Die Eisdiele Santini in dem kleinen Küstenstädtchen Carcavelos, rund 10 Kilometer westlich von Lissabon, könnte auch als Kulisse für ein Designmagazin dienen. Alles ist rot oder weiß: gestreifte Kunstledersofas und Plastiktische, die Uniformen der Bediensteten und die Theke mit den Dutzenden eingelassenen Kühlfächern.
Früher war das noch ganz anders, erzählt Isabel Santini, die an einem der runden Tisch Platz genommen hat. Ihr Vater hielt nicht viel von Marketing oder Gewinnprognosen, erzählt die 64-Jährige mit den orange gefärbten Haaren: Er lebte in den Tag hinein. Bevor Attilio Santini in den 40er-Jahren seine Eisdiele in einem alten Steinhaus direkt am Strand des mondänen Badeortes Estoril eröffnete, war er bereits ein weitgereister Weltbürger:
"Mein Vater verließ sein Elternhaus in Italien schon sehr früh, lebte eine Zeit in Frankreich, dann in Polen, er ging zum Wehrdienst zurück nach Italien, spielte später Fußball beim französischen Verein FC Nantes und kam schließlich nach Spanien, wo er in Valencia eine Eisdiele eröffnete und meine Mutter kennen lernte. Doch im Zweiten Weltkrieg war es schwierig, sich als Eismacher in Spanien über Wasser zu halten. Alles war rationiert, vor allem der Zucker.
"Hey Santini, komm doch zu uns nach Portugal!"
Da kam eines Tages der portugiesische Konsul in die Eisdiele und sagte: 'Hey Santini, komm doch zu uns nach Portugal! Wir Portugiesen lieben süße Speisen!' Und außerdem war in Portugal wenig vom Krieg zu spüren, auch weil es hier wegen des Handels mit den Kolonien fast alles gab."
Attilio Santini brachte ein Stück Italien an die Sonnenküste Portugals. Italienische Musik und natürlich das frische Fruchteis. Die Eisdiele in Estoril wurde bald auch zum Treffpunkt des europäischen Hochadels, die in den 40er-Jahren ins portugiesische Exil geflohen war.
"Das spanische Königshaus lebte in der Nähe in Estoril, und die Frauen und Kinder gingen gerne zum Strand. Und weil mein Vater ein so weltoffener, lustiger Typ war, kamen sie alle in die Eisdiele. Prinzessin Margarita zog sich bei uns immer um, und dann war da noch Prinz Alfonso, der jüngere Bruder des späteren Königs Juan Carlos. Alfonso war ein echter Lausbub. Mit zwölf, dreizehn Jahren kam er in die Eisdiele und sagte zu meinem Vater: 'Attilio, dein Auto steht in der Sonne. Gib mir die Schlüssel, ich fahre es in den Schatten.' Mein Vater wollte ihn eigentlich keine Runden drehen lassen, aber was sollte er machen. Später kam Alfonso dann bei einem tragischen Unfall hier in Estoril ums Leben. Er hatte mit seinem Bruder Juan Carlos mit Pistolen hantiert, und dann löste sich ein Schuss und er war tot. Mein Vater ging zur Beerdigung, und Alfonsos Vater, Don Juan de Borbón, nahm ihn in seine Arme, drückte ihn und sagte: 'Mein Sohn war immer so gerne bei dir in der Eisdiele.'"
Viel Ruhm, aber wenig Geschäftssinn
Bald war Attilio Santini so bekannt, dass sich ein wahrer Mythos um ihn und seinen angeblichen Reichtum rankte. Doch aus seinem Ruhm konnte er kein Kapital schlagen. Zwischenzeitlich musste er seine Eisdiele sogar schließen. Erst vor ein paar Jahren hat das Familienunternehmen einen befreundeten Unternehmer als Investor mit ins Boot geholt. Und mit dem Geld kamen neue Eisdielen in Lissabon und Porto und eine moderne Eisfabrik hinzu.
Carlos Arrepia, ein junger Mitarbeiter, führt durch die Produktionsstätte: weiße Wände, polierter Edelstahl, moderne Kühlanlagen - die Eisfabrik ist nicht unbedingt ein visueller Leckerbissen. Aber überall riecht es nach frischen Früchten. In einem Raum werden sie gewaschen, geschält und geschnitten, im nächsten in riesige Messbecher abgefüllt, bevor sie nur mit Zucker vermischt zu einer kalten Masse geschlagen werden.
Isabel Santini hat die Geschäftsführung des Familienbetriebs vor Jahren an ihren Sohn abgegeben. Sie läuft immer noch etwas ungläubig durch die sterilen Räume der Fabrik, in der mittlerweile über 20 Beschäftigte arbeiten. Den Ansprüchen seiner Kunden konnte Attilio Santini immer gerecht werden; doch weil er kein knallharter Geschäftsmann war, litt die Familie häufig runter finanziellen Problemen.
Die Könige kamen gern, halfen aber finanziell nicht aus
Von den Königen kam selbst dann keine Hilfe, wenn es der Familie richtig schlecht ging, erzählt Isabel Santini mit bitterem Unterton in der Stimme. Es seien die armen, einfachen Portugiesen gewesen, die ihrem Vater das Geld geliehen haben, um über den Winter zu kommen: ein Gärtner, eine Hausangestellte, ein Busfahrer.
Zurück in der Eisdiele fällt Isabel Santini aber doch noch eine Geschichte ein von dem besonderen Verhältnis zwischen ihrem Vater und den exilierten Königen. Sie zeigt auf ein Plakat, das die rot-weißen Wände schmückt: Anfang der 1950er-Jahre erschien eine Ausgabe des Mailänder Lifestyle-Magazins Epoca mit der neunjährigen italienischen Königstochter Maria Beatriz auf dem Cover – und vor ihr ein Becher Santini-Eis.
"In der Zeitschrift war ein Artikel, der beschrieb, wie das italienische Königshaus im Exil in Portugal lebte, und auch unsere Eisdiele Santini wurde erwähnt. Meine Großmutter war zu jener Zeit schon in einem Altenheim in Italien und las zufällig die Zeitschrift. Sie hatte von ihrem Sohn Attilio seit 22 Jahren nicht mehr gehört und dachte er sei tot. Schließlich lag ja ein Weltkrieg dazwischen. Eine Pflegerin schrieb nun meinem Vater und fragte, ob er der Sohn von jener Frau Maria in dem Altenheim sei. Und mein Vater antwortete: Ja, das bin ich. Für meine Großmutter muss es ein unbeschreiblicher Moment gewesen sein, als sie erfuhr, dass ihr Sohn doch noch am Leben war. Solche Geschichte sieht man doch sonst nur in billigen Fernsehserien, oder?"
Eine Dlf-Produktion von 2016