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Pränatalmedizin
Auf Fehlersuche

Ob ein Kind im Mutterleib gesund ist, wird immer genauer untersucht. Sind Werte "auffällig", folgt eine Reihe weiterer Befunde. Eltern, die sich für ein behindertes Kind entscheiden, fühlen sich unter Druck gesetzt. Frauen, die einen Abbruch vornehmen lassen, aber auch.

Von Burkhard Schäfers |
    Der fünfjährige Valentino mit Down-Syndrom sitzt am 05.12.2013 während der Ergotherapie in einem Therapiezimmer des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) im Krankenhaus Dresden-Neustadt in Dresden (Sachsen) und hält ein Haus aus Pappe vor sein Gesicht.
    Kinder mit Chromosomen-Defekt haben oft eine niedrige Lebenserwartung. Wie ihr Leben für sie und ihre Eltern verläuft, kann kein Arzt vorhersagen. (picture alliance / ZB / Sebastian Kahnert)
    Jael wird 13 Jahre alt, obwohl ihr Leben schon vor der Geburt hätte vorbei sein sollen. Im achten Schwangerschaftsmonat erfahren die Eltern, dass ihre Tochter Trisomie 18 hat. Kinder mit diesem schweren Chromosomen-Defekt haben häufig Fehlbildungen des Gehirns und Herzfehler. Die meisten sterben bereits im Mutterleib oder kurz nach der Geburt.
    Für die Mediziner ist klar: Shabnam Arzt, die Mutter, sollte die Schwangerschaft abbrechen.
    "Es war so, dass wir ziemlich blauäugig in diese Praxis gefahren sind und hatten die Hoffnung, dass der behandelnde Arzt uns eben sagen kann, warum ich zu viel Fruchtwasser habe und wie wir unserer Tochter helfen können. Aber es wurde ziemlich schnell deutlich, dass wir nicht dort sind, damit man uns hilft, sondern dass man auf Fehlersuche ist."
    Doppelt geschockt
    Wenn Jael überhaupt lebend auf die Welt komme, werde sie weder selbständig atmen noch trinken können, sagen die Ärzte nach der vorgeburtlichen Untersuchung. Die Auswirkungen der Trisomie würden die künftige Familie vor "große Probleme" stellen. Nicht nur die Diagnose ist ein Schock, auch die Art, wie die Pränatal-Mediziner mit ihnen umgehen, sagt Shabnam Arzt.
    "Sie haben uns gefragt: Wollen Sie das wirklich Ihrem Kind antun? Wollen Sie sich das antun? Uns wurde ein schlechtes Gewissen gemacht, dass wir uns für unsere Tochter entscheiden, dass wir diesen Weg gehen wollen."
    In den darauffolgenden Tagen sind Mutter und Vater im doppelten Ausnahmezustand: Sie müssen damit klarkommen, dass ihre Tochter womöglich nicht leben kann – und sich auch noch gegen den Rat der Ärzte stellen.
    "Weil wir gesagt haben: Wenn es tatsächlich so ist, dass unsere Tochter ein paar Tage leben wird, dann wollen wir sie kennenlernen. Ich hatte mit ihr schon kommuniziert durch den Bauch und sie hat darauf reagiert. Das hab ich so genossen und gedacht: Ich möchte sie einfach im Arm halten, ich möchte ihr in die Augen schauen, und ich möchte sehen, wie sie aussieht. Dass sie dann letztlich mit uns 13 Jahre Geschichte geschrieben hat, ist natürlich mehr als ein Geschenk für uns."
    "Umarmen und loslassen"
    Jael ist eines von wenigen Kindern, die mit Trisomie 18 mehrere Jahre leben. Inzwischen ist sie gestorben, ihre Eltern haben ein Buch geschrieben: "Umarmen und loslassen".
    Geschichten wie die von Jael zeigen das Spannungsfeld der Pränataldiagnostik: Hier der Wunsch, die Schwangerschaft unter Kontrolle zu haben – dort die Grenzen der Medizin. Meist erwarteten Eltern, dass die Ärzte Krankheiten ausschließen oder verhindern könnten, sagt die Fachautorin Carolin Erhardt-Seidl. Ein Trugschluss:
    "Tatsächlich kann Pränataldiagnostik nur in sehr wenigen Fällen Erkrankungen und Behinderungen vorgeburtlich entdecken, weil nur vier Prozent sind ja angeboren. Der Großteil entsteht während der Geburt oder im Laufe des Lebens. Dieses Feld an Erkrankungen, die entdeckt werden können, ist tatsächlich relativ klein. Und innerhalb von diesem Feld kann man dann auch vor- und nachgeburtlich relativ wenig nur machen, also dem Kind tatsächlich helfen."
    Unvorhersehbare Auswirkungen
    Zudem sind manche Befunde unklar oder ziehen eine Spirale weiterer Untersuchungen nach sich. Und: Wie genau eine Krankheit oder Behinderung sich nach der Geburt auswirkt, kann kein Mediziner vorhersehen. Erhardt-Seidl, die Eltern nach einer Diagnose begleitet, spricht von einer guten Schwangerschafts-Vorsorge in Deutschland. Aber:
    "Das Hauptproblem ist, dass die Zielsetzungen so ein bisschen im Dunkeln bleiben. Eltern kriegen verschiedene Verfahren angeboten, das Kind untersuchen zu lassen, aber es wird dann oft nicht zu Ende gedacht. Viele Eltern machen die Untersuchungen, weil sie glauben, dem Kind bestmögliche Chancen einzuräumen, was in Einzelfällen tatsächlich auch so ist. Aber der Großteil kann eben gar nicht behandelt werden."
