Darüber zu sprechen, was er als Kind erleben musste - das fällt Chandrasen schwer. Chandrasen kommt aus dem indischen Bundesstaat Maharaschtra. Geboren wurde er in eine Dalit-Familie. Dalits hießen früher Unberührbare. Verstoßen und verachtet von den höheren Kasten. Bis heute.
"Auf der Schule habe ich zum ersten Mal gemerkt, was es bedeutet, diskriminiert zu werden. Bis dahin hatte ich keinen Kontakt zu Menschen anderer Kasten. Wir blieben in unserem Dorf unter uns. In der Schule gab es einen Brunnen. Ich wollte dort Wasser holen, ich war durstig. Aber die anderen Kinder ließen mich nicht vor. Ich durfte den Brunnen nicht berühren. Für mich blieb nur das Wasser, das andere verschütteten."
Schlechte Bildungschancen
Auch gemeinsam mit ihm essen wollten die anderen, höherkastigen Kinder nicht. Ihre Häuser durfte er schon gar nicht betreten. Chandrasen galt als unrein. Heute ist er 25 Jahre alt und hat es über eine Quotenregelung geschafft, einen Studienplatz zu ergattern. Die früheren, meist sozialistischen Regierungen Indiens haben über Quoten für Arbeits- und Studienplätze versucht, die Lage der Dalits zu verbessern. Aber auch an der Hochschule gebe es Diskriminierung, nur subtiler, sagt Chandrasen.
"Schon der Uni-Mitarbeiter, der meine Bewerbung angenommen hat, hat mich verhöhnt, weil ich Rechtschreibfehler gemacht habe. Und auch später wurde ich immer nach der Kaste gefragt und von oben herab behandelt."
Mit Sprösslingen aus feineren Elternhäusern, die gute Schulen besuchen durften, können es die meist armen Dalits es ohnehin kaum aufnehmen. Nur wenige bringen es zu Einfluss oder Reichtum.
Dalit-Präsident als symbolische Figur soll Wähler locken
Jetzt also ein Dalit als indischer Präsident? Sowohl Regierung als auch die Opposition haben für die Wahl heute Dalits nominiert. Narendra Kumar, Politologe aus Neu-Delhi, überrascht das nicht.
"Die Regierungspartei BJP versucht, mit neuen Gesichtern die Wählergruppe der Dalits für sich zu gewinnen. Und der Opposition blieb nichts anderes übrig, als auch eine Dalit-Angehörige zu nominieren. Dalits kämpfen inzwischen für ihre Rechte. In manchen Wahlkreisen sind sie in der Mehrheit."
Geschätzt gehören etwa 200 Millionen Menschen zu den Dalits, und damit sind sie eine bedeutende Wählergruppe, die die Parteien bedienen müssen. Das Amt des Präsidenten eigne sich dafür, sagt Kumar. Den Präsidenten bestimmen Wahlleute, die im indischen Parlament sitzen und von den einzelnen Bundesstaaten entsandt wurden.
"Der indische Präsident ist nur eine symbolische Figur. Der Präsident hat so gut wie keine Macht. Und so passt den Parteien jeder, der ihre Gesetze unterschreibt."
Vermutlich keine Verbesserung der üblen Lage
Gewinnen wird wahrscheinlich der Kandidat der regierenden BJP, Ram Nath Kovind. Bisher war der Rechtsanwalt den meisten Indern unbekannt, genau wie seine Gegenspielerin Meira Kumar von der Kongresspartei. Sie gelten nicht als Gallionsfiguren der Dalit-Bewegung. Und so glauben der Student Chandrasen und auch Politikexperte Narendra Kumar nicht, dass die Präsidentenwahl an der üblen Lage der meisten Dalits in Indien etwas verändern wird.