Schminktipps und Beziehungsratschläge, Reiseempfehlungen und Kochrezepte weckten nicht wirklich meine Aufmerksamkeit. Also blätterte ich weiter ein wenig lustlos durch die aktuelle Ausgabe der "Brigitte". Eine freundliche Flugbegleiterin hatte sie mir in die Hand gedrückt. Aus Langeweile und auch aus alter Gewohnheit suchte ich die Seite mit dem Horoskop und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass wirklich ich – Sternzeichen Stier, unterwegs zu den Filmfestspielen nach Cannes – gemeint war. Denn was stand angeblich für mich in den Sternen?
"Merkur schärft Ihren Blick, Venus das Fühlen. Und wenn Sie beide Wahrnehmungskanäle gut austarieren, haben Sie beste Chancen, die oft fast paradoxen Botschaften zu entschlüsseln, die aus Ihrem Umfeld kommen."
Treffer! Über einen scharfen Blick und intensive Empfindsamkeit sollte man schließlich verfügen, wenn man zehn Tage lang mindestens zwei, an manchen Tagen auch drei oder gar vier Filme schaut. Balance der beiden Wahrnehmungskanäle ist ebenso wünschenswert, aber auch nicht immer machbar: Die Emotionen können die Sicht ebenso vernebeln wie die Bilder den Zugang zum Herzen blockieren können. An Chancen und paradoxen Botschaften mangelt es in Cannes nicht: Das Umfeld also versorgt die Wahrnehmungskanäle nach Kräften.
"Jupiter’s Moon" verleiht auch im Nachhinein noch Flügel
Jetzt, anderthalb Wochen später, da in Cannes der Wettbewerb vorbei ist und alle auf die Palmenentscheidung warten, frage ich mich zum Abschied, welche Bilder, welche Empfindungen ich mit nach Hause nehmen werde: Da tanzt etwa im Eröffnungsfilm von Arnaud Desplechin die zauberhafte Marion Cotillard wie ein ausgelassenes Kind zu Bob Dylans Musik.
Von Andrej Swjaginzews Film "Loveless” bleibt der stumme Schrei eines Jungen, der gerade gehört hat, dass seine Eltern ihn lieber heute als morgen loswären. In Todd Haynes "Wonderstruck" dominieren Farben: Schwarz und Weiß aus dem Jahr 1927 und knallbunte aus dem New York der 70er. Kornél Mundruczós "Jupiter’s Moon" verleiht mir auch im Nachhinein noch Flügel, denn Flüchtlingsjunge Aryan kann wie ein Engel schweben.
Und aus Bong Joon Hos "Okja" grinsen mich zwei runde Gesichter an: das vom Superschwein Okja und von seiner besten Freundin, dem Menschenmädchen Mija. Auch Ruben Östlunds Film "The Square" kam animalisch daher: Während der Kunstkurator und die Journalistin schweißtreibenden Sex haben, sitzt im Nachbarzimmer ein Affe und malt bunte Kringel mit Wachsmalstiften.
Beim Gedanken an Robin Campillos "120 BPM" höre ich lautes Fingerschnipsen: Die AIDS-Aktivisten der ACT-UP-Gruppe klatschen nicht Beifall, sondern applaudieren bei ihren Besprechungen nur mit Daumen und Mittelfinger. Und was bleibt hängen von Michel Hazanavicius' Godard-Portrait "Le Redoutable"? Der ständig zur Schau gestellte nackte Körper von Stacy Martin und ihr so ausdrucksloses Gesicht.
"The Meyerowitz Stories" von Noah Baumbach dagegen erzählen eine ganz andere Geschichte: Da sehe ich Ben Stiller vor mir, wie er bei einem unerwarteten Gefühlsausbruch eine ahnungslose Krankenschwester herzt. "Happy End" klingt nach dem intensiven Gambenspiel von Profimusikerin Hille Perl, die Michael Haneke den Wahnsinn der Familie Laurent musikalisch kommentieren lässt: mit den "Folies des Espagne". Yorgos Lanthimos‘ "The Killing of a Sacred Deer" hinterlässt bei mir ein unsicheres Gefühl: Darf man diesem wohlerzogenen Teenager Martin nun trauen oder nicht?
Zwischen Langeweile und Fassungslosigkeit
Appetit bekomme ich, wenn ich an Hong Sangsoos "Geu-Hu" denke: Bei einer Schale Suppe, bei einem Reisgericht, bei einer Tasse Tee wird in diesem Film das Beziehungsgeflecht auseinandergenommen. Die Japanerin Naomi Kawase springt mir mit ihrem Film "Hikari" förmlich ins Gesicht: "I love close-ups", hatte sie in der Pressekonferenz gestanden – und im Nachhinein zoome ich mich an die ohnehin schon großen Bilder noch näher heran.
Ein genervtes Aufstöhnen höre ich, wenn ich an Jacques Doillons Biopoc "Rodin" denke: Nichts als Langeweile bleibt davon. Ganz anders: Sofia Coppolas "The Beguiled" lässt mich schaudern und grinsen zugleich – eine perfekte Mischung! Sergei Loznitsa hat mit "Krotkaya" Fassungslosigkeit bei mir ausgelöst, als er zeigte, wie Wärter in einem sibirischen Gefängnis die Mitbringsel der Besucher auseinander nahmen: Zahnpastatuben durchbohrten, Brote auseinanderschnitten, Schuhsohlen ablösten.
Wie ein Tempomacher klingt die Musik aus "Good Time" von den Safdie-Brothers in mir nach: Sie machte den flüchtigen Filmbrüdern Connie und Nick Beine und uns Zuschauern bescherte sie Herzrasen. Einen Überraschungseffekt landete François Ozon wohl bei allen im Salle Debussy, denn sein Film "L’Amant Double" beginnt mit der Innenansicht einer Frau: einem medizinisch-nüchternen Blick auf den Gebärmutterhals seiner Protagonistin.
Intime Ansichten ganz anderer Art kommen mir in den Sinn, wenn ich an Fatih Akins "Aus dem Nichts" denke: das von Fassungs- und Hoffnungslosigkeit gezeichnete Gesicht von Diane Kruger alias Katja. So manch eine Szene von Lynne Ramsays "You were never really here" habe ich nur aus dem Augenwinkel gesehen: Zu blutig, zu brutal war die "Tour de force" des Joaquin Phoenix für meine festivalerschöpften Nerven.
Merkur schärft Ihren Blick, Venus das Fühlen … das kann man wohl sagen!