.
Olaf Leitner: Ich habe damals öfter mal Seminare abhalten müssen für Lehrer, die aus "Wessiland", wie wir damals sagten in Westberlin, kamen und die dann also auch rüber nach Ostberlin gingen, um das Haus des Lehrers zu besuchen und da ein bisschen Politik auch zu schnüffeln. Und an dem Tag, genau nachdem die Mauer gefallen war, also an dem Morgen danach, hatte ich so ein Seminar und habe den Leuten das predigen müssen, was ich über DDR-Musik wusste. Und das Verrückte war: Da waren schon zwei drin: "Ja, wir kommen aus Ostberlin". Und ich so: "Ja, erzähle ich das Richtige oder erzählte ich Quatsch?" "Nein, nein, es ist alles okay, es ist alles in Ordnung." Das war alles so irre.
Siniawski: Ja, es hat sich alles gewendet, so schnell.
Leitner: Ja, man hatte den Eindruck, man fährt zu schnell mit dem Auto. Es war natürlich absolut toll und eigentlich unvorstellbar. Und das war dann doch so.
"Es war ein völlig anderes Arbeiten als vorher"
Siniawski: Aber beim RIAS mussten Sie ja wahrscheinlich feiern. Der amerikanisch inspirierte und geführte Sender, ja, ist jetzt am Ziel angelangt, oder?
Leitner: Mm, ja - aber: Kann es sein, dass er jetzt abgemeldet wird? Das war unsere Befürchtung, die ja auch im gewissen Sinne eingetroffen ist. Aber man hat nachher einen Kompromiss gefunden, indem man Kollegen vom DDR-Rundfunk und RIAS-Kollegen zusammengemischt hat, was auch nicht ganz einfach war und nicht ohne Probleme war. Aber jetzt ist es halt … das Gebäude ist noch da. Sogar die Schrift steht noch oben drauf.
Siniawski: Da sitzt, in diesem Gebäude nämlich, Marion Brasch. Da steht "RIAS" drauf. Das ist unser Schwestersender Deutschlandfunk Kultur, der da mittlerweile beheimatet ist. Aber noch mal Frage an Sie, Frau Brasch, diese Ereignisse damals: Wie sah die Musikredakteurin der Jugendwelle DT64 diese Einschnitte?
Marion Brasch: Naja, also die Nacht selber, die habe ich irgendwie sehr seltsam erlebt. Nur ganz kurz: Ich wohnte damals an der Bornholmer Straße, beziehungsweise an der Verlängerung der Bornholmer Straße, und wunderte mich sehr, dass plötzlich eine Autodemonstration gen Westen ging. Ich dachte, es war noch eine Demo und wusste nicht, dass die Mauer aufgegangen ist. Ja, was danach passierte, das war ambivalent. Also einerseits haben wir natürlich sofort die Fenster - also buchstäblich, so symbolisch - die Fenster aufgemacht. Wir haben ein komplett anderes Programm gemacht. Wir haben auf Augenhöhe gesendet, wir sind raus auf die Straßen. Wir haben mit den jungen Leuten gesprochen, und man wusste ja nicht, was passieren würde. Und es war ja … an jedem Tag passierte etwas Neues, ja, und das haben wir quasi reflektiert. Es war ein völlig anderes Arbeiten als vorher. Also wir haben zwar immer noch in den gleichen Strukturen gearbeitet, aber völlig andere Inhalte gemacht. Also das war für uns eine große Befreiung.
Und musikalisch spielte … also Musiksendungen spielten da in dem Moment nicht so eine große Rolle. Wir haben natürlich die Giftschränke aufgemacht, haben die Renft-Platten wieder rausgeholt und haben sie gespielt, weil wir es jetzt konnten, durften und so - das war schön. Aber da ging es wirklich zu spiegeln: Was passiert gerade in dem Land? Also, da spielte Musik eine nachgeordnete Rolle.
Siniawski: Und sie konnten endlich "cool, interessant und kritisch sein", wie Sie beschrieben haben.
Brasch: Ja, ja, das konnten wir also, das haben wir vorher auch schon versucht. Also wir sind relativ schnell in den Widerstand gegangen dann im Herbst 89, bevor überhaupt klar wurde, dass da eine Mauer aufgehen würde oder so, haben wir das auch schon gespiegelt, was passiert und mit großen Fragezeichen auch berichtet. Das war damals noch nicht ohne, aber im Widerstand waren wir tatsächlich nicht. Aber danach war das natürlich wirklich ein sehr politisches Radio - und zwar gewollt politisch, von uns gewolltes, politisches Radio. Diese Freude und diese Euphorie, die viele Leute hatten, war auch gepaart - also unsererseits, beziehungsweise meinerseits muss ich jetzt sagen - mit einer großen Ambivalenz. Was würde denn jetzt passieren? Wie geht's weiter? Und als dann plötzlich diese Rufe sich änderten und es nicht mehr hieß, "wir sind das Volk", sondern "wir sind ein Volk", gehörte ich zu denen, die das ja nicht mehr so toll fanden.