    Recht auf Nichtwissen
    Werdende Eltern hätten oft den Eindruck, die Pränataldiagnostik gehöre zur Schwangerschaft dazu. Diesen Quasi-Automatismus kritisiert die Expertin und sagt: Es gibt ein Recht auf Nichtwissen. Obwohl das Thema so viele betrifft, landeten die meisten zukünftigen Mütter und Väter ohne viel Wissen in der Arztpraxis und sollten sich dort für Untersuchungen entscheiden, von denen sie noch nie gehört hätten.
    Erhardt-Seidl: "Die Untersuchungsmethoden werden immer genauer und es wird immer mehr angeboten. Aber die psychosoziale Begleitung und Aufklärung hinkt etwas hinterher. Das passiert oft nur so nebenher auf dem Papier und unzureichend. Die tatsächlichen Angebote kommen dann ja wirklich erst, wenn die Diagnose festgestellt ist."
    Dann aber seien die betroffenen Eltern im Schockzustand. Und deshalb manchmal tagelang kaum in der Lage zu verstehen, was ihr Kind hat, Informationen aufzunehmen und Entscheidungen zu treffen. Sie müssten ausreichend Zeit bekommen, um mit weiteren Ärzten und Beratungsstellen zu sprechen, sagt Carolin Erhardt-Seidl, Autorin eines Fachbuchs über "Wege nach pränataler Diagnose".
    Führt Zeitdruck zu falschen Entscheidungen?
    Schließlich geht es um die existenzielle Frage: Schwangerschaft fortführen oder abbrechen.
    "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Eltern gar nicht alle Wahlmöglichkeiten vorgestellt bekommen. Und dass sie dann oft aufgrund einer fehlenden Perspektive für das Weiterführen der Schwangerschaft sich für den Abbruch entscheiden. Das ist ein Problem, dass die Beratung und Begleitung oft unter einem Zeitdruck passiert, dass viele Eltern in einen Schwangerschaftsabbruch reinschlittern. Und hinterher, wenn zwei, drei, vier Wochen vergangen sind, sich fragen: Wie konnte das überhaupt passieren?"
    Die Expertin rät, in diese schwierige Entscheidung verschiedenes einzubeziehen: Die Familiengeschichte, die Art der Erkrankung, Behandlungsmöglichkeiten, ob Verwandte und Freunde die Eltern unterstützen können.
    Eine sorgfältige Diagnose, sachliche Beratung, genug Zeit für die Entscheidung – diese Faktoren betont auch der Münchner Pränatalmediziner Helge Mommsen. In schwierigen Fällen jedoch nehmen er und seine Praxis-Kollegen Schwangerschaftsabbrüche vor. Mommsen:
    "Es ist nicht so, dass wir diesen Vorschlag machen und sagen, das ist doch so schlimm und ist das nicht eine Option für Sie. Sondern das ist einzig und allein eine Entscheidung der Eltern – der Mutter rein rechtlich –, ob sie es schafft, die Schwangerschaft unter dieser extremen Belastung fortzuführen. Auch im Hinblick auf später, kann ich dieses Kind großziehen. Wenn diese Entscheidung für uns nachvollziehbar ist, dann ist es auch da unsere Aufgabe, die Schwangere weiter zu betreuen."
    Vorbereitung statt "Fehlersuche"
    Kritiker halten der Pränatalmedizin vor, für Schwangerschaftsabbrüche mitverantwortlich zu sein. Gäbe es weniger Untersuchungen, würden Eltern auch seltener mit unklaren Befunden verunsichert und damit seltener einer hohen psychischen Belastung ausgesetzt, so das Argument. Pränatalmediziner Mommsen sagt: Heute ließen sich deutlich mehr Erkrankungen erkennen als früher – aufgrund besserer Ultraschallgeräte und weil die genetische Diagnostik sich maßgeblich entwickelt habe.
    "Es geht uns darum, wenn ein Kind eine Erkrankung hat und ich das feststelle, kann ich dem Kind wesentlich besser gerecht werden. Indem ich die Geburt vorbereite, die Kinderärzte informiere, weil es natürlich besser ist, wenn man ein krankes Kind behandeln muss, wenn man schon vorab weiß, was hat das Kind, worauf müssen wir uns einstellen. Und weil die Eltern sich dann doch wesentlich besser darauf vorbereiten können und mehr Zeit haben, sich mit der Situation auseinanderzusetzen."
    Shabnam Arzt, die Mutter von Jael, engagiert sich in einer Selbsthilfegruppe für betroffene Eltern. Sie sagt, die Pränatalmedizin solle nicht nur nach Fehlern suchen.
    "Was ich den Ärzten empfehlen kann, ist, dass man den Müttern das Gefühl vermittelt: Wir sehen, dass da etwas nicht in Ordnung ist, aber letztendlich können wir auch nicht sagen, wie das Leben wirklich verlaufen wird. Keiner von den Ärzten hat uns gesagt, wie großartig unsere Tochter ist."