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Postdemokratie
Mit Agonistik gegen den Konsensdruck

Die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe plädiert in ihrem Buch "Agonistik" für eine Demokratie der Debatten, die sich nicht von vermeintlicher Alternativlosigkeit einschüchtern lässt. Ihre Mahnung, vor lauter Sachzwängen und Konsensdruck nicht das Wesen des Politischen zu vergessen, ist ein wichtiger Einwurf, um die Krise der repräsentativen Demokratie zu bewältigen.

Von Leander Scholz |
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht am 10.09.2014 im Rahmen der Plenarsitzung im Deutschen Bundestag in Berlin zu den Abgeordneten.
    Wenn der politische Streit nicht mehr im Parlament ausgetragen werden kann, sucht er sich andere Orte. (Rainer Jensen, dpa picture-alliance)
    Zu den politischen Vokabeln, die in den letzten Jahren Karriere gemacht haben, gehört das Wort "alternativlos". Zunehmend werden Entscheidungen damit begründet, dass es zu ihnen keine wirkliche Alternative gibt. Ob es sich nun um die Stabilisierung des Finanzmarkts oder die Rettung des Euros handelt, stets wird auf den unausweichlichen Sachzwang verwiesen, dem die Politik stur zu folgen hat. Wer diese Logik nicht teilt, wird ausgegrenzt, je nachdem als gefährlich oder dumm hingestellt. Denn jenseits der Alternativlosigkeit, die das politische Handeln zur Zeit auf fast allen Ebenen bestimmt, droht die vermeintliche Katastrophe, das unabsehbare Chaos, in das uns diejenigen stürzen, die den Sachzwang nicht akzeptieren wollen. Statt zu streiten und um das bessere Argument zu kämpfen, wird Politik zunehmend auf das Schüren von Ängsten reduziert.
    Zur Beschreibung dieses Zustands hat sich in der politikwissenschaftlichen Diskussion der Begriff "Postdemokratie" durchgesetzt. Damit ist eine Schwundstufe demokratischer Praktiken gemeint. Es werden zwar noch Wahlen abgehalten, und politische Parteien werben nach wie vor um eine möglichst breite Zustimmung zu ihrem Programm, aber immer häufiger fallen Entscheidungen gar nicht mehr in dem Parlament, das die Bürger wählen können. Oft wird der politische Raum schon im Vorfeld einer Entscheidung derart eingeengt, dass im Grunde genommen gar keine Wahl mehr bleibt.
    Politikverdrossenheit als angemessene Reaktion auf den Bedeutungsverlust
    Durch Lobbygruppen und internationale sowie europäische Institutionen werden unerwünschte politische Optionen schon angegriffen und abgedrängt, bevor sie überhaupt im Parlament zur Diskussion stehen können. Aber auch die maßgeblichen politischen Parteien selbst bewegen sich inzwischen in einem derart engen Spektrum, dass sie sich nur noch in besonderen Politikfeldern unterscheiden. Die viel kommentierte Politikverdrossenheit ist vor diesem Hintergrund keineswegs einem allgemeinen Desinteresse geschuldet, sondern eine durchaus angemessene Reaktion auf den historischen Bedeutungsverlust parlamentarischer Entscheidungen.
    Zu den Theoretikern, die sich schon früh mit dieser politischen Entwicklung beschäftigt haben, gehört die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe. Im Unterschied zu einem rationalistischen Politikverständnis, in dessen Zentrum die parlamentarische Vertretung von Interessen und die Aushandlung von Kompromissen steht, begreift sich Mouffe als Anhängerin einer radikalen Demokratie. Aus dieser Perspektive gibt es keinen mehr oder weniger vernünftigen Standpunkt, sondern allein den Streit der Parteien, der das politische Geschehen ausmacht. Demokratie hat ihre Legitimation in dem fundamentalen Umstand, dass keine Partei einen absoluten Anspruch erheben kann, sondern jedes politische Programm auf die Auseinandersetzung mit anderen Programmen angewiesen ist. Der Streit zwischen den Parteien ist keine lästige Angelegenheit, die insbesondere im Vorfeld anstehender Wahltermine zur allgemeinen Unterhaltung beiträgt, sondern das unaufhebbare Wesen der Demokratie. Wenn es keine politischen Auseinandersetzungen mehr geben sollte, dann kann es auch keine Demokratie mehr geben.
