Bratislava, am späten Abend des 17. März. Es geht bereits auf Mitternacht zu. Der Jubel wirkt noch etwas verhalten in der Wahlkampfzentrale der Partei "Progressive Slowakei", die es seit nicht einmal zwei Jahren gibt. Die Zahlen, die heute Abend über den Bildschirm flimmern, können sie hier kaum glauben. Und auch Zuzana Caputova wirkt fast ein wenig unsicher, als sie auf die Bühne tritt.
"Dieses Ergebnis signalisiert für mich einen Ruf nach Veränderung. Mir scheint, die Wählerinnen und Wähler können sich eine Präsidentin vorstellen, die vielleicht noch nicht lange in der Politik ist, aber eine andere Sicht auf die Realität hat und neue Lösungsideen mitbringt."
Zuzana Caputova hat innerhalb weniger Wochen einen kometenhaften Aufstieg in der slowakischen Politik erlebt. Mehr als 40 Prozent der Stimmen hat die liberale Rechtsanwältin und Bürgerrechtlerin in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl gewonnen. Sie geht nun als Favoritin in die Stichwahl am kommenden Wochenende. Ihr Gegen-Kandidat ist Maros Sefcovic, EU-Vizekommissionspräsident, ein parteiloser Diplomat und Kandidat der linksgerichteten Regierungspartei Smer. Er hatte in der ersten Wahlrunde den zweiten Platz hinter Caputova belegt, allerdings weit abgeschlagen mit nur 18,7 Prozent. Marian Lesko, erfahrener Kommentator in Bratislava bringt es auf den Punkt:
"Ich kann mich nicht erinnern, dass die Unterstützung eines Kandidaten innerhalb von ein, zwei Wochen jemals so raketenhaft angestiegen wäre. Mir scheint, das ist in der Slowakei ein völlig neues Phänomen."
Slowakische Erin Brokovich
Denn noch kurz zuvor war Zuzana Caputova in der slowakischen Öffentlichkeit relativ unbekannt gewesen. Bei der Präsidentschaftswahl hatte man ihr noch vor wenigen Wochen höchstens einen Achtungserfolg zugetraut. Als Bürgerrechtlerin und Anwältin hatte sie sich in gewissen Kreisen freilich bereits einen Namen gemacht – vor allem, weil sie vor einigen Jahren die Ansiedlung einer riesigen Mülldeponie in der Stadt Pezinok verhindert hatte. Sie sei die slowakische Erin Brokovich, sagt Michal Simecka, also vergleichbar mit der US-amerikanischen Umweltaktivistin, über die sogar ein Hollywood-Film gedreht wurde. Simecka ist Spitzenkandidat der Partei "Progressive Slowakei" für die Europa-Wahl im Mai. Die Partei, die 2017 gegründet wurde, ist noch nicht im slowakischen Parlament vertreten. Simecka ist 34 Jahre alt, Oxford-Absolvent; politische Erfahrung hat er durch Jobs in Brüssel und im tschechischen Außenministerium gesammelt. Er sieht große Chancen für seine junge Partei:
"Wir haben Präsidentschaftswahlen vor uns, dann die Europawahlen und die Parlamentswahlen in einem Jahr. Wir sind in einer Übergangszeit. Die Ära der Smer ist vorbei." Die Smer, das ist die linkspopulistische Partei des früheren Ministerpräsidenten Robert Fico, die sich selbst als sozialdemokratisch bezeichnet. Sie ist seit 2006 aus allen Wahlen in der Slowakei als stimmenstärkste Partei hervorgegangen. Und zugleich ist sie eng verbunden mit einer schier endlosen Kette von nicht aufgeklärten Skandalen.
"Das Problem in der Slowakei ist ein tiefes Misstrauen der Menschen in politische Institutionen und vor allem in die Regierungskoalition. Wir haben es zu tun mit einer - man könnte sagen - Entführung des Staates zugunsten der Interessen von Wirtschaft und Oligarchen."
Sagt Michal Simecka von der neuen Partei "Progressive Slowakei", deren Kandidatin nun also Präsidentin werden könnte. Damit hatte wenige Wochen zuvor kaum einer gerechnet. Richard Sulik etwa, Chef der größten Oppositionspartei im Parlament, prophezeite ein anderes Duo für die Stichwahl:
"Also der Kandidat der Partei Smer, Herr Sefcovic, der jetzige Vizepräsident der Kommission, und der Kandidat, den wir unterstützen, Robert Mistrik. Also Sefcovic / Mistrik ist das wahrscheinliche Paar im zweiten Wahlgang."
