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Porträt einer komplizierten Stadt

Was Schriftsteller sehen und wie sie ihre Stadt erleben, ist in einer Buchreihe des Hanser Verlags nachzulesen. Bisher konnte man zum Beispiel Lissabon mit Antonio Tabucchi kennenlernen, Venedig mit Joseph Brodsky und Rom mit Marco Lodoli. Jetzt ist ein neuer Band herausgekommen: Der Schriftsteller Roberto Alajmo präsentiert die sizilianische Hauptstadt Palermo.

Von Maike Albath |
    Der ballarò in Palermo: Dicht gedrängte Marktstände, Händler preisen ihre Ware an, Hausfrauen begutachten kennerisch Innereien, riesige Tintenfische liegen zum Verkauf aus. Mitten auf der Straße sind drei Tische aufgebaut, an denen man für ein paar Euro frittierte Milz, Kichererbsenfladen und Reisbällchen essen kann, lauter Spezialitäten zubereitet in der improvisierten Küche eines Ladens. Von Globalisierung keine Spur, eher fühlt man sich an Nordafrika erinnert. Roberto Alajmo, Romancier, Theaterautor, spitzfindiger Chronist menschlicher Beziehungen und im Brotberuf Journalist, führt uns durch die Gassen.

    "Palermo ist überzeugt davon, komplizierter zu sein als andere Städte. Auch die Bewohner glauben, viel komplizierter zu sein als andere Bürger. Dabei trifft das Gegenteil zu. Palermo ist gar nicht sonderlich kompliziert. Aber durch die Überzeugung von der eigenen Kompliziertheit wird die Stadt komplizierter. Die Katze beißt sich in den Schwanz.

    Um Palermo erklären zu können, zumindest das Palermo der letzten Jahre, muss man verstehen, was 1992 geschah. Nach den Ermordungen der Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino entdeckte die Stadt plötzlich ihre Ressourcen. Im finstersten Moment, als man den tiefsten Punkt erreicht hatte, gelang es plötzlich, den Schwung für die Erneuerung zu entwickeln, zumindest zum Teil. Es war die Zeit, als weiße Laken aus den Fenstern gehängt wurden, die Zeit der Menschenketten. Damals schien es, als habe die Stadt einen Schlag auf die Nieren bekommen, der es ihr erlaubte, wieder auf die Beine zu kommen."

    Von diesem Ereignis ausgehend, nimmt Roberto Alajmo in seinem Anti-Reiseführer "Palermo sehen und sterben" seine Heimat in den Blick. Es handelt sich um eine vielschichtige Meditation über den Charakter der Stadt, deren Außenwahrnehmung seit Jahrzehnten durch die organisierte Kriminalität geprägt ist. Dafür gibt es gute Gründe, denn schließlich war Palermo Schauplatz spektakulärer Anschläge. Giovanni Falcone und Paolo Borsellino sind heute ein Mythos. Die mutigen Richter hatten als erste gewagt, den großen Bossen den Prozess zu machen. Sie bezahlten mit ihrem Leben. Am 23. Mai 1992 jagte eine Autobombe Giovanni Falcone, seine Frau und drei Leibwächter in die Luft. Acht Wochen später wurde Paolo Borsellino ermordet. Zum ersten Mal entstand so etwas wie eine Bürgerbewegung, und der dezidierte Anti-Mafia-Politiker Leoluca Orlando wurde Bürgermeister. Das Bewusstsein hat sich seither gewandelt, aber die Initiativen sind längst versickert.

    Palermo, so erklärt uns der sympathische Mittvierziger Alajmo, den man jeden Abend als Nachrichtensprecher im Dritten Programm des staatlichen Fernsehens sehen kann, steckt voller Widersprüche. Die Schönheit ist faszinierend, aber sobald man sich ein Bein bricht, mit Behörden zu tun hat oder sein Kind zur Schule schicken will, beginnen die Schwierigkeiten. Mit einem herkömmlichen Reiseführer hat Alajmos Buch nichts zu tun, eher ist es eine Mischung aus Porträt, Mentalitätengeschichte und Gebrauchsanweisung für die geschundene Stadt. Die Sehenswürdigkeiten fände man auch ohne Hilfe, teilt der Verfasser gut gelaunt seinem Leser mit und spricht ihn vertrauensvoll mit du an. Sicher säße man jetzt mit seinem Buch vor der Nase im Hotel und traue sich angesichts der lauernden Gefahren nicht vor die Tür. In plauderndem Tonfall versucht der Autor, jeden Zweifel zu zerstreuen und erklärt uns, was es mit dem zufriedenen Pessimismus der Inselbewohner auf sich hat.

    Im nächsten Kapitel erläutert Alajmo den bizarren Totenkult seiner Mitbürger, zu besichtigen in den Kapuzinerkatakomben und auf den Friedhöfen der Stadt, wo man sich zu familiären Zusammenkünften um die Gräber der Verschiedenen schart. Nur auf Sizilien gibt es die Sitte, dass an Allerseelen die Toten den Kindern Geschenke bringen. Natürlich kommentiert Alajmo auch die Essgewohnheiten ebenso wie die eigentümliche Beziehung der Palermitaner zum Meer, über dessen Existenz man arrogant hinwegschaut. Auch der Mangel an jeder Art von Stadtplanung kommt zur Sprache, denn überall stößt man auf illegal hochgezogene Ferienhäuser und haarsträubende Umweltzerstörung.

