Die Gegenwartsliteratur ist längst kein Tabu mehr. Lange Zeit war sie in der akademischen Literaturwissenschaft aber verpönt. Noch vor Kurzem gab es Lehrstuhlinhaber, die ihren Examinanten verboten, als Prüfungsthema einen Schriftsteller zu wählen, der nicht mindestens seit 50 Jahren tot ist. Erst dann sei er reif für den wissenschaftlichen Zugriff, erst dann könne man sich dem Gegenstand objektiv nähern und die Strukturen freilegen. Vor allem aber könne man dann ziemlich sicher sein, dass nicht noch unangenehme Quellen oder sonstige Materialien auftauchen, die den souverän geglaubten Zugriff gefährden.
Das durchaus ernst zu nehmende Problem ist: Je näher man der Gegenwartsliteratur rückt, desto näher rückt man unweigerlich der Literaturkritik. Man spricht dann aus der Gegenwart in die Gegenwart hinein und bekommt zwangsläufig Legitimationsprobleme, einen objektiven Anspruch aufrecht zu erhalten. Im Gegensatz zur Literaturkritik, die ihre eigene Subjektivität bewusst und offensiv thematisieren kann, definiert sich die Wissenschaft dadurch, über der Sache zu stehen und die Dinge zu überblicken. Im Zuge des Modernisierungdrucks an den Universitäten sind Gegenwartsautoren mittlerweile aber ganz selbstverständlich dort präsent. Auch Stephan Pabst begibt sich jetzt mit seiner Studie über die "Post-Ost-Moderne" mitten in aktuelle Literaturdebatten und konstatiert gleich zu Anfang, dass "die Übergänge zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft" dabei "fließend" seien. Problematisiert wird dies allerdings nicht durch eine Befragung von Kategorien wie "subjektiv" und "objektiv". Pabst begegnet dem Sujet dadurch, dass er die Wertung durch die Literaturkritik mit zum Thema macht.
Die vier von ihm untersuchten Autoren sind von der Kritik tatsächlich immer stark wahrgenommen worden. Reinhard Jirgl und Durs Grünbein werden zu den bedeutendsten Vetretern der Gegenwartsliteratur gerechnet. Heiner Müller galt im Berlin der ersten Jahre nach dem Fall der Mauer bis zu seinem Tod 1995 geradezu als Orakel der Gegenwart. Und der 2007 gestorbene Wolfgang Hilbig ist schon jetzt zu einem Mythos der Gegenwartsliteratur geworden. Die Auswahl dieser vier Autoren erhält ihren Reiz auch dadurch, dass sie biografisch von der DDR geprägt wurden und in der deutschen Literatur nach 1989 eine Sonderstellung einnahmen.
Ausdruck und historische Veränderungen
Stephan Pabsts Ausgangshypothese klingt spannend. Historische Veränderungen drücken sich für ihn oft darin aus, dass Autoren ihre bevorzugte Gattung und ihre Tonlage wechseln. Bei Heiner Müller ist das offensichtlich: Er hat nach 1989 das Interview geradezu als neue literarische Gattung etabliert. Auch bei Reinhard Jirgl fällt auf, dass er sich zu Zeiten der DDR ohne Gattungsbezeichnung zwischen dramatischen Szenen und Prosa bewegte – erst in den 90er-Jahren definiert er seine Texte als "Romane". Bei Wolfgang Hilbig wird es dann schon schwieriger: Er hat zwar als Lyriker angefangen, aber bereits in der DDR an seinen expressiven Prosaschüben zu arbeiten begonnen, die er dann in der Bundesrepublik weitertrieb. Pabst sieht seine These jedoch dadurch bestätigt, dass sich Hilbig zum Schluss wieder auf die Lyrik begrenzte. Bei Durs Grünbein konzentriert sich Pabst auf eine Schwerpunktverlagerung: nach einer intensiven Beschäftigung mit den Naturwissenschaften habe der Dichter Mitte der 90er-Jahre eine "klassizistische Wende" genommen und sich intensiv mit der Antike beschäftigt.
