Um doch noch eine Einigung über die künftigen Handelsbeziehungen Großbritanniens zur Europäischen Union zu erreichen, wird Premierminister Boris Johnson in den kommenden Tagen nach Brüssel reisen. Das wurde nach einem Telefonat Johnsons mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekannt.
Bei den zentralen Punkten sei jedoch keine Bewegung der britischen Regierung abzusehen, sagte der EU-Parlamentarier und Vorsitzende des Ausschusses für Internationalen Handel, Bernd Lange, im Dlf. Ein "bisschen erpressen und pokern" sei mit dabei. Lange hat den Eindruck, dass sich Premierminister Boris Johnson von wirtschaftlicher Rationalität verabschiedet hat. Bei vielen britischen Unternehmen habe er deshalb schon keinen Rückhalt mehr.
"Kein Unterlaufen mit Dumping"
Wenn man Waren zollfrei auf den europäischen Markt bringen wolle, müssten diese auch den europäischen Standards entsprechen, so Lange: "In vielen Bereichen gilt für die Briten: Marktzugang ja, Standards und Regeln nein." Das könne man als EU nicht akzeptieren. Es dürfe "kein Unterlaufen mit Dumping" stattfinden. "Wenn wir einen Vertrag schließen, dann muss der internationalen Standards entsprechen".
Bis Ende des Jahres läuft die Übergangsfrist, in der die Insel noch Teil des Binnenmarktes und der Zollunion ist. Lange sprach sich dafür aus, die Frist für einen Vertrag um einen weiteren Monat zu verlängern. Nur so könne das Verfahren seriös bearbeitet werden. Von der britischen Regierung erwartet er jedoch keinen Zuspruch für diesen Vorschlag.
Das Interview im Wortlaut:
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Lange, Sie haben engen Kontakt mit dem Chefunterhändler der EU, mit Michel Barnier. Wie optimistisch oder wie pessimistisch zeigt er sich in diesen Tagen, wenn Sie mit ihm reden?
Bernd Lange: Michel Barnier ist ein Diplomat und zeigt nicht sehr seine Gefühle. Aber man muss schon sagen, die letzten Tage ist er sehr niedergeschlagen und gibt deutlich das Signal, es sieht nicht gut aus. Angesichts der Verhandlungsposition der britischen Regierung muss man das auch feststellen. Wir haben seit Februar miteinander verhandelt und immer noch bei den zentralen Punkten gibt es auf britischer Seite keine Bewegung.
Heckmann: Das heißt, wie ist Ihre persönliche Erwartung? Wird es zu einem Vertrag überhaupt noch kommen?
Lange: Boris Johnson ist ein flexibler Mann. Der hat sich schon mehrfach in seiner politischen Karriere um 180 Grad gedreht und genau das Gegenteil behauptet, was er vorher gesagt hat. Da ist vielleicht einiges drin. Bloß diese Art und Weise jetzt, wie ein Hollywood-Schauspieler High Noon nach Brüssel zu kommen und jetzt ziehe ich die Kanone heraus, gibt überhaupt nicht wieder, was wir hier wirklich auf dem Spiel stehen haben.
"Ein bisschen erpressen und pokern ist bei den Briten immer dabei"
Heckmann: Ist doch ein geschicktes Pokerspiel möglicherweise, um den Preis hochzutreiben, den Druck zu erhöhen.
Lange: Das ist so seine Art und Weise. Auch gestern Abend haben sie das Binnenmarktgesetz verabschiedet mit klaren Möglichkeiten, das Austrittsabkommen zu brechen, mit der klaren Ansage, das nehmen wir zurück, wenn wir einen Deal bekommen. Ein bisschen erpressen und pokern ist bei den Briten immer dabei.
Heckmann: Herr Lange, woran hakt es denn aus Ihrer Sicht? Wollen die Briten vielleicht gar keinen Vertrag? Boris Johnson steht ja durchaus auch unter Druck von den radikalen Brexitiers, die schon warnen, verkaufe nicht unsere Interessen.
Lange: Ja, in der Tat, und die haben ja dieses Momentum der Souveränität populistisch so hochgehangen, dass in bestimmten Bereichen er auch schwer davon herunterkommen kann. Bei den Fischgründen: Wir wollen selbst entscheiden, wer hier fischen darf. Oder auch die Gesetzgebung und die Standards, die wollen wir selbst setzen. Ich meine, das ist absurd! Wenn man einen Vertrag schließt, dann gibt man immer ein Stück Souveränität auf, weil ansonsten man ja nicht eine gemeinsame Position erreichen kann.
"Waren müssen den europäischen Standards entsprechen"
Heckmann: Man kann als zwei souveräne Staaten oder als zwei souveräne Partner einen Vertrag schließen, ohne die staatliche Souveränität einzuschränken. Muss Europa das nicht vielleicht auch mal zur Kenntnis nehmen, dass die Briten sagen, unsere Souveränität ist uns wichtig und wir haben diesen ganzen Brexit, diesen Prozess in Gang gesetzt, um das Ziel zu erreichen, und wir lassen uns jetzt nicht einfach binden an europäische Standards?