    "Palermo ist eine hoch moralische Stadt. Egal, welchen Beruf man ausübt, irgendwann wird man mit einem ethischen Problem konfrontiert. Entweder bekennt man sich öffentlich dazu, oder man tut es im Privaten und erzählt es niemandem. In Palermo muss jeder wissen, ob er ein Mafioso oder ein Antimafioso ist. Man kann nicht so tun, als wäre da nichts. Ganz unabhängig davon, ob man Rechtsanwalt, Richter, Priester oder illegaler Parkwächter ist, jeder muss sich diese Frage stellen. Es geht darum es zuzugeben. Aber die Palermitaner geben es natürlich nicht zu. Man kommt vielleicht nur selten mit einem Mafioso enger in Kontakt, aber mit der mafiosen Mentalität hat man dauernd zu tun. Und das ist der Nährboden für die Mafia."

    Alajmo zählt zu den Leuten in Palermo, die die moralische Verwahrlosung immer wieder thematisieren, aber als Schriftsteller ist er in einer privilegierten Position. Geschäftsleute haben es schwerer. Schutzgeldzahlungen sind bis heute an der Tagesordnung. Roberto Alajmo, der mit seinem Stadtführer zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheint, knüpft an die literarische Tradition von Leonardo Sciascia an und beschäftigt sich in seinen großartigen Erzählungen und Romanen immer wieder mit den privaten Aspekten der sizilianischen Umstände. "Mutterherz" heißt sein in Italien hoch gelobter Roman, in dem ein junger Mann ein Verbrechen begeht und klaglos von seiner Mutter unterstützt wird. Mütter und Söhne haben auf Sizilien eine ganz spezielle Beziehung.

    "Zwischen mediterranen Müttern und ihren Söhnen herrscht oft ein erbitterter Kampf. Für eine mediterrane Mutter ist ein Sohn jemand, den sie gleichzeitig liebt und schikaniert. In den sizilianischen Familien ist der Sohn, vor allem der Erstgeborene, der Erbprinz, der allerdings in einer Art Bonsai-Stadium gehalten wird. Man lässt ihn nicht heranwachsen, niemals, aus dem Prinzen wird niemals ein König werden. Der ewige Prinz, so wie Charles von England. Bei den sizilianischen Müttern kommt es häufiger vor, dass diese morbide Liebe an Gewalt grenzt oder zumindest damit verwandt ist."

    Roberto Alajmo jedenfalls ist mitnichten ein Bonsai-Sizilianer, aber sicherheitshalber hat er eine Nordfranzösin geheiratet. Seine literarischen Werke besitzen eine herbe Melancholie. Wie ein Insektensammler spießt er auch in seinem ungewöhnlichen Stadtführer die Spezies der Palermitaner auf und studiert sie, ohne sich dabei über sie zu erheben. Er ist ein kluger Analytiker der Zustände.

    "Das Prinzip ist folgendes. Nach Sizilien wird viel Geld gepumpt, vom Staat, von der EU - wie in eine Sauerstoffflasche, an der ein Kranker hängt. Es handelt sich um eine Person, die objektiv krank ist, sie braucht also einen Krankenpfleger und einen Arzt, aber der Arzt steht auf dem Schlauch der Sauerstoffflasche und lässt immer nur wenig Luft durch, immer nur ein bisschen, dann dreht er den Hahn wieder zu. Der Kranke röchelt, also kommt der Krankenpfleger angerannt und zeigt, dass man ihn braucht. Ihre Hilfsarbeiterschaft kann die Mafia aufgrund der Arbeitslosigkeit rekrutieren. Sie benötigen Leute, die das Schutzgeld einfordern, Leute, die jemanden umbringen, Leute, die ein Attentat vorbereiten. Wenn es keine Arbeitslosigkeit gäbe, hätte man nicht dieses Überangebot an Arbeitskräften. Für die Mafia lohnt es sich also, wenn Sizilien möglichst unterentwickelt bleibt. Ich bin mir sicher, dass die Mafia bis heute einen Großteil der finanziellen Zuwendungen abfängt."

    Sizilien ist so etwas wie der blinde Fleck Europas - Reisende genießen die Jahrtausende alte Kulturlandschaft, aber die Hintergründe werden viel zu selten durchdrungen. In Palermo lohnt es sich, unter Anleitung von Roberto Alajmo die Augen aufzumachen. Nirgendwo sonst kann man die Errungenschaften und die Schattenseiten der Insel besser erkennen als hier.

    "Es ist kein Zufall, dass Sizilien so viele Schriftsteller hervorbringt, denn hier fehlt es nie an Neuigkeiten. Wir haben Erdbeben, Vulkanausbrüche, Invasionen von Flüchtlingen, Arbeitslosigkeit, Dürreperioden, Überschwemmungen - und die Mafia."


    Roberto Alajmo: Palermo sehen und sterben
    Aus dem Italienischen von Karin Krieger
    Carl Hanser Verlag, München 2007
    184 Seiten, 16,90 Euro