Nordirland-Protokoll
Streit um Brexit-Sonderregeln

Im jahrelangen Streit über die Brexit-Regeln für Nordirland haben die Europäische Union und Großbritannien eine Einigung erzielt. Kritik daran aber gibt es weiterhin von Brexiteers und nordirischen Unionisten.

    Der britische Premierminister Rishi Sunak und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 27. Februar 2023 in Windsor bei London
    Der britische Premierminister Rishi Sunak und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentierten die Einigung am 27. Februar 2023 in Windsor bei London (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Dan Kitwood)
    Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU wurden spezielle Regeln für Nordirland im sogenannten Nordirland-Protokoll festgelegt. Es ist Teil des Brexit-Vertrags über den britischen EU-Austritt und sieht vor, dass die Zollgrenze zwischen Großbritannien und der EU in der Irischen See verläuft. Damit sollte verhindert werden, dass Grenzkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland eingeführt werden müssen. Doch insbesondere der Warenaustausch zwischen Großbritannien und Nordirland wurde in den letzten Jahren zunehmend als zu bürokratisch kritisiert.

    Was beinhaltet die Windsor-Einigung?

    Die in Windsor bei London Ende Februar 2023 erzielte Einigung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, das Windsor-Framework, sieht nun vor, dass die Kontrollen von Waren entbürokratisiert werden - wenn diese in Nordirland bleiben. Vor allem für Lebensmittel und Medikamente soll es nach Angaben von Premierminister Rishi Sunak einen "grünen Korridor" ohne Zollauflagen geben. Nur wenn vorgesehen ist, dass die Güter in die Republik Irland und damit in die EU weitertransportiert werden, sollen demnach die vollen Formalitäten eingehalten werden.
    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) nannte die Vereinbarung historisch. Auch der britische Premierminister Sunak zeigte sich zufrieden. Der Konservative sprach von einem neuen Kapitel in der Zusammenarbeit von EU und Vereinigtem Königreich. Ex-Premier Boris Johnson kritisierte hingegen, mit dem Deal werde Nordirland "in der EU-Rechtsordnung gefangen".
    Am 22.03.2023 stimmte das britische Unterhaus mit überwältigender Mehrheit für den ausgehandelten Kompromiss - auch die oppositionelle Labour-Partei votierte dafür. Boris Johnson stimmte dagegen - genauso wie mehrere andere Brexiteers.

    Was ist das Protokoll zu Nordirland?

    Ausgangspunkt des Streits ist das Protokoll zu Irland und Nordirland (kurz: Nordirland-Protokoll) zwischen der EU und Großbritannien aus dem Jahr 2020. Das Protokoll sah vor, dass nach dem Brexit zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-Mitglied Irland keine Zollkontrollen eingeführt werden.
    Brüssel und London waren der Auffassung, dass Zollkontrollen das Karfreitagsabkommen von 1998 gefährden, das den jahrzehntelangen Nordirland-Konflikt beendet hatte. Mit der Regelung sollte also eine "harte Grenze" zwischen Nordirland und Irland sowie ein neuer Ausbruch des gewalttätigen Konflikts zwischen pro-britischen Unionisten und pro-irischen Republikanern um eine Wiedervereinigung der Insel verhindert werden.
    Karte zeigt die Zollgrenze in der Irischen See
    Nordirland ist wirtschaftlich enger mit Großbritannien verflochten als mit der Republik Irland. (Deutschlandradio / Wikipedia / TUBS)
    Um die Landgrenze offen zu halten, folgt Nordirland weiterhin den Regeln des Europäischen Binnenmarkts – die seit dem Brexit für den Rest Großbritanniens nicht mehr gelten. Für Waren, die aus einem anderen Teil des Vereinigten Königreichs oder aus einem Drittland nach Nordirland gelangen, gelten aber grundsätzlich die EU-Zölle - denn diese Waren können ja über die offene Grenze nach Irland und damit in die EU gelangen.
    Das bedeutet aber, dass diese Waren an der Seegrenze in der Irischen See kontrolliert werden müssen. Für diese Kontrollen sind sowohl der britische Zoll als auch der EU-Zoll zuständig.

