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Präsidentenwahl
Erdogans Türkei wählt

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will am Sonntag erster direkt gewählter Präsident der Republik Türkei werden. Seine Chancen stehen trotz seines autoritären Führungsstils sehr gut, die Wirtschaft brummt. Kritiker befürchten dagegen den Putin-Effekt und eine Islamisierung des Landes.

Von Reinhard Baumgarten | 08.08.2014
    Erdogan-Befürworter vor der Lanxessarena in Köln halten eine Fahne mit Erdogan-Konterfei in die Kamera
    Erdogan-Befürworter vor der Lanxessarena in Köln halten eine Fahne mit Erdogan-Konterfei in die Kamera (Deutschlandradio/Schillmöller)
    Istanbul Anfang Juni 2013. Mehrere tausend Menschen haben sich am Atatürk-Flughafen versammelt, um einen heimkehrenden Reisenden zu begrüßen.
    "Unser Leben gehört Dir", rufen sie jenem Mann zu, der tagelang die Länder Nordafrikas durchmessen hat, um in den Nachwehen des sogenannten Arabischen Frühlings neue Freunde zu finden. Sie seien alle seine Soldaten, versprechen sie ihrem Idol und politischen Führer. Recep Tayyip Erdogan kehrt in einer Zeit schwerer politischer Unruhen in das von ihm regierte Land zurück.
    Auf den Straßen von Istanbul, Ankara, Antalya, Izmir und in vielen anderen türkischen Städten fordern Demonstranten damals während der Gezi-Park-Proteste seinen Rücktritt. Recep Tayyip Erdogan antwortet auf seine Weise - mit Tränengas, Gummiknüppeln, Wasserwerfern und mit einem Versprechen.
    "Man sagt mir nach, dass ich ständig Spannungen verursache und hart sei. Was hat man denn erwartet? Dass ich in die Knie gehe und die Demonstranten bitte, ihre Stofffetzen vom Atatürk-Kulturzentrum zu nehmen? Wenn man das Härte nennt - ja, dann ist es so. Entschuldigung, aber Tayyip Erdogan wird sich nicht ändern."
    Recep Tayyip Erdogan hat sein Versprechen gehalten. Er hat sich nicht geändert.
    Damals wie heute, meint der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar, kenne der türkische Regierungschef nur eine Art und Weise der politischen Auseinandersetzung.
    Er kennt keine andere politische Auseinandersetzung als die Konfrontation. Das ist das Problem. Deswegen lässt er sich auch nicht beraten, will anderer Leute Ideen nicht hören. Er macht andere klein, jede Art von Opposition.
    Mustafa Akyol war bis vor wenigen Jahren noch glühender Anhänger von Recep Tayyip Erdogan. In zahllosen Artikeln und Kolumnen hat er dessen Politik verteidigt. Heute zählt der islamisch-konservative Publizist zu Erdogans unbequemsten Kritikern.
    "Für Erdogan sind nur er und seine Anhänger die wahre Nation. Die Anderen sind irgendwie nicht rechtmäßig, weil sie immer noch verbunden sind mit dem alten kemalistischen Regime, das inzwischen tot ist. Er kämpft nach wie vor gegen dieses imaginäre Monster."
    Aufstieg eines Religiös-Konservativen
    20 Jahren wurde der damals 40-jährige Erdogan unerwartet zum Bürgermeister von Istanbul gewählt. Seit dieser Zeit mischt er mit seinen religiös-konservativen Ideen die türkische Politik auf. Nun will der Vorsitzende der Adalet ve Kalkınma Partisi - der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, kurz AKP - Präsident der Republik Türkei werden.
    "Jeder soll wissen, wenn ich am 10. August gewählt werde, dann werde ich der Präsident aller Bürger der Republik Türkei sein und nicht nur einer bestimmten Partei oder einer bestimmten Gesellschaftsschicht."
    "Am 10. August wird nicht einfach nur der 12. Präsident gewählt. Am 10. August wird der Präsident vom Volke gewählt - und das beendet ein dunkles Kapitel unserer Geschichte. Es beendet die Bevormundung. Es wird kein Präsident mehr gewählt, der den Staat gegen das Volk repräsentiert. Nein, es wird aus dem Volke heraus ein Präsident des Volkes gewählt. Das ist der Unterschied."
