Wichtig sei auch, dass die Polarisierung nach dem heftigen Wahlkampf nicht über den Tag der Stimmabgabe hinausgehe, sagte Paul im Deutschlandfunk. Nach bisherigen Prognosen werde wohl der ehemalige Regierungschef Béji Caid Essebsi die Wahl gewinnen. Jedoch habe auch der Übergangspräsident Moncef Marzouki, der sich als Hüter der tunesischen Revolution präsentierte, ein "erstaunlich hohes Ergebnis" erzielt. Neben den Anhängern seiner Partei habe Marzouki auch die Menschen mobilisieren können, die im inneren des Landes leben und in der politischen Elite, in der Wirtschaft nicht so stark repräsentiert seien. Auch Anhänger der islamischen Nahda-Partei habe Marzouki für sich gewonnen.
Allein die Wahlbeteiligung steht fest: Trotz der historischen Dimension der Wahl, die erste seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956, habe nur jeder Zweite seine Stimme abgegeben - dennoch "ein sehr gutes Ergebnis", sagte Paul.
Ob Essebsi oder Marzouki: Wer das Präsidentenamt übernehme, stehe vor großen Herausforderungen, sagte der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunesien. Der künftige Präsident müsse die in der Verfassung verankerte Dezentralisierung des Landes auf den Weg bringen. Außerdem erwarteten die Bürger eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Es bestehe jedoch auch die Gefahr, dass die Errungenschaften der Revolution, die Demokratisierung wieder zurückgedreht werden.
Das Interview mit Joachim Paul in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: Telefonisch sind wir jetzt verbunden mit Joachim Paul, er ist Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunesien. Schönen guten Tag nach Tunis!
Joachim Paul: Ja, guten Morgen!
Heckmann: Guten Morgen, Herr Paul. Sie haben auch Wahlbeobachter vor Ort, arbeiten mit Wahlbeobachtern zusammen. Was berichten die? Wie ist die Wahl verlaufen? Es gab ja im Vorfeld Terrordrohungen.
Paul: Ja, wir arbeiten mit Wahlbeobachtungsgruppen aus der Zivilgesellschaft zusammen, und gestern Abend war ganz klar das Ergebnis, dass die Wahl gut verlaufen ist, dass 98 bis 99 Prozent der Wahlbüros normal funktioniert haben, und dass es offensichtlich bis auf einen wahrscheinlich kleineren Zwischenfall sonst keine sicherheitsrelevanten Probleme gegeben hat.
Heckmann: Beji Essebsi, der hat sich ja bereits zum Sieger erklärt, der Menschenrechtler und Übergangspräsident Marzouki, der widerspricht. Wer hat denn aus Ihrer Sicht die Nase vorn? Gibt es da mittlerweile einen festeren Trend?
Paul: Den gibt es noch nicht. Die Ergebnisse, die vorläufigen Wahlergebnisse von der unabhängigen Wahlkommission sollen erst heute, wahrscheinlich heute Abend, verkündet werden. Es scheint aber klar zu sein, dass Beji Caid Essebsi vorne liegt. Ob es nun 55 Prozent oder 52 Prozent oder was auch immer sein werden, kann man jetzt noch nicht sagen. Ich denke aber, das Entscheidende ist auch, dass keiner – jedenfalls bis jetzt – keiner der beiden Kandidaten das Ergebnis anzweifelt und dass die Polarisierung, von der vorhin ja in Ihrem Beitrag gesprochen wurde, nicht über die Wahl hinausgeht. Vielleicht noch eine kurze Bemerkung zu der Wahlbeteiligung. Es sind 60 Prozent der registrierten Wähler, und dabei muss man sagen, dass nur 73 Prozent der Wahlbeteiligten registriert sind. Das heißt, die Wahlbeteiligung liegt so unter 50 Prozent, was aber angesichts der Stichwahl, dass selbst der dritte Wahlgang, also die Stichwahl zu der Präsidentschaftswahl und die Parlamentswahl davor, eigentlich ein sehr gutes Ergebnis ist.
"Erstaunlich hohes Ergebnis für Marzouki"
Heckmann: Marzouki, der ehemalige Menschenrechtsaktivist und jetzige Übergangspräsident, der saß ja unter Ben Ali, dem damaligen Langzeitdiktator, mehrmals im Gefängnis. Weshalb ist es ihm nicht gelungen, mehr Tunesier für sich zu gewinnen?