    Was waren die Streitpunkte zwischen EU und Großbritannien?

    Was die britische Seite am Nordirland-Abkommen zunehmend störte, war, dass der innerbritische Handel nach Nordirland wegen der EU-Regularien nicht mehr reibungslos funktionierte. Das Protokoll habe Schwierigkeiten mit sich gebracht, beispielsweise beim Versenden von Medikamenten sowie beim Mitführen von Haustieren. Großbritannien wehrte sich zudem gegen die von Brüssel verlangten Zollkontrollen bei Warenausfuhren.
    Lkw aus Schottland fahren am Frachthafen in Larne, Nordirland an Land
    Der Warenverkehr innerhalb des Vereinigten Königreichs soll vereinfacht werden: Lkw aus Schottland fahren am Frachthafen in Larne, Nordirland an Land (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Peter Morrison)
    Die neuen Regeln und Kontrollen, auch die damit verbundenen höheren Kosten führten zu Lieferausfällen von der britischen auf die irische Insel. Der damalige Premier Boris Johnson, der das Nordirland-Protokoll selbst ausgehandelt und als Meilenstein auf dem Weg zum Brexit gefeiert hatte, geriet 2021 unter politischen Druck. Und versprach Abhilfe: „Wir werden alles Erforderliche tun, um sicherzustellen, dass es keine Grenze in der Irischen See gibt. Wenn nötig, indem wir Artikel 16 ziehen.“

    Artikel 16 des Nordirland-Protokolls

    Die britische Regierung hatte der EU wiederholt damit gedroht, den Artikel 16 auszusetzen. Der Artikel 16 des Nordirland-Protokolls sieht vor, dass einige Bestimmungen des Abkommens im Falle "ernster wirtschaftlicher, sozialer oder ökologischer Schwierigkeiten" außer Kraft gesetzt werden können. Aber erst Johnsons Nach-Nachfolger Sunak war dann mit der Forderung, das Protokoll nachzuverhandeln erfolgreich.

    Welche Probleme gibt es in der Praxis?

    Kritiker des Nordirland-Protokolls sind generell der Auffassung, dass durch die Regelungen eine De-Facto-Grenze innerhalb des Vereinigten Königreichs entsteht und die Versorgung Nordirlands leidet. Die vereinbarten Warenkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs führten teilweise zu Schwierigkeiten beim Handel mit einzelnen Produkten.
    Kontrollen und Zollformalitäten benötigen Zeit an Stellen, wo es zuvor keinen Zeitaufwand gegeben hat. Auch bei der Zustellung von Postsendungen gibt es Probleme. Zudem fühlen sich in Nordirland die Befürworter der Union mit Großbritannien vom Rest des Landes abgekoppelt.
    Demonstranten protestieren für das Nordirland-Protokoll. Verschiedene Transparente sind zu sehen. Unter anderem ein gelbes Schild auf dem Steht: "Schützt das Protokoll".
    In den Bezirken direkt an der Grenze ist das Nordirland-Protokoll ein bestimmendes Thema. (Getty Images / Charles McQuillan)
    Der Unmut innerhalb der Bevölkerung mündete in Drohungen gegen nordirische Zollbeamten. Beispielsweise wurden sie via Graffiti als "Target", also als "Ziel" bezeichnet. Es wurden Gruppen beobachtet, die Autokennzeichen von Zollbeamten gesammelt haben. Die Behörden zeigen sich besorgt, denn ähnliches Verhalten gab es auch im Nordirland-Konflikt. Daher wächst die Sorge vor Angriffen und Anschlägen unionistischer Extremisten.

    Wie sieht der neue Deal zwischen EU und Großbritannien aus?