Die Stärken von Pabsts Arbeit liegen in der eingehenden Textanalyse. Müllers Kunst, das Interview als Gattung des Schweigens zu erfinden, wird genauso detailliert aufgezeichnet wie Hilbigs raffinierter Austausch von Realität und Fiktion. Ebenso aufschlussreich ist Pabsts Nachzeichnung der Entwicklung Reinhard Jirgls. Die Schrift als solche wird für diesen Autor programmatisch: In der Schrift gerinnt das Leben, die Schrift und der Tod sind unmittelbar aufeinander bezogen. Auch Jirgls Definition des Realismus, wonach der literarische Text immer nach der historischen Angemessenheit seiner Form suchen muss, wird einleuchtend dargestellt; genauso sorgsam wird die Typologie des "Grenzhunds" bei Durs Grünbein dechiffriert.
Manchmal wird der Autor aber auch polemisch und entspricht dabei oft einem atmosphärischen Konsens des Literaturbetriebs – so, wenn er Jirgl sich in seiner Ausweglosigkeit verrennen sieht oder Grünbein eine "bloß elitäre und artistische Pose" unterstellt. Ziemlich prekär wird es manchmal, wenn Pabst sich konkret der Literaturkritik zuwendet. Da begibt er sich mitten hinein ins Getümmel subjektiver Interessen, bleibt aber bei seinem wissenschaftlichen Gestus der Objektivität. Dabei verhält er sich sehr selektiv. Die tonangebenden Feuilletons der 90er-Jahre – "Zeit", "Süddeutsche Zeitung", "FAZ" und "Frankfurter Rundschau" – werden nach nicht einsehbaren Kriterien gesichtet. Was Pabst heranzieht, wirkt recht willkürlich und beliebig, und es ist manchmal durchaus verblüffend, was er für wichtig hält. Aber es soll wohl in erster Linie seine Ausgangsthese stützen, dass der Maßstab der Literaturkritik die Differenz von nicht-modern, modern und postmodern gewesen sei. Sie habe versucht, diese Differenz an der Post-DDR-Literatur zu reproduzieren, und das sei vor allem deshalb misslungen, weil der Begriff der "Moderne" als Maßstab der Kritik obsolet geworden sei.
Debatten des Literaturbetriebes
Leider konzentriert sich Pabst dabei auf sekundäre Debatten des Literaturbetriebs. Mit den Begriffen "Moderne" und "Postmoderne" wurde in der Zeit nach 1989 tatsächlich verschiedentlich hantiert. Pabst nimmt auf die betreffenden, ideologisch motivierten Artikel Bezug und stellt, zum Teil sehr präzise, eine Einheit von ästhetischen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen fest. Was in der Literaturkritik aber darüber hinaus verhandelt wurde, nimmt er nur partiell und verzerrt zur Kenntnis. Wenn einige Literaturkritiker die von Pabst behandelten Autoren versuchsweise mit dem Begriff "Ostmoderne" charakterisiert haben, ging es darum, sich von einer schematischen "Moderne"-Vorstellung abzuwenden und etwas Besonderes zu erfassen. Auffällig ist ja, dass die "Literatur" für diese in der DDR sozialisierten Autoren einen von vornherein herausgehobenen und teilweise ausgesprochen existenziellen Charakter hat. Hier ist ein interessanter Unterschied zu ihren Generationskollegen im Westen zu erkennen. "Literatur" hieß bei den in Rede stehenden Ost-Autoren zunächst: die Suche nach einer Sprache abseits der üblichen Zuweisungen, abseits der Mediensprache. Die Literatur wurde in erster Linie als sprachliches Kunstwerk begriffen, nicht als Informations- oder Selbstverständigungsmedium. Das Entscheidende bei den großen Sprachbildern von Hilbig oder Jirgl ist, dass sie sich verselbstständigen, sich festgelegten Begrifflichkeiten entziehen. Die Literaturkritik kann sich hier dadurch auszeichnen, sich dem jeweiligen Einzeltext ohne begriffliche Vorgaben zu nähern und die eigene Subjektivität daran zu erproben.
Durch seine Festlegung auf "Moderne"- und "Postmoderne"-Parameter interessiert sich Pabst nicht für diese genuinen Möglichkeiten, die in der Literaturkritik liegen. Dass er sich auf normative Kriterien beschränkt und dafür nach Belegstellen sucht, zeigt das Dilemma einer Literaturwissenschaft, die sich in das Tagesgeschehen hinein begibt und gleichzeitig darüber stehen möchte. Dieses gelehrte und anregende Buch gibt Anlass zu weiterführenden Fragen.
Stephan Pabst: "Post-Ost-Moderne. Poetik nach der DDR"
Wallstein Verlag, Göttingen. 483 Seiten, 39,90 Euro.
Wallstein Verlag, Göttingen. 483 Seiten, 39,90 Euro.