Lange: Nein. Wenn Sie die Segel alleine setzen wollen und im Meer der Globalisierung herumsegeln wollen, so what. Aber wenn Sie Waren zollfrei auf den europäischen Markt bringen wollen, dann müssen diese Waren den europäischen Standards entsprechen. Das ist doch banal. – Oder wenn wir einen Vertrag schließen, dann muss da auch eine Regelung rein, dass, wenn es Vertragsverletzungen gibt, wir Maßnahmen ergreifen können, um diese Einhaltung des Vertrages wieder zu erzwingen. Das ist auch ganz banal, haben wir in allen Handelsverträgen dieser Erde abgeschlossen. Von daher sehe ich das überhaupt nicht als eine Aufgabe von Souveränität, sondern Vertragstreue zu garantieren.
Heckmann: Sie bestehen auch darauf, dass der EuGH bei Streitfragen das letzte Wort hat?
Lange: Es geht nicht um den EuGH. Es geht darum: Wenn jetzt der Vertrag gebrochen wird, wenn da Waren kommen, die nicht den europäischen Standards entsprechen, dass wir sagen können, diese Waren kommen nicht auf den Markt, oder hier setzen wir Zölle, damit wir die britische Seite zum Einlenken bewegen können.
"In vielen Bereichen gilt immer Marktzugang ja, Standards, Regeln nein"
Heckmann: Wer soll das bestimmen?
Lange: Das wird die Europäische Kommission zu bestimmen haben, wie wir das in anderen Handelsverträgen auch machen.
Heckmann: Und das, denken Sie, müsste London schlucken?
Lange: In der Tat! Übrigens das ist ja auch beidseitig. Das ist ja nicht nur eine einseitige Knechtung. Auch wenn wir britische Rechte in Frage stellen würden in diesem Vertrag, hätte die britische Seite natürlich das gleiche Recht. Aber diese Bindung, das wollen die Briten genau nicht. In vielen Bereichen gilt immer Marktzugang ja, Standards, Regeln nein. Deswegen gibt es von britischer Seite in vielen Bereichen ganz vage Textvorschläge und das, glaube ich, können wir wirklich nicht akzeptieren.
Heckmann: Herr Lange, man wird ja immer ein bisschen misstrauisch, finde ich, wenn es heißt, eine Seite ist schuld, wenn Verhandlungen irgendwie ins Stocken geraten oder nicht erfolgreich verlaufen. Es gibt aber auch diesen berühmten Satz: it needs two to Tango. Kennen Sie auch. – Müsste die EU deshalb auch nicht mal einräumen, wenn wir jetzt zum Beispiel auf die Fischereipolitik zu sprechen kommen, die Gewässer vor der Insel gehören zu Großbritannien und Europas Fischer haben da einfach nichts zu suchen?
"Ein Geben und Nehmen auf beiden Seiten"
Lange: Dann könnte ich mit der gleichen Begründung sagen, Europas Straßen gehören Europa, da haben britische Lastwagen nichts zu suchen.
Heckmann: Die fischen ja nichts ab.
Lange: Nein, aber die transportieren Güter und nehmen damit europäischen Transporteuren Aufträge weg. – Wenn wir einen Vertrag schließen wollen, dann ist das ein Geben und Nehmen auf beiden Seiten. Im Bereich der Fischerei kann man natürlich verhandeln, wie viele Fische in welchen Bereichen, wie viele Quoten. Wie häufig das festgesetzt wird, kann man alles diskutieren. Überhaupt gar keine Frage. Das gehört in dieses Gesamtpaket.
Heckmann: Da müsste ja auch die Europäische Union möglicherweise ein bisschen Kompromissbereitschaft an den Tag legen, oder?
Lange: Das will ich auch gar nicht in Abrede stellen. Das ist gar keine Frage. Bloß sehen Sie, wir verhandeln seit Februar. Die Easybits, die im Interesse von Großbritannien sind, die sind im Grunde so gut wie geklärt. Die haben ganz bewusst in den Verhandlungen die kompliziert Dinge bis ganz, ganz zum Schluss verschoben, und das ist wirklich ganz besonders. Ich habe nun schon ein paar Handelsverträge mit ausgehandelt. Das habe ich bisher noch nie so erlebt. Wir haben immer versucht, im Paket die unterschiedlichen Bereiche parallel zu verhandeln, um hier gemeinsame Fortschritte zu bekommen, und das war mit der britischen Regierung in der Tat nicht möglich.
Heckmann: Die Europäische Union sagt ja auch vor allem, dass kein Sozial-Dumping stattfinden soll, dass auch die europäischen Umweltstandards gelten sollen, dass auch bei den Subventionen Waffengleichheit herrschen soll. Muss die europäische Seite, die Kontinentseite auch auf diesem Gebiet kompromissbereit sein? Bis an welche Grenze würden Sie da gehen können?
