Am heimischen Küchentisch geht’s schon los. Um Diskussionen und Streitigkeiten zu vermeiden, sitzt jeder immer am selben Platz. Das bewährte Muster nehmen wir mit: in Kindergärten, Klassenzimmer, Sitzungsräume - und in Kinosäle.
Es ist wohl eine Mischung aus Pragmatismus, Unsicherheit und Aberglaube: Wer bei einem Filmfestival erst einmal den richtigen Sessel gefunden hat, klebt an diesem Stuhl wie ein altgedienter Amtsinhaber. Auch wenn ein Kinoplatz dem anderen gleicht, so scheint doch eine große Anziehungskraft vom immergleichen Polstermöbel auszugehen. Abstand zu Leinwand und Ausgang sind für gut befunden, ebenso haben die Sitznachbarn die Prüfung bestanden. Never change a running system! Viele Festivalgänger haben diesen Imperativ verinnerlicht.
Entlastung für strapazierte Kritikerseelen
Doch es ist nicht nur der Kinosessel, der einem das Gefühl vermittelt, wenigstens noch ein bisschen Kontrolle über das eigene Leben zu haben. Wenn aufreibende Thriller und herzerwärmende Liebesgeschichten, nervenzehrende Sozialdramen und überdrehte Komödien auf einen einprasseln, dann werden auch robuste Kritikerseelen empfänglich für den Zauber der berechenbaren Regelmäßigkeit.
Das ist beim einen der morgendliche Espresso im Café an der Ecke, bei der anderen die erprobte, weil nicht übervolle Toilette im hintersten Winkel des Festivalpalastes. Gar nicht drüber nachdenken müssen: Das entlastet enorm. So weint etwa ein Kollege aus Berlin noch immer darüber, dass sein Lieblingsrestaurant beim Bahnhof von Cannes von einem Jahr auf’s andere plötzlich weg war. Ausgerechnet diese kleine Spelunke war geschlossen worden, in der er sich doch so wohlgefühlt hatte und auch noch spätabends in Ruhe gelassen wurde, wenn er nach der richtigen Formulierung, nach dem passenden Schluss für seinen Text suchte. Was für ein Pech! Auf unser kollegiales Mitgefühl kann er sich verlassen.