"Programm total umgekrempelt"
Siniawski: Auch wenn ein paar Jahre später der Stecker gezogen wurde bei DT64 – zwischenzeitlich, 1990, schuf der Sender als erster deutscher Sender mit der Sendung "Dancehall" zum Beispiel eine Plattform für Techno und DJ Marusha. Also war es auch eine Blütezeit für die Popkultur?
Brasch: Ja, absolut. Also wir haben ja dann auch unser Programm total umgekrempelt und haben neue Sendungen erfunden, also unter anderem Marusha, die auch eine große Rolle spielte damals bei der Rettung von DT64. Also dieser Prozess, wo diese Existenz des Senders, der abgewickelt werden sollte, arg bedroht war, und wo die Leute dann auf die Straße gegangen sind, da kam Marusha zum Sender und hat dieses Mayday erfunden. Das war eigentlich damals ein Mayday zur Rettung von DT64 und wurde dann ein quasi zu einem Symbol der ganzen Techno-Bewegung dieser Zeit.
Siniawski: Gab es so eine Art von Kreativität eigentlich auch beim RIAS, Herr Leitner, nach dem Fall der Mauer?
Leitner: Sachlichkeit, würde ich sagen, keine Euphorie unbedingt, weil man ja immer damit rechnen musste, selber abgewickelt zu werden. "So, die Aufgabe ist erfüllt, prima. Vielen Dank, mach's gut und man sieht sich, ja." Also ich kann mich gar nicht so an lebhafte Diskussionen erinnern, vielleicht fanden die nur in den politischen Zirkeln oder in den politischen Redaktionen statt. Aber irgendwie ... man war mit sich selbst auch ein bisschen beschäftigt, also ich meine, mit sich selbst als RIAS. "Was passiert jetzt? Ja, was haben wir jetzt für eine Funktion?" Und das hing, glaube ich, auch ein bisschen drüber.
Siniawski: Wahrscheinlich war das eine Vorausahnung: Nach der Wende wurde die Medienlandschaft dann neu geordnet. Ganz kurz gerafft: DT64 wurde trotz sehr heftiger Höherproteste – Hungerstreiks, habe ich auch gelesen – aufgelöst, wurde zu MDR-Sputnik. RIAS1 verschmolz mit Deutschlandsender Kultur zum Deutschlandradio. Und die Jugendwelle RIAS2 wurde privatisiert zum Sender rs2.
Leitner: Raffinierter Name übrigens.
Siniawski: 2014 haben Sie, Marion Brasch, auf eigene Faust ein Revival-Festival, "Return to Sender", organisiert, an dem auch Olaf Leitner teilgenommen hat. Wie blicken Sie auf Ihre Zeit als Musikjournalisten jetzt zurück? Ist es Nostalgie? Ich meine, wenn man so ein Revival-Festival macht, könne man das Denken.
Brasch: Das ist keine Nostalgie, sondern das ist eine Sehnsucht nach einer anderen Form von Arbeiten und von Freiheit und von Anarchie. Wir haben ja wirklich anarchisch gesendet. Diese Sehnsucht ... ja, das kann man als Nostalgie betrachten. Aber eigentlich sehnen wir uns ja immer irgendwie wieder danach, dass etwas Anderes passiert, etwas Besseres passiert. Und es ist ja eigentlich so eine nach vorne schauende Nostalgie, wenn ich das so beschreiben kann.
"Da sind exzellente Leistungen entstanden"
Siniawski: Wehmut gab es ja auch beim RIAS - ich meine, als der abgeschaltet wurde. Auch da gab es ja Trauerbekundungen, denn der gehörte zum Westen oder zu Berlin wie der Berliner Bär, oder?
Leitner: Na, kann schon sagen, doch. Aber, weil Sie fragten nach Rückblick, auch, was die DDR-Szene angeht. Ich muss sagen, ich habe die furchtbare Angst, dass das, was da in der DDR an Kultur geleistet wurde - gerade auf dem Gebiet der Populärmusik - dass das irgendwann mal absäuft - im Augenblick interessiert es sowieso keinen -, aber dass das verschwindet. Und da sind so exzellente Leistungen entstanden - ist wirklich wahr, das könnte ich jetzt im Einzelnen nachweisen. Da gibt es so viele Talente, oder gab so viele Talente ...
Ich bin sogar der Meinung, dass die DDR-Populärkultur am dichtesten dran war; also mehr als die Dichter, die sich aus selten mal politisch geäußert haben - mal in einem Werk, in ihren Werken, irgendwie und so. Aber die sind auf die Bühne gegangen und haben Dinge da auf der Bühne gesagt, die eigentlich gar nicht gingen, und die immer versucht haben, die Wahrheit, die ja nicht in einer Zeitung stand, irgendwie künstlerisch zu vermitteln - mit Spaß und auch mit Ironie. Aber wie gesagt: Die Angst, dass da was verloren geht, die beschäftigt mich ein bisschen.
Wir haben noch länger mit Marion Brasch und Olaf Leitner gesprochen -
hören Sie hier die Langfassung von Corso Spezial