Lange: Wir haben sehr integrierte Warenbeziehungen und da kommt es schon darauf an, ob Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards, Steuern, staatliche Beihilfen ähnlich organisiert werden wie auf europäischer Seite, weil sonst in der Tat die Dumping-Situation da ist. Deswegen brauchen wir dieses berühmte Level Playing Field, wo in etwa Wettbewerbsgleichheit gegeben ist. Da kann man natürlich in bestimmten Bereichen verhandeln, was weiß ich, ob der Beihilferahmen 10 Prozent oder 20 Prozent abweicht, oder ganz unterschiedliche Dinge kann man sich überlegen. Bloß das Prinzip, was wir auch mit Japan oder anderen Handelspartnern eingehalten haben, dass aufgrund der Handelsbeziehungen, der Wirtschaftsbeziehungen kein Unterlaufen mit Dumping in diesen Bereichen stattfinden darf, das Prinzip, das muss festgehalten werden.
Vertrag "muss internationalen Standards entsprechen"
Heckmann: Jetzt heißt es ja immer wieder, die Europäer haben die stärkere Position, sitzen am längeren Hebel, denn die Briten haben natürlich das Interesse, ihre Waren nach Europa zu exportieren. Auf der anderen Seite muss man sagen, Herr Lange, hat Europa auch ein starkes Interesse daran, ihre Produkte nach Großbritannien zu exportieren, auch Deutschland. Ich glaube, über 300 Milliarden Euro ist der Export nach Großbritannien schwer. Das würde auch die Automobilindustrie erheblich in Deutschland treffen, und die ist wichtig.
Lange: Ja, obwohl wir exportieren als Europäische Union unter zehn Prozent in das Vereinigte Königreich. Das Vereinigte Königreich exportiert etwa 50 Prozent der Exporte in die Europäische Union. Da ist schon ein Ungleichgewicht. Aber gar keine Frage! Zölle, Zollformalitäten, 100 Prozent Untersuchung und und und würde Handeln deutlich beeinträchtigen, übrigens auch die Freizügigkeit oder die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler an Erasmus-Programmen und und und. Das würde ja alles wegfallen. Aber man muss natürlich auch mal sehen: Mit den USA haben wir auch keinen Handelsvertrag. Trotzdem ist das unser größter Handelspartner. Da geht die Welt nicht unter, wenn das nicht möglich ist.
Heckmann: Ist das ein bisschen eine versteckte Drohung nach dem Motto, wenn ihr Briten nicht spurt, dann gibt es keinen Freihandelsvertrag mit euch?
Lange: Wir erpressen hier keinen, sage ich auch deutlich. Das machen die Briten, habe ich gesagt. Das Binnenmarktgesetz, was sie gestern Abend verabschiedet haben. – Nein, wir betrachten Großbritannien als ganz normalen Drittstaat. Wenn wir einen Vertrag schließen, dann muss der internationalen Standards entsprechen. Und wenn sie es nicht wollen, so what!
"Johson hat sich von wirtschaftlicher Rationalität verabschiedet"
Heckmann: Die Briten sind die Bösen, die Europäer die Guten?
Lange: Das ist nicht die Frage der Briten insgesamt. Es geht wirklich um Boris Johnson und ich glaube, er hat sich auch hier von wirtschaftlicher Rationalität verabschiedet. Wenn Sie mit britischen Unternehmen, mit britischen Gewerkschaften, überhaupt mit Menschen, die in dieser wirtschaftlichen Rationalität verhaftet sind, reden, dann sagen die mir alle, der Johnson, der ist nicht mehr unser Mann, der hat sich losgelöst, weil er Souveränität so populistisch hochgehangen hat.
Heckmann: Oder er pokert hoch.
Lange: Es ist nicht die Frage von Briten; das ist die Frage von einer bestimmten Haltung einer Regierung.
Heckmann: Oder er pokert hoch.
Lange: Und er pokert, natürlich! Das ist ein Gambler, das ist gar keine Frage. Dieser Vergleich mit den amerikanischen Filmen über den Wilden Westen kommt mir dauernd in den Sinn.
Lange: Frist um einen Monat verlängern
Heckmann: Wären Sie bereit, die Verhandlungen zu verlängern ins neue Jahr hinein?
Lange: Rational wäre das eigentlich sinnvoll, weil wir im Parlament müssen das ja noch überprüfen und zustimmen. Wir haben jetzt nur die einzige Möglichkeit, am 28., 29. Dezember das zu machen. Das ist übrigens bei über tausend Seiten überhaupt nicht mehr seriös. Meiner Ansicht nach können beide Partner sagen, wir verlängern für einen Monat. Da bricht die Welt nicht mit zusammen. Das sollten wir machen, das ist seriöser.
Heckmann: Meinen Sie, Ihr Vorschlag hätte Chancen?
Lange: Ich glaube, die britische Seite lehnt das im Moment völlig ab. Wir haben das schon mal ins Spiel gebracht. Man muss sehen, wie der High Noon Spieler in Brüssel sich aufführt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.