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Popkultur in Brexit-Britannien
Jetzt erwachen die Kreativen

Brexit - war da was? Anfangs hatte sich DLF-Reporterin Louise Brown über die seltsame Stille in den Medien ihres Heimatlandes gewundert. Kann sie ihre Landsleute nun - nach vielen Gesprächen und Begegnungen mit Künstlern und Kreativen - besser verstehen? Und wie steht es um die Popkultur im UK?

Louise Brown im Gespräch mit Adalbert Siniawski |
    Der britische Blick auf die Welt: Das 10. British-Shorts-Filmfestival in Berlin
    Großbritannien im Blick: DLF-Reporterin Louise Brown hat viele Eindrücke in ihrer Heimat gesammelt (imago stock&people)
    Adalbert Siniawski: Louise Brown, Autorin der Serie "Brexit Monday", ich war Ihr Redakteur und jede Woche wirklich sehr gespannt, wenn ein neues Skript von Ihnen in meinem Postfach war und sich sozusagen eine neue Facette des Themas zeigte. Nach mehreren Reisen nach Großbritannien und ganz vielen Begegnungen - wie steht es nun um die Popkultur made in UK?
    Louise Brown: Also sie ist auf jeden Fall da. Sie ist nur anders da, würde ich sagen. Also während es zu Thatchers Zeiten vielleicht eher die Popmusik war, die Politik und Gesellschaft thematisiert hat, ist es heute, würde ich sagen, eher zum Beispiel Comedy. Bühnenkomiker sind ja fast wie Popstars heute. Die Satire nimmt das Thema wirklich auf - ob von Comedians auf der Bühne oder auf YouTube oder auf Twitter - wobei es auch da gedauert hat. Der YouTube-Star Jonathan Pie, das ist ein fiktiver Journalist zum Beispiel, der ist für seine Wutreden sehr bekannt. Und der hat zum Beispiel auch gesagt, dass es ihm leichter fällt, über etwa die Meinungsfreiheit zu schreiben als über ein so langweiliges Thema wie Brexit.
    Wie das Monster von Loch Ness
    Siniawski: Bevor Sie mit Mikrofon und Aufnahmegerät losgezogen sind, haben Sie gesagt, dass Ihnen aufgefallen ist, dass das Thema Brexit auffällig selten so jenseits der Politikseiten und Politiksendungen auftaucht.
    Brown: Ja.
    Siniawski: Haben Sie mittlerweile eine Ahnung, warum das so ist?
    Brown: Also in den Gesprächen mit den Menschen, denen ich begegnet bin auf dieser Reise, wurde der Brexit als Niemandsland beschrieben. Er wurde als Loch-Ness-Monster beschrieben - also alle wissen, dass er da ist, aber keiner hat ihn wirklich gesehen. Es ist eher so ein Gefühl von Lähmung, würde ich sagen. Also viele finden es einfach, glaube ich, unglaublich diffus. Keiner weiß, was passieren wird. Und vielleicht ist es einfach schwer, gegen so etwas anzugehen. Vielleicht hören wir einfach mal rein, was die beiden osteuropäischen Comedians Radu Isac und Mike Topolski dazu gesagt haben:
    Mike Topolski: "People are really bored to hear about Brexit."
    Radu Isac: "It's tiring to follow the negotiations. If something big happens, I'm sure I'll find out about it."
    Topolski: "Totally. It can get really boring in terms of following any sort of development. I don't think any of us actually knows what the Brexit is about yet. It's a mystery."
    Isac: "I think the whole thing is a joke itself."
    Brown: Genau, da hat man es eigentlich gehört … Isac, der sagt: Ich höre erst mal weg. Es passiert sowieso nichts. Und wenn irgendetwas Großartiges passiert, irgendeine Verhandlung, dann bekomme ich das eh schon mit. Und Mike Topolski, der ja auch gesagt hat, dass es halt einfach unglaublich langweilig ist und ein großes Mysterium, was da mit dem Brexit passiert.
    "Es gibt einfach wenig Energie und Raum"
    Siniawski: "Wir brauchen einen neuen Youthquake", das ist ein Satz, der mir hängen geblieben ist. Diesen Satz hatte der Kulturaktivist Wayne Hemingway im Corsogespräch gesagt. Er bedauert, dass die Kreativen schweigen und dass sich die Jugend kaum mehr für Mainstream-Politik interessiert. Was ist los mit der Jugend in Großbritannien? Ein Großteil ist doch pro EU, oder?
    Brown: Also meiner Meinung nach: Was los ist, ist, dass die Jugend heute einfach so sehr mit dem Überleben beschäftigt ist. Es gibt einfach wenig Energie und Raum um überhaupt kreativ, subversiv oder aktiv zu sein. Die Mieten sind einfach unbezahlbar, wer studiert hat, muss erst mal Studentenkredite von um die 50.000 Pfund abzahlen. Vielleicht liegt es auch, wie ein anderer Künstler es gesagt hat, an den sozialen Medien. Also Aktivismus funktioniert heute ja auch anders, funktioniert heute online - was natürlich Vor- und Nachteile hat, nämlich dass man vielleicht weniger auf die Straße geht. Und dann gab es natürlich dieses Jahr auch "Love Island".
    Siniawski: "Love Island"?
    Brown: Sie gucken es etwa nicht?
    Siniawski: Nee.