    Die Einigung zwischen London und der EU, das "Rahmenabkommen von Windsor" ("Windsor Framework") soll den Frieden auf der irischen Insel weiter garantieren und zugleich für einen einfacheren Warenverkehr sorgen. Die Vereinbarung stellt also eine Neufassung des Nordirland-Protokolls von 2020 dar, das der ehemalige britische Premier Johnson seinerzeit mit der EU vereinbart hatte.
    Die Vereinbarung von Windsor sieht bei den Warenkontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland deutliche Erleichterungen vor. "Vertrauenswürdige Händler“ sollen in die Lage versetzt werden, mit stark vereinfachten Vorschriften Waren von Großbritannien nach Nordirland einführen zu können.
    Um den europäischen Binnenmarkt zu schützen und eine mögliche Lieferung solcher Waren in die Republik Irland zu verhindern, soll die EU in Echtzeit Zugriff auf IT-Systeme und Datenbanken des britischen Zolls haben, um so Risikobewertungen vornehmen zu dürfen, heißt es in einem "Factsheet" der EU-Kommission. Die neuen Regeln sollen nach Angaben der britischen Regierung schrittweise bis 2024 umgesetzt werden.
    Zu dem Kompromiss gehört ein weiterer Mechanismus, der dem nordirischen Regionalparlament eine Mitsprache bei der Anwendung von EU-Regeln einräumt: die sogenannte "Stormont-Bremse", die vor allem die größte unionistische DUP besänftigen sollte. Die DUP hatte die Regionalregierung im Streit um das Nordirland-Protokoll vor rund einem Jahr platzen lassen. Benannt nach dem Ort des Parlamentsgebäude in Belfast, handelt es sich bei der "Stormont-Bremse" um eine Art Einspruchsrecht für das nordirische Regionalparlament.
    Es kann damit die Anwendung von neuem EU-Recht in Nordirland blockieren, wenn eine Gruppe von Abgeordneten einen formellen Antrag auf Einspruch stellt. Der DUP gehen diese Einspruchsrechte aber nicht weit genug.
    Anlässlich des 25. Jahrestags des Karfreitagsabkommens sagte der Politikwissenschaftler Peter Neumann im Deutschlandfunk, mit dem Windsor-Abkommen würden einige Probleme Nordirlands "begraben". Der Warenaustausch zwischen Großbritannien und Nordirland werde viel unkomplizierter. Hier habe es bürokratische Hindernisse gegeben. Es wäre gut, wenn das Brexit-Thema weniger heftig die Schlagzeilen dominieren würde, sagte Neumann.

    Welche politischen Reaktionen gab es in Nordirland?

    Der Kompromiss wurde und wird heftig kritisiert von Seiten der Brexit-Hardliner und der probritischen Democratic Unionist Party (DUP) in Nordirland. Vielen London-treuen Unionisten bietet die Vereinbarung nicht genügend Garantien für die Souveränität Nordirlands gegenüber den EU-Regeln. Ihre Abgeordneten stimmten im Unterhaus gegen den neuen Deal mit der Europäischen Union. 
    Die größte protestantisch-unionistische Partei DUP lehnt den Kompromiss zwischen EU und der Regierung Sunak nach wie vor ab und blockiert eine Regierungsbildung in Nordirland. Premier Sunak hatte ursprünglich gehofft, mit der Einigung auch den Widerstand der DUP zu überwinden. Die größte katholisch-republikanische Partei Sinn Féin forderte indes als Konsequenz aus dem Windsor-Deal, dass es möglichst rasch wieder eine Regierung nach dem "Powersharing"-Modell des Karfreitagsabkommens geben soll.
    Quellen: Deutschlandradio - Beiträge von Christine Heuer und Christoph Prössl sowie Interviews mit U.K.-/Nordirland-Experten Peter Neumann und Duncan Morrow, dpa, EU, BBC, AFP, AP, Reuters, pto, uwe, al, nin, te