Ein einzelner Regiestuhl steht bei der glamourösen Auftaktgala auf der Bühne. Einzeln und ein bisschen einsam. Auf der Rückenlehne steht in großen Lettern der Name von Agnès Varda. Frankreichs berühmteste Regisseurin, eine gebürtige Belgierin, ist vor wenigen Wochen im Alter von 90 Jahren gestorben. Sie war Pionierin des Autorenkinos, galt als "Großmutter der Nouvelle Vague", war Trägerin von Ehren-Oscar, Ehren-Palme und Ehren-Leopard. An sie wird bei den 72. Internationalen Filmfestspielen in Cannes immer wieder erinnert: Mehrmals fällt ihr Name allein am Eröffnungsabend, während ihre Kinder im Premierenpublikum sitzen.
Die augenscheinlichste Geste der Würdigung aber ist das Plakat der diesjährigen Festspielausgabe: Agnès Varda bei den Dreharbeiten zu ihrem ersten Spielfilm Mitte der 1950er. In goldgelbes Licht getaucht ist das Bild, das in Cannes jedes Schaufenster und fast jede Bushaltestelle ziert, das auf jeder Festspielpublikation abgebildet ist und von unzähligen Fahnenmasten und an der Fassade des Festivalpalastes herabhängt. Es zeigt Agnès Varda bei der Arbeit. Um allerdings durch die Filmkamera blicken zu können, genügt es nicht, dass sie auf einen Koffer steigt. Um die gewünschte Höhe zu erreichen, muss auf dem Koffer auch noch ein Mann knien, auf dessen Rücken Varda balanciert.
Wackelig und heikel
Eine wackelige Sache und zugleich eine heikle Angelegenheit. Denn was will dieses Bild sagen? Dass die begnadete Regisseurin nur mit Hilfe eines Mannes ihre Arbeit verrichten konnte? Oder dass sie die männlichen Mitglieder ihres Aufnahmeteams als billige Steigbügelhalter benutzt hat? Vieles lässt sich in das historische Foto hineinlesen. Agnès Varda selbst hätte sicher eine originelle Deutung zur Hand gehabt: selbstironisch und augenzwinkernd – wie es ihre geschätzte Art war.
Alles andere als geschätzt dagegen wird von vielen die Entscheidung für den diesjährigen Träger der "Ehrenpalme". Die Festivalleitung hat sich für Alain Delon entschieden. Der verdiente Schauspieler hatte im Zuge der MeToo-Debatte im vergangenen Jahr allerdings öffentlich zugegeben, gewalttätig gegenüber Frauen gewesen zu sein. Außerdem steht er der extremen Rechten in Frankreich nahe, spricht sich gegen Zuwanderung aus und hetzt gegen Homosexuelle.
Alles andere als geschätzt dagegen wird von vielen die Entscheidung für den diesjährigen Träger der "Ehrenpalme". Die Festivalleitung hat sich für Alain Delon entschieden. Der verdiente Schauspieler hatte im Zuge der MeToo-Debatte im vergangenen Jahr allerdings öffentlich zugegeben, gewalttätig gegenüber Frauen gewesen zu sein. Außerdem steht er der extremen Rechten in Frankreich nahe, spricht sich gegen Zuwanderung aus und hetzt gegen Homosexuelle.
Der Künstler und sein Werk
Pas de problème, heißt es dazu aus Cannes. Die Festspielleitung ist überzeugt davon, dass Künstler und Werk voneinander zu trennen sind. Alain Delon dürfe denken, was er wolle, erklärte Festivalchef Thierry Frémaux kürzlich: Man verleihe ihm ja schließlich nicht den Friedensnobelpreis.
Da wünscht man sich doch umso sehnlicher Agnès Varda zurück. Noch vor einem Jahr hat sie in Cannes auf dem Roten Teppich gestanden, mit 81 anderen Frauen, und für Geschlechtergerechtigkeit in der Filmbranche plädiert. Vielleicht hätte sie auf Frémaux’ Kommentar nicht mit Witz und Ironie antworten können, aber die Worte hätten ihr ganz sicher nicht gefehlt.