Caputovas Themen: Korruption, Umweltschutz, Wandel
Es kam anders. Tatsächlich zog der liberale Wissenschaftler Robert Mistrik, der zwischenzeitlich in den Umfragen den zweiten Platz belegt hatte, seine Kandidatur Ende Februar zurück. Da nämlich zeichnete sich ab, dass Zuzana Caputova an ihren Konkurrenten vorbeiziehen könnte - und es galt nun, das liberale und das pro-europäische Lager nicht weiter zu spalten. Das Präsidentenamt in der Slowakei hat weitgehend zeremonielle und repräsentative Bedeutung - ein Wahlsieg Caputovas wäre dennoch ein bedeutendes Signal: eine geschiedene Frau, die ihre beiden Töchter allein erzieht und sich für die Rechte homosexueller Paare stark macht an der Spitze des Landes - das wäre eine Sensation in der katholisch geprägten Slowakei.
Im Wahlkampf plädierte Caputova für den Kampf gegen Korruption, für mehr Umweltschutz und einen politischen Wandel. Sie befürwortet das Recht auf Abtreibung. Doch stand der Wahlkampf vor allem unter dem Eindruck der Ermordung des Enthüllungsjournalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten vor gut einem Jahr. Es war eine regelrechte Hinrichtung nach Mafia-Art. Kuciak hatte zuletzt über Verbindungen der italienischen Mafia bis in die unmittelbare Nähe der slowakischen Regierung recherchiert.
Als sich am 21. Februar der Doppelmord zum ersten Mal jährt, gehen in der Hauptstadt Bratislava und in vielen anderen Städten der Slowakei wieder Zehntausende Menschen auf die Straßen. Sie skandieren: "Genug Fico" und "In den Knast, in den Knast!" Zu den Rednern gehört Juraj Seliga, Mitbegründer der Initiative "Für eine anständige Slowakei".
"Schon die Kommunalwahlen haben gezeigt, dass wir fähig sind, die Energie von der Straße ins Wahllokal zu bringen. Und wir werden das auch bei der Präsidentschaftswahl zeigen!"
"Wenn man immer mehr Informationen hatte, was Oligarchen wie Marian Kocner eigentlich betrieben haben im Land, wie das Sicherheitsdienste korrumpiert waren, wie die mitgemacht haben an der Vorbereitung des Mordes. Dafür habe ich keine Worte."
Sagt der slowakische Schriftsteller Michal Hvorecky. Auch er nennt den Namen Marian Kocner - der in diesem Zusammenhang immer wieder fällt. Seit Juni 2018 sitzt Kocner in Untersuchungshaft, wegen des Verdachts auf Wechselbetrug. Die Staatsanwälte halten ihn auch für den Auftraggeber des Mordes an Jan Kuciak. Unmittelbar vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl präsentieren sie weitere Ermittlungsfortschritte. Sie sind nunmehr sicher, beweisen zu können, dass der Unternehmer Marian Koczner den Journalistenmord in Auftrag gegeben hat.
"Am 8. März hat der zuständige Ermittler der Nationalen Kriminalagentur die Person Marian K. offiziell beschuldigt, den Mord am Geschädigten Jan Kuciak bestellt zu haben, bei dem auch seine Partnerin Martina Kusnirova ermordet wurde."
"Es stimmt, dass diese Person gute Beziehungen zu vielen Staatsanwälten, Ermittlern und hochgestellten Polizeibeamten hatte."
Sagt Daniel Lipsic, ehemaliger Justizminister und Anwalt der Familie von Jan Kuciak.
"Und über Jahre hat er alle Arten von Wirtschaftsverbrechen begangen, Steuerhinterziehung, Untreue, und so weiter, und ihm geschah nichts. Er hatte so etwas wie eine Immunität gegen eine Anklage."
Mord an Journalist Kuciak hallt nach
Im September hat die Polizei eine Frau und drei Männer als Tatverdächtige festgenommen. Einer von ihnen hat bereits ein Geständnis abgelegt. Was außerdem herausgekommen ist: Die Täter sollen auch noch andere Personen im Visier gehabt haben, auch den Rechtsanwalt Lipsic. Die nach Kuciaks Tod veröffentlichten Enthüllungen führten zum Rücktritt von Ministerpräsident Robert Fico, auch sein umstrittener Innenminister Kalinak und der Polizeipräsident mussten gehen.
"Und ich hoffe, auch wenn da vielleicht noch viel mehr Dreck hochkommen wird, dass das am Ende heilend wirkt für die Gesellschaft."
Zumindest dürfte die Debatte über den Mord an Jan Kuciak und seiner Verlobten einen Einfluss gehabt haben auf diese Wahl. Maros Sefcovic, der parteilose EU-Kommissar, der von der linkspopulistischen Smer unterstützt wird, setzte im Wahlkampf auf seine jahrzehntelange Erfahrung als Karriere-Diplomat.
