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Postkarte aus Cannes
Ein leerer Stuhl

Die Premiere von "Leto" musste am Mittwochabend in Cannes ohne Kirill Serebrennikov stattfinden. Der Regisseur darf seit über acht Monaten seine Moskauer Wohnung nicht verlassen. Unter Hausarrest hat er einen groβartigen Film fertig produziert, findet Dlf-Filmkritikerin Maja Ellmenreich.

Von Maja Ellmenreich |
    Der Regisseur steht unter Hausarrest und konnte nicht an der Pressekonferenz in Cannes teilnehmen.
    Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov steht unter Hausarrest und konnte nicht an der Pressekonferenz in Cannes teilnehmen. (Deutschlandradio/Maja Ellmenreich)
    Der Briefwechsel zwischen Paris und Moskau war wohl freundlich im Ton, aber unerbittlich in der Sache: Gerne hätte man dem Filmfestival in Cannes geholfen, aber die Justiz in Russland sei nun mal unabhängig. So lautete die Begründung aus dem Kreml. Zu Beginn der Pressekonferenz an diesem Donnerstagmorgen wurde sie vorgetragen, um den leeren Stuhl auf dem Podium zu erklären.
    Russlands Präsident Putin hat also keine Ausnahme gemacht: Regisseur Kirill Serebrennikov durfte nicht nach Frankreich ausreisen, um sein jüngstes Werk vorzustellen – den Film "Leto", zu deutsch "Sommer", ein opulentes Filmportrait der Leningrader Rockszene in den frühen 1980ern. Der prominenteste Kulturschaffende Russlands steht seit gut acht Monaten unter Hausarrest in Moskau. Während der Dreharbeiten zu "Leto" wurde er festgenommen. Der Vorwurf: Veruntreuung staatlicher Gelder in Millionenhöhe.
    Schnitt unter Hausarrest
    Lächerlich, kommentiert Produzent Ilya Stewart die Anklage gegen seinen Freund Serebrennikov. Und damit wird er für seine Verhältnisse schon recht deutlich, denn ansonsten beschränkt sich Stewart auf Fakten und wenige Details: Zum Beispiel darauf, dass sich Serebrennikov sehr über die Wettbewerbseinladung gefreut habe. Ja, den Schnitt habe er im Hausarrest gemacht – ohne Kommunikation nach auβen. Zum Glück sei bereits der Groβteil der Dreharbeiten abgeschlossen gewesen, als Serebrennikov im vergangenen August festgenommen wurde. Die Weltlage – Ilya Stewart legt den Kopf leicht zur Seite und zuckt mit den Schultern – sie sei derzeit kompliziert.
    So ähnlich drückt sich auch Mike Naumenko aus, eine der drei Hauptfiguren in dem neuen Film. "Anything can happen in this country" – in diesem Land sei alles möglich, lässt Serebrennikov den berühmten Sowjetmusiker sagen. Er war einst Kopf der Band "Zoopark", die den Rock auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs holte. Und er ist Teil einer Dreiecksbeziehung, um die es in "Leto" geht. Mike Naumenko ebnet dem jungen Viktor Zoi den Weg in die Leningrader Musikszene, während sich zwischen Viktor und Mikes Frau Natasha eine Romanze anbahnt. Dass Viktor Zoi später zu einer Legende der sowjetischen Rockgeschichte werden sollte, zum Idol einer ganzen Generation, bis heute verehrt und umjubelt, davon ist in "Leto" noch keine Rede.
    Mehr als Liebesgeschichte und Soundtrack
    Aber erahnen lässt sich die unbändige Kreativkraft des jungen Zoi, der intuitiv den richtigen Ton trifft und nicht nur seinen Vorbildern aus dem Westen nacheifert. Serebrennikov erzählt in bestechenden Schwarz-Weiβ-Bildern von der Aufbruchsstimmung einer ganzen Generation, die vor Zorn und Leidenschaft zu platzen scheint und – noch namenlos – Gorbatschows Perestroika-Politik herbeisehnt. Und damit ist "Leto" weitaus mehr, als lediglich die gekonnte Verknüpfung einer komplizierten Liebesgeschichte mit einem berauschenden Soundtrack. Wie sagt es Ilya Stewart so klug in der Pressekonferenz: "Leto" sei zwar ein historischer Film, aber alles, was Kirill Serebrennikov mache – ob Theater, Ballett oder Film – alles habe mit unserer Gegenwart zu tun.
    Umso trauriger, dass Serebrennikov nur auf dem Bildschirm in Moskau von der Begeisterung lesen kann, die sein Film in Cannes ausgelöst hat. Für einen Regisseur sei es schließlich wichtig, die Publikumsreaktionen unmittelbar mitzuerleben, sagte der iranische Filmemacher Asghar Farhadi am Tag zuvor in Cannes. Seit über acht Monaten ist Kirill Serebrennikov dieses künstlerische Grundrecht untersagt.