    Brown: Auf Deutsch heißt es "Heiße Flirts und wahre Liebe". Also man muss sich das so vorstellen: Das ist ein bisschen wie "Big Brother" in einer schicken Villa auf Mallorca. Leicht bekleidete Menschen leben in dieser Villa und sollen sich miteinander verbandeln. Dieses Jahr lief die vierte Staffel und ja, das Land ist echt besessen davon. Die Zeitungen waren voll davon. Selbst bei einer seriösen Politiksendung saß eine "Love Island"-Kandidatin neben Nigel Farage. Und sie haben über den Brexit gesprochen.
    Siniawski: Ohje. Also Nigel Farage, der maßgeblich den Brexit vorangetrieben hat und sich dann am Ende aus dem Staub gemacht hat.
    Brown: Genau.
    Benedict Cumberbatch spielt Leiter der "Vote Leave"-Kampagne
    Siniawski: In Ihren Beiträgen kam auch durch, dass sich die Lage für die einfachen Leute drastisch verschlimmert hat. Die osteuropäischen Comedians treffen in Hochburgen der fremdenfeindlichen Ukip-Partei auf Feindseligkeiten. Und in den abgehängten Regionen der Arbeiterklasse ist von zunehmendem Rassismus die Rede. Wie stark ist dieser Umschwung? Und kann die Kultur vielleicht etwas kitten, vielleicht mit bestimmten Events, was die Politik vernachlässigt hat?
    Brown: Ja. Zum Beispiel Wayne Hemingway, der veranstaltet diese schönen Kulturfestivals, gerade in solchen abgehängten Regionen. Und solche Festivals bringen natürlich Menschen zusammen, Nachbarn, die vielleicht bis dahin kein Wort miteinander gesprochen haben. Und vielleicht hätte der ein oder andere nicht für den Brexit gestimmt, wenn er seinen polnischen Nachbarn besser kennengelernt hätte.
    Siniawski: Das zeigt doch, dass die Kulturszene nun doch aufzuwachen scheint. Was kommt da auf uns zu und was ist Ihre Einschätzung, was wird das vielleicht bringen?
    Brown: Ein gutes Barometer dafür ist das Edinburgh Fringe Festival, das größte Kulturfestival in der Welt. Und letztes Jahr gab es gerade ein Brexit-Musical und dieses Jahr gibt es eine ganze Reihe von Comedy-Shows und Theaterstücken: von dem Stück "It's a Dog's Brexit" mit dem vielversprechenden Untertitel "Unterhaltsame 50 Minuten in denen die letzten Brexit-Verhandlungen erörtert werden" oder Jonny Woos "All Star Brexit Cabaret", eine musikalische Satire von der Drag Queen Jonny Woo und dem großartigen Komponisten Richard Thomas - quasi Brexit mit Pailletten besetzt.
    Dann gibt es eben auch ein Doku-Drama, das wird man bei Channel 4, dem Privatsender, sehen, mit Benedict Cumberbatch. Dort wird er den Dominic Cummings spielen, der war der Leiter der "Vote Leave"-Kampagne, also diese Kampagne, die eben für den Austritt Großbritanniens aus der EU war. Und wenn Benedict Cumberbatch in einem Doku-Drama den Brexit erklärt, also ich finde, das kann nur positiv sein. Fernsehen ist einfach nah am Leben. Und alles, was uns hilft, den Brexit zu verstehen, wie es dazu gekommen ist und was uns erwartet, kann meiner Meinung nach nur positiv sein. Ich habe die Hoffnung nicht verloren, dass die Briten eines Tages unser Land oder ihr Land wieder in die EU führen werden.
    "Humor ist ein großes Ding in der Arbeiterklasse"
    Siniawski: Wer weiß, das wird sich zeigen. Aber was sich auf jeden Fall gezeigt hat: Trotz dieser ganzen Debatten und Verwerfungen rund um den EU-Austritt blitzte ja immer wieder der britische Humor durch. Also kann man sagen: Der schwarze Humor stirbt in Großbritannien zuletzt?
    Brown: Ja, ich glaube, der Humor stirbt nie. Das ist mir zum Beispiel besonders aufgefallen bei der Begegnung mit dem Künstler Pete McKee - also diese Kraft des Humors. Also der hat es wirklich nicht leicht im Leben. Der hat vor zehn Jahren immer noch beim Discounter gearbeitet, um seine Kunst zu finanzieren. Und trotz des Ernstes der Themen, die wir besprochen haben, haben wir auch viel gelacht, zum Beispiel über Sinn und Zweck des Darts-Spielens:
    Der britische Zeichner Pete McKee hält in seinem Atelier in Sheffield ein Bild hoch mit einem grummeligen Fußballspieler
    Grummeliger Kicker, fröhlicher Cartoonist: Der britische Zeichner Pete McKee in seinem Atelier in Sheffield (Deutschlandradio/Louise Brown)
    Pete McKee: "Yeah, a set of darts on the table not only is it a fine working class sport."
    Louise Brown: "Is it a sport?"
    McKee: "It is very much a sport, how dare you! So there you go, end of debate!
    Wenn ich eine Sache nennen müsste, die typisch ist für die Arbeiterklasse, dann ist es der Humor. Humor bringt dich aus schwierigen Situationen heraus. Mein Vater hat mich so erzogen, trotz aller Widrigkeiten zu lachen. Humor ist ein großes Ding in der Arbeiterklasse."
    Siniawski: Das Thema Brexit werden wir weiterverfolgen.
    Brown: Ja, auf jeden Fall.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Eine Spotify-Playlist mit den besten Songs zum Thema begleitet die Serie - im Deutschlandfunk-Account unter "DLF_BrexitMonday"