"Sie nähert sich dem Ufer des Bachs, ihre Augen spähen und finden einen munteren, nackenden Burschen. In dem Augenblicke, wo Gustchens erste Blicke auf ihn fielen, beschäftigte seine Hand sich mit einer der edelsten Pflanzen der Schöpfung. Wie nach einer langen anhaltenden Dürre die Pflanze erst welkend auf der Erde liegt und nun nach wohlthätigsten Regen sich gestärkt emporrichtet: So die Pflanze des jungen Mannes, in welchen Gustchen den Gärtnerburschen Christoph erkennt."
"Gustchens Geschichte" von 1805 ist in unseren Augen und Ohren ein amüsantes Stück, voller ein- bis zweideutiger Metaphern, die doch dem Dümmsten nicht verhüllen, dass das züchtige Gustchen einen Phallus gesehen hat.
"Auguste blieb einige Secunden unbeweglich auf ihrem Standpuncte, der unerwartete Anblick überraschte sie - jetzt sah Christoph sich um, bemerkt Augusten, ergreift hastig sein Hemde und verbirgt seinen - Trouble. Auguste fühlt Glut auf ihren Wangen, Wallung im Blute, Spannung am Unterleibe, Beklemmung in ihrem Herzen und gewinnt erst nach mehreren Pulsschlägen Kraft genug zur Flucht."
Bisher völlig vernachlässigtes Feld in der Literatur
"Deutsche Pornografie in der Aufklärung" - die Tagung des Forschungszentrums Gotha spielt selbst mit Worten. Doch der Gegenstand ist bei näherer Betrachtung weniger frivol als noch zu Augustes Zeiten. Der Germanist Dirk Sangmeister, einer der Organisatoren der Tagung, muss sich dennoch immer wieder rechtfertigen, warum er sich mit scheinbar belangloser Pornografie beschäftigt.
"Mich interessiert an diesem Feld, dass das ein tabuisiertes oder völlig vernachlässigtes Feld der deutschen Literatur ist. Es ist in vielen Aspekten so etwas wie die Schattenseite der deutschen Literatur. Man lernt, wenn man sich mit den dunklen Seiten vergangener Zeiten beschäftigt, auch immer etwas über die hellen Seiten. Man lernt, was nicht publiziert werden konnte in regulären Texten und bekommt Einblicke, die in kanonischen Texten nie anzutreffen sind."
Sangmeisters Kollege Martin Mulsow, Leiter des Forschungszentrums Gotha, sieht in der Tagung einen ersten Anlauf, den Forschungsstand in Deutschland nicht vollkommen hinter den in Frankreich, dem damaligen Zentrum der pornografischen Literatur, zurückfallen zu lassen. Denn hinter der Pornografie versteckte sich - gerade in Frankreich - oftmals handfeste Gesellschaftskritik.
"Zum Beispiel ich werde morgen über jemand berichten, der fängt an mit 50 Seiten erotischem Liebesthriller, und dann kippt das Ganze um in eine Gesellschaftssatire, Kirchenkritik und so weiter. Also, da hat man die Leute reingeholt, und auf einmal macht man da etwas anderes. Das ist einfach sehr gut dafür geeignet, die Pornografie. Und das hat man lange Zeit unterschätzt. Das hat man nicht gesehen, man hat sich die Texte gar nicht angeschaut, das war ja nicht hohe Literatur, nicht Goethe, also schaut man sich das gar nicht an."
