Straßenlärm dringt gedämpft in den fünften Stock herauf, mit ruhiger Hand führt José Ruy den Zeichenstift übers Papier. Der Blick aus seinem Fenster führt über schmucklose Straßen, Wohnblocks, Hochhäuser. Die Stadt Amadora ist mit den Außenbezirken Lissabons zu einem großen Betonteppich verschmolzen. Als José hier mitten im Zweiten Weltkrieg seine Karriere als Zeichner begann, gab es hier nur grüne Wiesen. Damals war er 14 und publizierte zum ersten Mal in einer Comic-Zeitschrift:
"Damals übersetzten die Verlage Comics, die aus England oder den USA kamen. Und die Geschichten handelten von diesen Ländern und ihren Völkern. Es war fast so, als würden sie ihre Kultur in die Kolonie nach Portugal importieren. Zusammen mit ein paar Freunden wollte ich etwas anderes machen, was mehr mit unserem eigenen Land zu tun hatten. Und so fingen wir an, Comics über die portugiesische Geschichte zu zeichnen, allen voran natürlich über die große Zeit der Seefahrer."
Neben seinem Zeichentisch steht das Model, das ihm bei vielen seiner Arbeiten inspiriert hat: eine eineinhalb Meter lange Karavelle, die er selbst zusammengebastelt hat. Doch das Schiff, mit dem die Portugiesen im 15. Jahrhundert den Seeweg nach Indien entdeckten, half ihm bei einem seiner bekanntesten Comicbüchern nicht weiter. Denn diese Geschichte handelt von einem portugiesischen Diplomaten, der sich im Mai 1940 gegen eine Direktive des Salazar-Regimes stellte und Zehntausenden von flüchtenden Juden die Einreise nach Portugal ermöglichte.
In Portugal wurde die Geschichte lange totgeschwiegen
Eine markante Nase, akkurat geschnittenes schwarzes Haar und eine elegant gebundene Fliege um den Hals – das Konterfei von Aristides de Sousa Mendes, das José Ruy auf seinem Schreibtisch zeichnet, ist längst nicht nur Comic-Fans bekannt. Doch das war nicht immer so, erzählt der 85-Jährige und zupft an seinem dichten, schneeweißen Schnauzbart:
"Der Fall von Aristides de Sousa Mendes wurde jahrzehntelang totgeschwiegen. Die Familie hat sehr unter der Diktatur gelitten. Salazars Staatspolizei verhinderte, dass die Söhne des Diplomaten in Portugal einen Job fanden, und so mussten sie auswandern und es gab niemanden, der die Geschichte erzählte. Ich selbst habe erst 20 Jahre nach dem Ende der Diktatur davon erfahren. Irgendwann hat mich ein Museumsdirektor eingeladen, der anfing mit Schulklassen über den Fall zu sprechen. Und der Direktor fragte mich, ob ich nicht einen Comic zeichnen wollte."
José Ruy packt ein paar Originale seiner 30-seitigen Bildergeschichte in eine Tasche und bricht auf: Über den portugiesischen Helden aus dem Zweiten Weltkrieg will er heute in einem nahe gelegenen Jugendzentrum sprechen.
In den USA gibt es eine Sousa-Mendes-Stiftung
Sozialer Wohnungsbau vor den Toren Lissabons. Hier leben viele Migranten aus ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika: Kapverden, Guinea-Bissau, Angola. Rund zwei Dutzend Jugendliche und Kinder haben sich in dem schlichten Gemeinschaftsraum eingefunden – mit Kapuzenpulli und kurzen Wuschellocken, Hornbrille und geflochtenen schwarzen Strähnen. Eingeladen hat die Sousa Mendes Foundation, eine in Amerika ansässige Stiftung, die von den Familien unterstützt wird, die dank des portugiesischen Diplomaten über Portugal in die USA fliehen konnten.
Die Stiftungsvertreterin Mariana Abrantes verliert ein paar einleitende Worte über den Zweiten Weltkrieg. So wie heute in Syrien, sagt sie, mussten damals auch viele Menschen vor den Bomben fliehen. Und passend dazu zieht ein Gewitter über die Stadt.
Unterdessen lässt José Ruy die ersten Bilder an die Wand projizieren. Den schwarzen Mantel hat er im ungeheizten Raum lieber angelassen, seine Lesebrille baumelt über dem Bauch, während er das wahre Leben seines Comichelden beschreibt. Und dann teilt er die originalen Zeichenbögen aus. Ein Mädchen hebt die Hand und fragt, warum er unbedingt die Geschichte von Sousa Mendes erzählen wollte.
"Weil er viele Menschenleben gerettet hat. Und dann vom Salazar-Regime dafür bestraft wurde. Damals gab es eine andere Politik in Portugal, und er hätte eigentliche gar keine Visa ausstellen dürfen. Aber hätte er nur das getan, was ihm von Salazar erlaubt worden wäre, dann hätte er damit viele Flüchtlinge, die unbedingt aus Europa fliehen mussten, praktisch zum Tode verurteilt."
Sousa Mendes' Enkel sitzt im Publikum
Aus dem Publikum tritt ein älterer Herr nach vorne, der den gleichen Namen trägt wie José Ruys Comic-Held. Aristides de Sousa Mendes, ein Enkel des portugiesischen Diplomaten. Er stellt sich höflich vor. Haben Sie Ihren Großvater noch kennen gelernt, fragt ein Jugendlicher. Ja, sagt Mendes, aber er habe keine Erinnerung mehr an ihn, denn mit fünf Jahren habe er mit seinen Eltern Portugal verlassen müssen.
Während Mendes noch ein paar Fragen beantwortet, ist José Ruy aufgestanden, hat sich ein paar alte Filzstifte ausgeliehen und zeichnet auf eine weiße Tafel eine Szene aus seinem Buch. Es wird still im Saal. Kein Smartphone ist zu hören, keine Witze oder lässige Kommentare. Die Jugendlichen folgen Josés flinken Handbewegungen an der Tafel. Im Vordergrund der Diplomat, der Pässe stempelt, dahinter viele Menschen mit Koffern in den Händen, im Hintergrund ein Flugzeug, das Bomben über einer Stadt abwirft. Und überall fliegen Visa-Formulare durch die Luft, als wären sie ein Schwarm Friedenstauben. Spontaner Beifall für den Künstler brandet auf. In der Tür steht Mendes und schaut auf die skizzenhaften Züge seines Großvaters:
"Junge Menschen lassen sich von der Bildersprache der Comics begeistern – der Zugang ist einfacher als mit einem Buch. Die Botschaft bleibt einfach viel besser hängen. José Ruys Comic hat viel dazu beigetragen, dass die Geschichte meines Großvaters auch bei den Kindern und Jugendlichen ankommt."
Eine Dlf-Produktion von 2016