Paul: Ich würde erst mal sagen, dass es schon ein erstaunlich hohes Ergebnis ist für Marzouki, denn Marzouki ist ja der Leiter einer Partei, des Kongresses für die Republik. Diese Partei hat in den Wahlen, in den Parlamentswahlen um die vier Prozent bekommen. Und dass es Marzouki jetzt geschafft hat, um die 45 Prozent, wie viel es immer sein werden, zu mobilisieren, ist ein hohes Ergebnis. Und das lässt sich wahrscheinlich dadurch erklären, dass er nicht nur die Anhänger seiner Partei mobilisiert hat, sondern in Tunesien hauptsächlich die Menschen, die im Inneren des Landes leben, die nicht so stark repräsentiert sind in der politischen Elite, in der Wirtschaft, die stark eine Entwicklung einfordern, die nicht nur in den großen Küstenstädten, die reich sind, stattfindet. Und diese Menschen hat er geschafft, zu mobilisieren offensichtlich. Ebenso die Anhänger der islamistischen Ennahda-Partei. Ennahda hatte ja keinen Präsidentschaftskandidaten in das Rennen geschickt. Und ich würde sagen, das sind die wesentlichen Punkte, die es erklären, dass das Ergebnis relativ hoch ist.
Heckmann: Und doch haben sich offenbar die meisten Tunesier für Essebsi entschieden. Der war lange Minister unter dem autoritären Staatsgründer Habib Bourguiba, und er stützt sich auch auf Träger des alten Regimes. Was ist von ihm zu erwarten, wenn er denn wirklich als Sieger hervorgeht aus der Wahl?
Paul: Einmal denke ich, ist das ein wichtiger Punkt. Also Essebsi selbst hatte ja eine Rolle in dem alten Regime, nicht unter Ben Ali, sondern unter Bourguiba, das war die Zeit in den 60er- und 70er-Jahren. Aber in seiner Partei, Nidaa Tounes, sind viele Vertreter der Partei Ben Alis wiederzufinden, und auch viele Repräsentanten der Verwaltung des alten Regimes. Von daher ist eher zu erwarten eine Art von Stabilität. Was es in der Zeit des Übergangs seit Januar 2011 überhaupt nicht in Tunesien gegeben hat, ist eine Reform des Sicherheitssektors. Das war ja die Stütze, das Unterdrückungsinstrument des Ben-Ali-Regimes, Geheimpolizei und Geheimdienst. Das ist bisher überhaupt nicht reformiert worden. Auch eine Kommission, die sich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit auseinandersetzt, ist zwar jetzt gegründet worden, hat aber noch nicht wirklich ihre Arbeit begonnen, und es wird wahrscheinlich auch unter dieser Regierung sehr schwer werden.
"Dezentralisierung bleibt große Herausforderung"
Heckmann: Essebsi hatte keine Rolle unter Ben Ali, das ist richtig. Aber er stützt sich, wie ich erwähnte, auf Träger des alten Regimes. Sie haben es auch gerade noch mal deutlich gemacht. Sie sagen es ist Stabilität zu erwarten. Besteht denn die Gefahr, dass die Errungenschaften der Revolution möglicherweise auch wieder ein Stück weit zumindest zurückgedreht werden könnten?
Paul: Das befürchten viele. Das ist das auch, was Marzouki in seiner Kampagne hauptsächlich in den Vordergrund gestellt hat. Was für die meisten Tunesier jetzt im Vordergrund steht, ist wirtschaftliche Entwicklung und eine Verbesserung ihrer sozialen Lage. Und das sind enorme Herausforderungen. Das Land ist extrem zentralisiert, sämtliche Entscheidungen werden in der Hauptstadt, in Tunis, getroffen, und das ist etwas, was auch die Verfassung vorsieht, eine Dezentralisierung des Landes. Das ist eine große Herausforderung, und das muss man sehen, ob diese Regierung das leisten kann.
Heckmann: Und wie groß schätzen Sie selbst die Gefahr ein, dass Errungenschaften der Revolution möglicherweise, der Demokratisierung wieder zurückgedreht werden?
Paul: Die Gefahr besteht, und wahrscheinlich die große Mehrheit der Tunesier würden sagen, dass die besonderen Errungenschaften jetzt die Meinungsfreiheit sind, die Versammlungsfreiheit, dass die Menschen nicht mehr für ihre politische Meinung in die Gefängnisse wandern müssen, wie das vorher unter Ben Ali der Fall war. Ich denke, das wird sehr schwer zurückzudrängen sein. Die große Mehrheit wird das verteidigen. Eine andere Frage ist, wie weit der Staat wieder auf die alten Verwaltungsprinzipien zurückgreift und auch das Sicherheitssystem, das besonders angesichts einer Lage in der gesamten Region, die ja, wenn man sich Libyen anguckt und die anderen Länder, nicht gerade geprägt ist von Stabilität.
Heckmann: Das ist eine spannende Entwicklung, die wir weiter verfolgen werden. Joachim Paul war das, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunesien. Herr Paul, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.