Wichtiger als Rousseau oder Voltaire
Die beiden Organisatoren der Tagung gehen sogar so weit zu sagen, dass pornografische Schriften über das Liebesleben des französischen Königs dessen Autorität erheblich mehr untergraben habe als die aufklärerischen Schriften von Rousseau oder Voltaire, die nur von einer kleinen Schicht von Gebildeten gelesen wurden. Ein König mit heruntergelassener Hose ist keine gottgleiche Figur mehr. Hier wird Pornografie politisch - nicht aber in Deutschland, so Dirk Sangmeister:
"Da in Frankreich die vor 1789 in Massen umlaufenden Schlüssellochschriften über den König und seine Mätressen wesentlich dazu beigetragen haben, das Ansehen des Ancien regime so nachhaltig zu beschädigen und zu unterminieren, dass die Französische Revolution nur folgerichtig war, stellt sich die Frage, warum in Preußen die Lichtenau-Literatur nicht ähnlich revolutionäre Umtriebe begünstigt hat. Auf der Suche nach einer Antwort braucht man bloß einen Blick auf die Erscheinungsjahre all dieser Schriften zu werfen. Die große Mehrheit der preußischen Politpornografie ist nämlich erst unmittelbar nach dem Tod von Friedrich Wilhelm II. und der gleich darauf folgenden Verhaftung seiner Favoritin publiziert worden, nicht vorher. Mit Pornografie post festum war keine Revolution zu machen."
Frankreich war für die deutschen Pornografen immer Vorbild und Inspiration- auch wenn viele Autoren das zu verbergen suchten, wie Yong-Mi Rauch erläuterte. Yong-Mi Rauch:
"Das heißt, die Protagonisten werden namentlich eingedeutscht, die Titel verweisen in keiner Weise auf das Ursprungswerk und es wird auch nicht angegeben, dass eine Übersetzung stattfindet. Also man nahm Motive, man nahm Erzählelemente und fügte das in teilweise neue Werke, die gemischt wurden mit Elementen aus anderen Romanen und noch eigenen Werken zusammen, man schaffte also einen ganz neuen Literaturtyp. Also, die Tendenz bedeutet: Die Texte werden eigentlich naiver, man betont das Erotische, das Ausmalen, Schildern von Situationen, und interessanterweise spielt dieser Konnex zwischen Aufklärung und Erotik, der ja bei den französischen Texten so wichtig ist, der spielt eigentlich in diesen deutschen Texten eine ganz geringe Rolle."
Auch heute noch lesbar
Welche Rolle die Pornografie aber damals wirklich spielte, ob es eine andere war als heute, bleibt noch offen. Pornografische Bücher wie Bücher überhaupt waren im 18. Jahrhundert sehr teuer - im Gegensatz zu Prostituierten, die im Vergleich viel billiger waren als heute. Zum Preis eines pornografischen Buches konnte ein Mann viele Dutzend Male zu einer Prostituierten gehen. Was aber sagt das über die pornografische Literatur? Dirk Sangmeister schlussfolgert:
"Bei aller Liebe zur Literatur bin ich fest davon überzeugt, dass alle triebgesteuerten Männer mit einem unausgefüllten Liebesleben sich damals angesichts dieser himmelweiten Differenz gegen den einsamen Text und für die zweisame Tat entschieden haben. Das heißt im Umkehrschluss aber zugleich, dass wir heute gut beraten wären, erotische und pornografische Texte aus dem Zeitalter der Aufklärung als Literatur wahrzunehmen, nicht als Mittel zur Triebabfuhr. Auch unter die Gürtellinie gehende Texte müssen mit Verstand gelesen und als Literatur in den prüfenden Blick genommen werden."
Nicht jeder Text jedoch ging unter die Gürtellinie. Denn das Spektrum der sinnlichen Literatur war damals - wie heute - weit. Isabelle Stauffer von der Uni Mainz beispielsweise hat "galante Erotik" erforscht, von der sie sich durchaus einen Gewinn für unsere Zeit vorstellen kann.
"Also, was mich an der Galanterie interessiert hat und ich denke, was heute immer noch interessant wäre, ist die Frage von Stil und Ästhetik des Umgangs mit anderen Menschen. Also, nachdem der leider mittlerweile verstorbene Vorsitzende der Knigge-Gesellschaft 2012 Deutschland als ‚Rüpelgesellschaft' ausgerufen hat, kann man sich ja einige Gedanken darüber machen: Was heißt Höflichkeit heute? Und was ist ein angemessener Umgang zwischen den Geschlechtern, der nicht auf alten Zöpfen beruht, aber trotzdem angenehm ist, also der der Frauenemanzipation Rechnung trägt und trotzdem nicht rüpelhaft wird - und zwar wechselseitig."