"Ich habe immer für die Slowakei gearbeitet. Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, um meine professionellen Erfahrungen auf diesem Posten zu nutzen. Ich will ein Präsident mit menschlichem Antlitz sein."
Ein Präsident für die kleinen Leute mit einem sozialen, linken Profil - so präsentierte sich Sefcovic. Zuzana Caputova, die Rechtsanwältin und Bürgerrechtlerin von der Partei "Progressive Slowakei" warb dagegen für einen grundlegenden politischen Wandel.
"Die Slowakei braucht Veränderungen in Richtung eines gerechten und fairen Landes. Dazu würde ich gern beitragen. Ich habe als Rechtsanwältin Erfahrungen gesammelt mit vielen Fällen von Kränkung und Ungerechtigkeiten in der gesamten Slowakei."
Pro-europäisch orientiert sind beide Kandidaten der Stichwahl. Im Gegensatz zu einem Kandidaten, der in der ersten Runde ausgeschieden ist: Stefan Harabin, höchst umstrittener Richter am Obersten Gericht, für viele ein Relikt aus der Zeit des autoritären Präsidenten Meciar, rechtspopulistisch und Putin-Freund:
"Es ist notwendig, die Staatlichkeit der Slowakischen Republik zu retten, denn die europäische Integration bedeutet den Untergang der Staatlichkeit. Es ist notwendig, die christliche Familie zu retten. Denn die islamische Migration will unsere christliche Familie ersetzen."
"Wenn er bereit und fähig sein wird, extreme rechte und konspirative Stimmen zu einigen, dann wäre tatsächlich schon die Präsidentschaftswahl eine entscheidende Wahl über die Zukunftsorientierung der Slowakei."
Kampf um Stimmen vom rechten Rand
Tatsächlich errang der Rechtspopulist Stefan Harabin in der ersten Wahlrunde den dritten Platz - mit etwas mehr als 14 Prozent der Stimmen. Dahinter lag der Rechtsextremist Marian Kotleba mit gut zehn Prozent. Etwa jeder vierte Wähler hat sein Kreuz also rechts außen gemacht. Das ist vielleicht das wahre Drama dieser Wahl. Denn für die beiden verbliebenen Kandidaten Caputova und Sefcovic stellt sich nun die Frage, wie sie die Wähler dieser rechten Kandidaten erreichen und integrieren können.
"Ich lese es so, dass die Menschen vielleicht unzufrieden und frustriert sind. Das ist vielleicht der Grund, warum sie sich in eine solche Wahl geflüchtet haben."
"In erster Linie würde ich im Gegensatz zu Frau Caputova die Wähler dieser zwei Herren nie als böse oder als nicht anständig bezeichnen. Wir müssen ihnen einfach eine bessere Alternative anbieten, bessere Werte, die sie zu uns ziehen werden, zu demokratischen Politikern."
Um konservative Wähler anzusprechen, sucht Sefcovic nun die Nähe zur Kirche.
"Einen wichtigen Akzent werde ich auf traditionelle christliche Werte legen. Für einen Großteil der Menschen in der Slowakei ist dies sehr wichtig. Ich selbst halte es wirklich für einen Zivilisationsanker unseres Volkes, unseres Landes."
Gegenkandidat Sefkovic mit Glaubwürdigkeitsproblem
Ein Karriere-Diplomat, der als junger Mann noch die kommunistische Kaderschmiede in Moskau durchlaufen hat und jetzt die christlichen Werte betont - viele Menschen in der Slowakei wollen ihm das nicht recht abnehmen. Zumal die Regierungspartei Smer, die ihn unterstützt, als traditionell kirchenkritisch gilt. Glaubwürdigkeit büßte Sefcovic auch bei so manchem Auftritt ein, etwa in dieser Fernsehdiskussion:
(Moderator) "Eine einfache Frage für jeden guten Christen. Zählen Sie doch mal die Sie die 10 Gebote auf.
(Sefcovic) "Also, selbstverständlich in erster Linie: Du sollst nicht töten, Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst den Namen Gottes ehren, Du sollst keine Todsünden begehen, Du sollst Vater und Mutter ehren … vielleicht habe ich auch noch was vergessen."
(Moderator) "Also vier oder fünf. Mehr nicht?"
Auch Marian Lesko, politischer Kommentator in Bratislava, hat Zweifel an Sefcovics Betonung christlicher Werte.
"Einen derartigen Salto hat einst schon Robert Fico erfolglos versucht. Wer im letzten Moment im Wahlkampf plötzlich aufwacht und sagt, er wurde ja schon immer zum Glauben erzogen und hatte schon immer eine Beziehung zur Kirche - der wirkt einfach nicht glaubhaft."
