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Portugal der 40er-Jahre (1/5)
Lissabon, Stadt der Schlapphüte

Portugal war im Zweiten Weltkrieg neutral. Die Hauptstadt Lissabon wurde zum Anlaufpunkt für verfolgte Intellektuelle, Schriftsteller, jüdische Flüchtlinge - und für Spione der Kriegsparteien. Die Spuren dessen sind heute noch in der Stadt zu finden.

Von Tilo Wagner |
    Schwarzweißfoto: Passanten am Rossio-Platz in Lissabon
    Während des Zweiten Weltkriegs trieben sich in Lissabon viele Spione und Informanten herum (imago )
    An einem sonnigen, kühlen Vormittag steht José Antunes mitten auf dem riesigen Lissabonner Platz Praça do Comercio und wartet. Möwen ziehen vom Tejo über die gelb schimmernden Arkadengänge, kleine Passagierfähren halten am Kai. José drückt die breite Sonnenbrille auf die Nase, kratzt sich am Fünftagebart und sucht den Platz ab. Von seiner Reisegruppe ist nichts zu sehen. Seit sieben Jahren führt der studierte Historiker Touristen durch die Lissabonner Altstadt - auf den Spuren der Spione und Agenten, die im Zweiten Weltkrieg in der portugiesischen Hauptstadt ihr Unwesen trieben.
    "Das Thema weckt natürlich großes Interesse. Denn alles, was mit Spionage zu tun hat, ist eine Welt, die im Verborgenen liegt. Und das fasziniert uns. Heute kommt eine Schulklasse, und für die Schüler ist es ganz sicher spannend, Orte zu besuchen, an denen Geschichte geschrieben wurde. Wir machen hier keinen Unterricht, sondern einen ungezwungenen Spaziergang durch die Welt der Spionage."
    Endlich trifft die Gruppe ein. José schultert seinen Rucksack und führt die Abschlussklasse aus der nordportugiesischen Stadt Famalicão mit forschem Schritt über den Platz.
    Doch nicht alle kommen mit: Mit müden Augen, auf Stöckelschuhen oder einfach unmotiviert - es dauert, bis José seine Gruppe beisammen hat.
    Portugal stand zwischen den Stühlen
    Der Historiker ist ganz in seinem Element. In atemberaubenden Tempo fasst er Portugals ambivalente Rolle im Zweiten Weltkrieg zusammen: Die alte Allianz mit England, die strategische Bedeutung der Azoreninseln, Salazars Sympathie für Mussolini, die politische Neutralität, Lissabon als Fluchtpunkt für viele verfolgte Europäer. Richtig mitreißen kann er seine jungen Zuhörer noch nicht, obwohl er ein paar lustige Anekdoten einwebt:
    "Der Cais do Sodré ist immer schon das Rotlichtviertel Lissabons gewesen. Die Nazis haben in dem Hafenviertel im Zweiten Weltkrieg unter den Prostituierten ein Netz von Informantinnen unterhalten und den Damen sogar Englisch beigebracht, damit sie von betrunkenen englischen Matrosen wichtige Informationen über die Alliierten erfahren. Und ein berühmt und berüchtigter Doppelagent, der hier tätig war, war der ehemalige Tresorknacker Eddie Champan, besser bekannt unter dem Namen 'Agent ZigZag'."
    Zu viele freiwillige Informanten in Lissabon
    José führt seine Gruppe an der Nationalbank vorbei, im Keller soll noch das Gold der Nazis liegen. Er hält einen Vortrag vor einem ehemaligen Lissabonner Militärgericht, wo Salazar oppositionellen Kräften den Prozess machte. Und er bleibt vor einem Schreibwarenladen stehen, in dem ein katalanischer Geheimagent seine Pässe fälschen ließ. Im Lissabonner Straßenlärm fällt es den Schülern nicht immer leicht, Josés ausführlichen Geschichten zu folgen. Die Orte, an denen sich die Alliierten und Achsenmächten gegenseitig ausspionierten, sind leider nur schwer greifbar.
    José versucht die Schüler mit einem Thema zu ködern, das in Portugal immer für Gesprächsstoff sorgt: Fußball. Er bleibt vor dem Fanshop von Benfica Lissabon stehen.
    "Selbst hohe portugiesische Sportfunktionäre waren im Zweiten Weltkrieg als Informanten für die ausländischen Geheimdienste aktiv. Und das war sowohl für die Deutschen als auch für die Alliierten irgendwann ein großes Problem: Im Jahr 1943 gab es bereits viel zu viele Lissabonner, die sich freiwillig als Informanten bei den Botschaften meldeten, um gegen Geld die Geheimdienste mit Hinweisen überzuversorgen."
    Auch die Lehrerin ist überrascht
    Letzte Station der Führung: Ein Hotel, in dem sich der Geheimagent aufhielt, der Ian Fleming als Vorlage für seine Figur James Bond gedient haben soll. Die Zeit drängt, José geht zügig voran, sein Pferdeschwanz verschwindet in der Fußgängerzone in einer dichten Menschenmenge.
    Ganz hinten quält sich die Klassenlehrerin Hortense Alecrim im lila Hosenanzug und Stöckelschuhen über das löchrige Kopfsteinpflaster:
    "Im Geschichtsunterricht haben wir über Salazar und die Diktatur gesprochen. Wir haben über den Diplomaten Aristides de Sousa Mendes gesprochen, der die Juden gerettet hat und dafür bestraft wurde. Und wir haben über die Neutralität Portugals gesprochen. Aber ich hätte nie gedacht, dass man hier in Lissabon so viel über die Spione erfahren kann, wo sie sich aufgehalten haben und für wen sie tätig waren."
    Der Spion, der zu James Bond inspiriert haben soll
    José Antunes steht bereits vor der mächtigen Fassade des Pálacio und zeigt auf einen Übergang, der vom Fünf-Sterne-Hotel zum benachbarten Fernbahnhof Rossio führt. Hier hätten die Nazis einen geheimen Durchgang unterhalten, um ihre Agenten direkt vom Zug ins Hotel zu schmuggeln.
    Und dann erzählt er endlich die Geschichte des wahren James Bond, die er während seiner zweistündigen Tour immer wieder als Cliffhänger eingesetzt hat: Dusko Popov, ein serbischer Doppelagent mit einer Vorliebe für die schönen Dinge im Leben, habe in den 1940er-Jahren für die Alliierten gearbeitet und die Agenten der deutschen Abwehr mit falschen Informationen hinters Licht geführt. Die Anekdote bietet den Schlusspunkt. Und der 37-jährige Reiseleiter atmet durch: Mit Schulklassen tue er sich manchmal etwas schwer, sagt er. Da wären ihm ausländische Touristen schon lieber:
    "Einmal habe ich eine große Gruppe durch die Welt der Spione geführt, und am Schluss kamen drei Pärchen auf mich zu sagten: 'Mann, das hat uns vielleicht gut gefallen. Wissen Sie, wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg für den amerikanischen Geheimdienst gearbeitet, und von den Geschichten, die Sie erzählt haben, haben wir auch immer gehört.' Wir haben dann noch lange zusammengesessen, und sie haben mir Anekdoten aus ihrer aktiven Zeit erzählt, wobei ich immer daran dachte, dass das alles streng geheim bleiben müsste. Solche Begegnungen sind natürlich selten, aber wenn es passiert, ist es immer etwas Besonderes, echte Spione zu treffen."
    Eine Dlf-Produktion von 2016