    Drei Kandidaten stehen zur Wahl. Neben dem klaren Favoriten Regierungschef Erdogan sind das der kurdische Spitzenpolitiker Selahettin Demirtaş sowie Ekmeleddin Ihsanoğlu. Der 71-jährige Ihsanoğlu wurde in Ägypten geboren. Dort hat er Chemie studiert und an verschiedenen Universitäten in Kairo gearbeitet. Ekmeleddin Ihsanoğlu war langjähriger Leiter des Forschungszentrums für Islamische Geschichte, Kunst und Kultur in Istanbul sowie Generalsekretär der Islamischen Konferenz. Jetzt ist er der gemeinsame Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Volkspartei CHP sowie der Partei der Nationalistischen Bewegung MHP. Herr Ihsanoğlu sei der Kandidat der alten Elite, des alten Establishments, stellt der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar fest.
    "Aber er repräsentiert mehr als nur das. Er steht für Gelassenheit. Er ist nicht einer, der herumbrüllt wie Herr Erdogan. Er versucht, Dinge zu beruhigen. In der Augusthitze werden wir sehen, ob die Türken Ruhe, Harmonie und Frieden bevorzugen oder eben einen Straßenkämpfer, der die ganze Welt anschreit."
    Dem kurdischen Kandidaten Selahettin Demirtaş werden nur sehr geringe Chancen eingeräumt, das Rennen zu machen. Die Zahl seiner potenziellen Wähler sei sehr überschaubar, meint der Publizist Mustafa Akyol.
    "Selahettin Demirtaş, der dritte Kandidat, ist ein guter Mann. Er ist der einflussreichste Politiker im Lager der Kurden. Er ist ein guter Redner. In vielen Dingen klingt er sehr vernünftig. Aber er ist der kurdische Kandidat. Seine Wähler bringen ihm sieben, acht Prozent. Nur die Kurden oder ein paar linke Liberale aus einem kleinen Lager können ihn wählen."
    Mächtig und Wirtschaftsmacher

    Gemäß der geltenden Verfassung von 1982 ist der Präsident das Oberhaupt des Staates. Er vertritt die Einheit der türkischen Nation, beaufsichtigt die korrekte Anwendung der Verfassung sowie das gedeihliche und harmonische Zusammenwirken der voneinander unabhängigen Staatsorgane. Das türkische System sei kein Präsidialsystem, erklärt Cengiz Aktar. Der Präsident des Landes sei nur eines von mehreren staatstragenden Verfassungsorganen. Aber ...
    "Er hat bereits ziemlich viel Macht im Vergleich zum Präsidenten in Deutschland. Er kann die Gesetzgebung ebenso herausfordern wie auch die Exekutive. Wir hatten das schon einmal mit Präsident Ahmet Necdet Sezer. Er war gegen viele Gesetze, und er hat alles Mögliche getan, um sie zu blockieren. Er hat gute Gesetze blockiert - zum Beispiel die Dezentralisierung des türkischen Staates. Er hat das total abgeblockt."
    Seit März 2003 ist Recep Tayyip Erdogan türkischer Ministerpräsident. Kein Regierungschef vor ihm hat über einen solch langen Zeitraum derart wirkungsvoll agiert. Vor allem in der Wirtschaftpolitik kann er auf Erfolge verweisen. Bruttoinlandsprodukt und Pro-Kopf-Einkommen haben sich verdreifacht. Die Türkei steht heute auf Rang 17 der größten Wirtschaftsmächte. Nicht wenige politische Beobachter sind der Meinung, dass der islamisch-konservative AKP-Führer Erdogan in der Geschichte der Republik Türkei als der Politiker mit dem größten Einfluss nach Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gelten kann. Doch Erdogans Demokratieverständnis sei Grund zur Besorgnis, warnt sein einstiger Befürworter Mustafa Akyol.
    "Sein Verständnis von Demokratie ist der Triumph seines Lagers über das andere Lager. Für ihn sind Wahlen Krieg, ein Schlachtfeld. Er ist der siegreiche Oberbefehlshaber."
    Istanbul, Istiklal Caddesi, im Sommer 2014 - eine Baustelle nicht weit vom zentralen Taksim-Platz. Ein neues Einkaufszentrum entsteht. In kaum einer anderen Stadt Europas gibt es so viele Einkaufszentren, derart viele Baustellen und Großprojekte wie in Istanbul.
    Istanbul ist eine atemlose, eine ruhelose Stadt, eine Stadt unter Strom. 15 Millionen Menschen leben in der wichtigsten Kultur- und Wirtschaftsmetropole des Landes. Aus dieser Stadt kommt der aussichtsreichste Bewerber um das Amt des Präsidenten.