    Wettstreit statt Konsenssucht
    Das neue Buch von Chantal Mouffe trägt ganz in diesem Sinne den zugleich schlichten und etwas geheimnisvollen Titel "Agonistik", der auf eine lange Tradition des eingeübten Wettstreitens verweist. Denn in der griechischen Antike wurde unter einem "Agon" ein sportlicher oder musischer Wettstreit verstanden, bei dem die Kontrahenten sich vor einem Publikum nach anerkannten Regeln zu messen hatten. Der berühmteste dieser Wettstreite waren die Olympischen Spiele, deren Geist auch heute noch gerne angerufen wird. Entscheidend bei derartigen Wettstreiten ist, dass die Regeln in dem Sinne fair sind, dass jeder Teilnehmer die Chance auf einen Sieg hat, der dann auch von allen anderen akzeptiert wird. Überträgt man diese Logik des Wettstreits auf die Funktionsweise eines politischen Parlaments, dann muss vor allem sichergestellt sein, dass jede politische Meinung, soweit sie sich im demokratischen Rahmen bewegt, auch die Chance haben muss, entsprechend Gehör zu finden. Wird die parlamentarische Breite jedoch zunehmend auf wenige parteipolitische Positionen eingeengt und damit der scheinbare Konsens immer größer, kann der politische Streit nicht mehr im Parlament ausgetragen werden, sondern sucht sich andere Orte.
    Der Untertitel von Chantal Mouffes Buch lautet: "Die Welt politisch denken". Mit dieser Aufforderung knüpft sie an einen äußerst umstrittenen Denker des 20. Jahrhunderts an, der Politik als die Möglichkeit und die Fähigkeit definiert hat, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Gemeint ist der Staatsrechtler Carl Schmitt, dessen politische Philosophie im letzten Jahrhundert sowohl auf radikal rechte als auch auf radikal linke Strömungen einen starken Einfluss gehabt hat. Politik zeichnet sich demnach immer durch einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Gruppen aus, die sich im Extremfall feindlich gegenüberstehen und danach trachten, sich wechselseitig zu vernichten. Dabei ist nicht entscheidend, ob der Konflikt tatsächlich physisch oder lediglich rhetorisch ausgetragen wird. Politik ist weder auf Parlamente angewiesen, noch auf staatliches Handeln beschränkt, sondern findet immer dort statt, wo sich ein Konflikt in der Aufspaltung von Gruppen manifestiert. Das politische Spektrum reicht deshalb für Carl Schmitt vom grausamen Bürgerkrieg bis zur Parlamentsdebatte, je nach der Intensität des Konflikts.
    Im Anschluss an diese Sichtweise besteht die grundsätzliche Problematik für Chantal Mouffe in der Frage, ob die repräsentative Demokratie gegenwärtig überhaupt noch genügend Raum für die Austragung von Konflikten lässt. Denn der Konsensdruck, unter dem die etablierten Parteien stehen, scheint derart hoch zu sein, dass das Spektrum der im Parlament vertretenen und damit zu Wort kommenden Meinungen zwangsläufig immer kleiner wird. Wenn alle maßgeblichen Parteien versuchen, sich selbst als Vertretung der Mitte zu begreifen, ist das Parlament nicht mehr in der Lage, die Vielzahl der im Volk kursierenden Meinungen abzubilden. Zu der damit einhergehenden Verengung hat nicht zuletzt der Diskurs der politischen Korrektheit beigetragen, dessen Anliegen ethisch sicher gut begründet sind, dessen enormer Erfolg aber das gefährliche und bislang weitegehend ausgeblendete Problem der Sprachlosigkeit hinterlässt.
    Wenn der politische Konflikt kaum mehr in den gewählten Parlamenten zur Sprache kommen kann, droht die Demokratie zu einer Scheinveranstaltung zu werden. Die häufig stark unterschätzte Gefahr besteht dann darin, dass die Auseinandersetzungen jenseits der demokratischen Arena ausgetragen werden und deshalb schnell an Dynamik gewinnen können. Die Mahnung von Chantal Mouffe, vor lauter Sachzwängen und Konsensdruck nicht das Wesen des Politischen zu vergessen, gehört gegenwärtig zu den wichtigsten intellektuellen Einsätzen, um die Krise der repräsentativen Demokratie zu bewältigen.
    Chantal Mouffe: "Agonistik. Die Welt politisch denken"
    Suhrkamp Verlag. Berlin 2014. 214 Seiten. 16,00 Euro