Sefcovic hat vor der Stichwahl gleich mehrere Nachteile. Zunächst muss er seinen Stimmenanteil verdoppeln, um überhaupt zu seiner Konkurrentin Caputova aufzuschließen. Dass er für die linkspopulistische Smer kandidiert, die auch von rechten Protestwählern für mafiöse Strukturen und Korruption im Land verantwortlich gemacht wird, ist ein weiteres Manko. Obwohl die Smer-Regierungsjahre wie eine Hypothek auf ihm lasten, spricht er von einer insgesamt erfolgreichen Politik, die es fortzuführen gelte.
"Malen wir aus der Slowakei kein Bild eines verbrannten Landes. Wir sind ein erfolgreiches Land, dem es gut geht."
"Ich rede von der Slowakei nie wie von verbrannter Erde. Ich sage immer, dass wir ein Land sind, das auch positive Seiten hat. Wir haben ein gewaltiges Potential vor allem in den Menschen, die hier leben. Wenn ich von Bösem spreche, dann meine ich Erscheinungen, die wir bekämpfen müssen: Korruption, fehlende strafrechtliche Konsequenzen, Amtsmissbrauch und ähnliches."
Mit dieser Haltung hat die sozial-liberale Kandidatin und Favoritin für die Stichwahl Zuzana Caputova in der ersten Wahlrunde 71 von 79 Wahlkreisen errungen. Sie hat bei den Frauen gewonnen, bei den Jungen, bei den Städtern, aber auch in den katholischen Milieus hat sie recht gut abgeschnitten. Sefcovic hingegen konnte nicht einmal alle Smer-Wähler geschlossen hinter sich bringen. Der Soziologe Martin Slosiarik mit einem Erklärungsversuch:
"Ich denke, der Rückzug des liberalen Kandidaten Mistrik hat eine wesentliche Rolle gespielt. Es ist zu einer drastischen Verschiebung der Wähler von Mistrik zu Caputova gekommen. Zudem konnte Caputova auf dieser Welle auch noch so einige konservative Wähler anderer Kandidaten mitreißen."
Caputova könnte deshalb im zweiten Wahlgang selbst bei den rechten Protestwählern besser abschneiden als ihr Gegen-Kandidat Maros Sefcovic. Zumal er vielen als Verkörperung der vor allem im rechten Milieu verhassten Europäischen Union gilt. Darauf verweist der Politik-Kommentator Marian Lesko.
"Ich kann mir nicht vorstellen, wie Maros Sefcovic die Wähler der rechten Kandidaten Kotleba und Harabin ansprechen will. Denn er ist Vize-Chef der EU-Kommission, er arbeitet seit 10 Jahren in den Strukturen von Brüssel. Ich weiß nicht, womit er diese anti-europäisch und anti-transatlantisch ausgerichteten Menschen überzeugen könnte."
Umfragen sehen Caputova vorne
Derzeit scheint alles auf Zuzana Caputova zuzulaufen. Beobachter halten ihre Strategie, Missstände zu kritisieren, ohne politische Gegner persönlich zu attackieren, für erfolgreich. Der Politologe Miroslav Radek:
"Warum nicht Sefcovic, sondern Caputova auch in den traditionellen Hochburgen der Smer erfolgreich war, liegt an folgendem: Sie hat im Wahlkampf nichts gemacht, mit dem sie Smer-Anhänger gegen sich aufbringen konnte. Im Gegenteil, sie hat es geschafft, auch diese anzusprechen."
Die Quereinsteigerin Zuzana Caputova ist inzwischen zum Gesicht eines möglichen Wandels geworden, den die demokratische Opposition innerhalb und außerhalb des Parlaments seit dem Mord an Jan Kuciak und seiner Verlobten fordert. Viele Wähler hoffen, dass Caputova für eine bessere Slowakei stehen könnte – ohne Korruption und Vetternwirtschaft, ein Land mit mehr Gerechtigkeit und Anstand. Caputovas Gegenkandidat Maros Sefcovic steht dagegen eher für Kontinuität. Er gibt sich dennoch siegesgewiss, auch wenn er weiß, dass er in den Umfragen derzeit hinten liegt.
"Ins Finale zu kommen ist manchmal schwieriger als das Final-Duell selbst. Ich hoffe, das wird auch diesmal der Fall sein. Schon allein deshalb, weil diese Wahlen bestätigt haben, dass 60 Prozent der Menschen in der Slowakei meine Weltanschauung teilen."
Letzte Umfragen allerdings sehen Zuzana Caputova mit 60 Prozent der Stimmen vorn.
In der Nacht von Samstag auf Sonntag wird feststehen, ob das wahrgeworden ist, was noch Anfang Februar unvorstellbar erschien: Dass in der Slowakei zum ersten Mal eine Frau Präsidentin wird.