    Im Hafenviertel Kasımpaşa wurde Recep Tayyip Erdogan geboren. Hier hat er eine Imam Hatip-Predigerschule besucht. Hier ist er zum Politiker geworden. Und hier hat sein Weltbild seine Grundierung bekommen.
    Das Reich seiner Ahnen war groß und mächtig. Es erstreckte sich über die drei Kontinente Asien, Europa und Afrika. Das Osmanische Reich war gefürchtet, das Osmanische Reich wurde geachtet. Achtung, Respekt und Größe - das will der Präsidentschaftskandidat Erdogan für sein Land. Und er wolle die von einer nach Westen ausgerichteten Elite erzwungene Säkularisierung rückgängig machen, urteilt der islamisch-konservative Publizist Mustafa Akyol. Die Türkei sei im Kern ein durch und durch wertkonservatives Land. Ein großer Teil der Bevölkerung habe sich über Jahrzehnte wegen ihres islamischen Glaubens als Bürger zweiter Klasse gefühlt.
    Recep Tayyip Erdogan ist seit dem Erfolg seiner AKP bei den Parlamentswahlen 2002 mit immer besseren Ergebnissen von Wahlsieg zu Wahlsieg geeilt. Er erreiche die Massen - nicht trotz, sondern wegen seiner autoritären Tendenzen, sagt der Politologe Cengiz Aktar.
    "Sie scheren sich nicht um Demokratie. Sie lieben diese neue Gesellschaft des Massenkonsums. Sie kriegen Kredite von den Banken - und sie kaufen und kaufen und kaufen. Sie sind glücklich mit dem Sozialsystem, das er während seiner ersten Amtszeit auf den Weg gebracht hat - soziale Sicherheit für jedermann. Sie sind auch glücklich damit, wie er mit dem Militär umgegangen ist. Das Militär war jahrzehntelang die nicht-gewählte Macht dieses Landes. Er hat es geschafft, deren Macht zu brechen."
    Dreimal hat das Militär seit Bestehen der Republik Türkei gegen gewählte Regierungen geputscht. Das türkische Militär war wie ein Staat im Staate. Gegen die AKP-Regierung sollen Obristen ebenfalls Putschpläne geschmiedet haben. Hunderte hochrangige Offiziere sind deswegen eingesperrt und Dutzende zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Vor drei Jahren ist der Generalstab unter dem anhaltenden politischen und juristischen Druck zurückgetreten und nach den Vorstellungen von Regierungschef Erdogan neu gebildet worden. Die AKP, konstatiert der Politologe Cengiz Aktar, habe sich in den vergangenen 12 Regierungsjahren trotz wachsender Kritik am autoritären Führungsstil ihres Vorsitzenden beachtliche Verdienste um die Liberalisierung der türkischen Politik erworben.
    "Bis jetzt hatten wir keine politische Partei, die mehr für die Freiheit getan hat als die AKP, wenn es um die Öffnung des öffentlichen und des politischen Raumes geht. Das ist leider das Widersprüchliche hier im Land. Herr Erdogan mit seiner Partei ist - obwohl er autokratisch ist - immer noch die liberalste politische Ausformung dieses Landes. Das ist der Widerspruch der Türkei."
    Vor Erdogan war die Türkei säkularer. Aber sie war nicht liberal. Sie war kaum nationalistisch. Sie war paranoid, antikurdisch, antiarmenisch, manchmal antiwestlich. Dann kam Erdogan und sagte: Wir werden die Armenier befreien, ebenso die Kurden. Wir werden den Christen ihre Kirchen zurückgeben.
    "Wunderbar - darauf haben wir gewartet: eine islamische Bewegung, die an die Macht kommt und eine freiheitliche Sprache anschlägt. Im Laufe der Zeit, als Erdogan die Hindernisse vor sich aus dem Weg geräumt hatte, haben wir gemerkt, dass er selbst eine sehr unfreie Agenda verfolgt. Er hat das Interesse an liberalen Reformen und an den Kopenhagener Kriterien der EU verloren. Er festigte seine Macht, um seine autoritären Vorstellungen durchzusetzen."
    Türkische Bürger schreien Slogans am ersten Tag des Ramadan - die Gezi-Proteste gegen die türkische Regierung am 09 Juli 2013 in Istanbul
    Juli 2013: Türkische Bürger protestieren im Gezi-Park gegen die Regierung (dpa / picture alliance / Georgi Licovski)
    Zu den umfangreichen Aufgaben des türkischen Präsidenten gehört: Vom Parlament verabschiedete Gesetze in Kraft zu setzen - oder aber zu blockieren; über vorgezogene Wahlen zu entscheiden; den Ministerpräsidenten zu ernennen und dessen Rücktritt entgegen zu nehmen; die Entsendung diplomatischer Vertreter ins Ausland; Vorsitz des Nationalen Sicherheitsrats; Ernennung des Generalstabchefs; das Amt des türkischen Staatspräsidenten beinhaltet bereits jetzt eine große Machtfülle. Bislang hat das Parlament den Präsidenten auf sieben Jahre gewählt. Auf Betreiben Erdogans wurden die Regeln jetzt geändert. Die Amtszeit beträgt nun fünf Jahre - und das Volk wählt den Präsidenten direkt.
    "Der Präsident hat in der Türkei jetzt abnorme Macht. Er ernennt beispielsweise sämtliche Rektoren der Universitäten. Sie wollen jetzt ein Gesetz verabschieden, durch das der Zentralen Bildungseinrichtung YÖK die Befugnis gegeben wird, die Verwaltungsräte aller Universitäten zu bestimmen - auch der privaten. Unvorstellbar! Der Präsident kontrolliert dann die Exekutive, die Justiz, die Gesetzgebung, die Universitäten - die ein wichtiger Teil der Zivilgesellschaft sind - und die Medien."
    Ein Präsident wie Putin?

    Sollte AKP-Chef Erdogan gewählt werden, unkt Cengiz Aktar, dann werde er eine Putin-hafte Präsidentschaft wie in Russland anstreben.
    "Erst will er zum Präsidenten der Republik gewählt werden, dann sollen Parlamentswahlen folgen, um die Verfassung und damit das Regime in ein Präsidialsystem à la Putin ändern zu können."
    Derlei Unterstellungen weist der Präsident in spe entschieden zurück. Seine Partei stehe für die Demokratisierung des Landes, und er stehe für die Öffnung nach außen.
    "Die neue Türkei ist ein weltoffenes Land, in dem jeder Mensch stolzer Staatsbürger ist. Die neue Türkei wird sich für regionalen Frieden und für Frieden weltweit einsetzen. Sie wird dem Recht und der Gerechtigkeit dienen."
    Tayyip, rufen ihm seine Anhänger zu, "unser Leben gehört Dir". Niemand zieht die Massen in der Türkei so in seinen Bann wie Recep Tayyip Erdogan. Seine Worte, seine predigerhaften Ansprachen und seine Wortwahl treffen auf offene Ohren. Seine Anhänger stoßen sich nicht an seiner autoritären Art. Sie glauben ihm, wenn er sagt, alle gegen ihn vorgebrachten Korruptionsvorwürfe seien Verschwörungen politischer Gegner. Nichts ist von dem massiven Korruptionsskandal übrig geblieben, der von Mitte Dezember vergangenen Jahres an monatelang die Türkei in Atem hielt.
    Recep Tayyip Erdogan hat zwei große Träume: Er will die Türkei unter die Top Ten der Wirtschaftsmächte führen. Und er will zum 100. Geburtstag der Republik im Jahr 2023 Präsident seines Landes sein. Sollte Erdogan gewählt werden, so befürchtet der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar, werde er alle Mittel der Macht bis zum bitteren Ende nutzen.
    "Es wird eine Ein-Mann-Show. Er hat seine Partei von Gegenspielern gereinigt. Es gibt niemanden mehr innerhalb der Partei, der seine Omnipotenz herausfordern kann. Er wird ein Präsident mit Exekutivgewalt. Er wird wahrscheinlich eine Marionette als Ministerpräsident einsetzen, der seinen Anweisungen folgt."
    Der Favorit Erdogan ist von seinem Sieg fest überzeugt. Er hofft, gleich im ersten Wahlgang zu gewinnen.
    Königsmacher Kurden
    Die Kurden könnten zum Königsmacher werden. Kein Regierungschef vor ihm hat intensiver als Erdogan versucht, den blutigen Konflikt im Osten des Landes mit mehr als 40.000 Toten beizulegen. Sollte er mithilfe der Kurden Präsident werden, dann dürfte die Hoffnung auf Frieden in den türkischen Kurdengebieten wachsen. Seine Anhänger glauben ihm. Sie schenken ihm ihr Vertrauen. Kritiker wie der Politologe Cengiz Aktar befürchten Schlimmes, sollte er noch mehr Macht bekommen als er bereits hat.
    "Die Türkei bewegt sich freudig auf eine Putin-hafte Nicht-Demokratie zu. Es steht jedem frei, das Autokratie, Diktatur oder was immer zu nennen. Die Türkei entfernt sich sehr schnell von einem moderaten demokratischen System."